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Nationalismus ist eine der zentralen Kräfte in der modernen Geschichte und bis heute eine scheinbar unentrinnbare Geißel der Politik. Nationale Bewegungen begründeten die Entstehung vieler Staaten und sind gleichzeitig Ursprung vieler der tragischsten Menschheitskonflikte. In diesem Politischen Essay geht Ernest Gellner dem Phänomen Nationalismus und seinen verhängnisvollen Auswirkungen auf den Grund.

Produktbeschreibung
Nationalismus ist eine der zentralen Kräfte in der modernen Geschichte und bis heute eine scheinbar unentrinnbare Geißel der Politik. Nationale Bewegungen begründeten die Entstehung vieler Staaten und sind gleichzeitig Ursprung vieler der tragischsten Menschheitskonflikte. In diesem Politischen Essay geht Ernest Gellner dem Phänomen Nationalismus und seinen verhängnisvollen Auswirkungen auf den Grund.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Kulturen vom Band
Der Nationalismus nach Ernest Gellner / Von Wolfgang Sofsky

Es gibt Gespenster, die wollen nicht verschwinden. Während manche Zeitgenossen noch der Illusion nachhängen, die globale Vernetzung habe den Nationalismus besiegt, ist das Ungeheuer längst zu neuem Leben erwacht. Nach wie vor werden unter dem Banner der Volkseinheit Attentate verübt, Kriege geführt, Landstriche "ethnisch gesäubert". In gemäßigteren Zonen sorgt man sich um die "Reinheit" der jeweiligen Landessprache oder fordert den Zuwanderern Treueschwüre ab. Die Doktrin ist stets dieselbe: Vollwertiges Mitglied einer Gesellschaft darf nur sein, wer auch ihrer Kultur angehört, wer dieselbe Sprache spricht, eine Gedankenwelt teilt, denselben Lebensstil pflegt. Mehr noch: Alle Angehörigen derselben Sprachgruppe sollen, wo immer sie wohnen, in einem Staatsverband vereint sein. Die nationale Kultur legitimiert den Staat, die Staatsmacht hat die Fremdlinge zu entlarven und auszuweisen. Eine Kultur, ein Staat, eine Nation - das ist die Parole des Nationalismus von jeher.

Ernest Gellner, Kosmopolit und Universalgelehrter, hat den Traum von der Weltgesellschaft nie geteilt. Das vorliegende opus postumum zieht eine Summe seiner langjährigen Beschäftigung mit der Wirkungskraft nationalen Imaginationen und Bewegungen. Nationalismus ist, so Gellner, weder Hirngespinst aufgeregter Literaten oder atavistischer Rückfall noch "Wiedererweckung" uralter Gemeinschaftsgefühle. Mit der Geschichte der politischen Mythen und Ideen hat Gellner ebensowenig im Sinn wie mit den Hoffnungen des liberalen oder marxistischen Internationalismus. Der Kult des Nationalen hat materielle Ursachen und ist verwurzelt in den Gefühlenn: Viele Leute fühlen sich ihrem Land verbunden; ihre Loyalität ist manchmal selbstlos bis zum Heroismus. Sie töten nicht nur für ihr Vaterland, sie sind auch bereit, ihm das eigene Leben zu opfern.

Dennoch ist der Nationalismus alles andere als historisch universal. Zwar kennen auch Agrargesellschaften eine Art vom ethnischem Chauvinismus, doch für Gellner ist der Nationalismus ein genuines Kind der Moderne. Der Industrialismus fordert eine allseits verbindliche Hochkultur und löst nationalistische Bewegungen aus. Bürokratie, Kommunikation, Spezialistentum und berufliche Mobilität können sich nur entwickeln auf der Grundlage einer homogenen Vorstellungswelt. Erst der Zwang zur kulturellen Einheit läßt die Idee Anhänger finden, die Grenzen der Kultur müßten mit den Grenzen des Staatsgebietes übereinstimmen. In der nationalen Religion betet die Gesellschaft mithin die Gemeinsamkeit an, zu der sie ohnehin verdammt ist.

Theorien größerer Reichweite haben den Vorzug, sich nicht im Labyrinth historischer Sonderwege zu verirren. Gellners Theorie des Menschengeschlechts sieht gerade einmal drei Epochen vor: die Zeit der Horden und Stämme, der Sammler und Jäger; die Agrargesellschaften mit stabilen Ranghierarchien, die vielerlei Völkerschaften umfaßten; und die nationalstaatlich verfaßten Industriegesellschaften. Von den modischen Diagnosen postmoderner Transformation macht Gellner erst gar kein Aufhebens.

Natürlich kennt der Autor die historischen Varianten des Nationalismus zu genau, um es bei einem einzigen Entwicklungspfad bewenden zu lassen. Die Ausgangskonstellationen wechseln vielmehr mit den geographischen Zonen. In den dynastisch beherrschten Monarchien Westeuropas mußten, so Gellner, die dominanten Sprachkulturen kaum um Anerkennung kämpfen. In England, Frankreich oder Spanien wußte die Bevölkerung im großen und ganzen, wohin sie gehörte, und welcher Staat mit ihrem Schutz betraut war. Für die Ehe von Staat und Kultur standen am Ende des Ancien régime Braut und Bräutigam schon vor dem Traualtar. Nicht so in der europäischen Mittelzone: Italien und Deutschland hatten zwar eine einheitliche Schriftkultur, aber keinen staatlichen Beschützer. In Osteuropa hingegen waren weder Braut noch Bräutigam verfügbar. Nationalstaat und Nationalkulturen mußten erst geschaffen werden, mittels Kriegsgewalt und ethnischer Verfolgung. Im Vielvölkerreich des Sowjetregimes hielt die kommunistische Ideologie den Nationalismus so lange in Schach, bis das System zusammenbrach. Und in der islamischen Zivilisation, die sich ebenfalls zu einer anonymen Massengesellschaft entwickelt hat, sichert nicht der Nationalismus die kulturelle Einheit, sondern die Religion. Der islamische Fundamentalismus ist, wie immer man ihn sonst bewerten mag, ein Bollwerk gegen die Versuchungen des Nationalismus.

So triftig diese Typologie zunächst erscheint, die historischen Einzelfälle wollen nicht recht in das Schema passen. Die erste "nationale" Erhebung der Griechen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, welche die romantischen Intellektuellen im Westen so in Begeisterung versetzte, hatte mit dem Vormarsch des Industrialismus nicht das geringste zu tun. Athen war nicht Manchester. Gellner wertet diesen Aufstand daher zu einem rückwärtsgewandten Versuch ab, das Osmanische Reich durch ein altes Byzanz zu ersetzen. Aber auch die Konflikte auf dem Balkan hatten mehr mit religiösen Gegensätzen, schwachen Zentralgewalten und Sezessionsbewegungen zu tun als mit dem Anbruch des Industriezeitalters. Die nationalistische Eskalation in den verspäteten Nationen, in Deutschland und Italien, führt Gellner zuletzt auf eine unheilige Allianz von romantischem Gemeinschaftskult und Darwinismus zurück. Dieser Rückgriff auf die Ideologie fällt freilich hinter seine eigenen materialistischen Annahmen zurück. Und wie verhält es sich in den angeblich so moderaten Regionen Westeuropas? Von den Zeiten nationalistischer Kriegsbegeisterung in Paris oder London spricht Gellner ebensowenig wie vom spanischen Faschismus oder von separatistischen Bewegungen der Gegenwart.

Immerhin bietet die Studie eine präzise, mitunter lakonische Demontage nationalistischer Ursprungsmythen. Gellners Skepsis gegenüber wohlmeinenden Utopien der Weltgesellschaft ist nur zu berechtigt. Seine Hoffnung auf eine "Entterritorialisierung" des Nationalismus und auf die Entkoppelung von Macht und Kultur liest man mit Sympathie. Doch das kausale Erklärungsmodell vermag nicht zu überzeugen. Denn es liegt in der Natur aller Imaginationen, daß sie zuletzt gar keine Ursachen haben. Die Gespenster tauchen auf, wenn ihre Stunde gekommen ist. Und sie verschwinden erst, wenn sie ins Beinhaus der Geschichte verbannt worden sind.

Ernest Gellner: "Nationalismus". Kultur und Macht. Aus dem Englischen von Markus P. Schupfner. Siedler Verlag, Berlin 1999. 192 S., geb., 34,90 DM.

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