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Wer kennt noch Rabindranath Tagore, Nobelpreisträger und Indiens vielleicht berühmtester Dichter im zwanzigsten Jahrhundert? Wer weiß, dass dieser auf dem ganzen Globus gefeierte Dichter, einer der schärfsten und wortgewaltigsten Kritiker nicht nur der britischen Kolonial-Besatzer seines Landes war? In den drei Kapiteln dieses 1917 veröffentlichtenBuchs lässt Tagore nicht ein gutes Haar an den Lügen und falschen Versprechungen, mit denen sich westlichePolitik bis heute - in der Verkleidung materieller Segnungen - als alternativloses Modell für den Erdball feiert. Pankaj Mishra, Tagores…mehr

Produktbeschreibung
Wer kennt noch Rabindranath Tagore, Nobelpreisträger und Indiens vielleicht berühmtester Dichter im zwanzigsten Jahrhundert? Wer weiß, dass dieser auf dem ganzen Globus gefeierte Dichter, einer der schärfsten und wortgewaltigsten Kritiker nicht nur der britischen Kolonial-Besatzer seines Landes war? In den drei Kapiteln dieses 1917 veröffentlichtenBuchs lässt Tagore nicht ein gutes Haar an den Lügen und falschen Versprechungen, mit denen sich westlichePolitik bis heute - in der Verkleidung materieller Segnungen - als alternativloses Modell für den Erdball feiert. Pankaj Mishra, Tagores Landsmann und einer der wichtigsten Kritiker des neoliberalen Imperialismus, beschreibt in seiner Einleitung, warum Tagores Philippika nichts von ihrer Aktualität und Berechtigung eingebüßt hat.
Autorenporträt
Rabindranath Tagore, geboren 1861 in Kalkutta (Indien), wo er 1941 auch starb. Tagore, der vor allem für seinen Gedichtband 'Gitanjali' 1913 als erster Nicht-Europäer den Literaturnobelpreis erhielt, gilt als wichtigster Revolutionär der bengalischen Literatur und Kultur.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Heute wird gern der aggressive Nationalismus von einem defensiv-harmlosen Patriotismus unterschieden, aber bei Rabindranath Tagore kann Rezensent Gustav Seibt noch einmal nachlesen, wie gewaltvoll sich in der Zeit des europäischen Nationalismus die Umformung der Welt vollzog. Der indische Literaturnobelpreisträger Tagore verfolgte in seinem Essay von außen die Bildung der Nationalstaaten als politische-soziale Organisationsform, in der sich Selbstbehauptung und Profitmaximierung verbanden. Seibt spürt in dieser Schrift den welthistorischen Schock, den diese Machtapparate von "ungekannter Gewaltsamkeit und Effizienz" für den Rest der Welt bedeutet haben müssen. Auch dass damit eine "dramatische Vermännlichung der Gesellschaft" verbunden war, kann Tagore dem Rezensenten zeigen, der schließlich auch noch die elegante Übersetzung und schöne Gestaltung des Bandes lobt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2020

Ein neues Übel aus dem Westen
Sichtung nach hundert Jahren: Ein Band mit Rabindranath Tagores Vorträgen über Nationalismus

Rabindranath Tagore (1861 bis 1941), "Indiens Nationaldichter", wie ihn sein Übersetzer und Biograph Martin Kämpchen vor zwei Jahren in dieser Zeitung genannt hat, war Poet, Dramatiker, Autor von Romanen und Kurzgeschichten, Essayist, Maler und Komponist populärer Lieder, dazu Philanthrop, Erzieher, Schul- und Universitätsgründer - ein Mann von überwältigender Vielseitigkeit. Durch den Literaturnobelpreis, den er 1913 als erster Asiate bekam, wurde er zu einer globalen Berühmtheit und Kultfigur, an Ausstrahlung beinahe seinem Freund und Antipoden Mohandas Karamchand Gandhi vergleichbar, dessen ehrende Bezeichnung als "Mahatma" ("Große Seele") auf Tagore zurückgeht. In allen Erdteilen wurde Tagore gelesen und bewundert. Seine Reisen führten ihn nach Großbritannien, quer durch den europäischen Kontinent, nach Argentinien, Japan, China, Südostasien, nach Iran und in den Irak und fünfmal in die Vereinigten Staaten.

Im Mai 1916 fährt Tagore über Japan dorthin und kehrt auf demselben Weg Anfang 1917 nach Indien zurück. Sein Agent hätte ein unverfänglich schöngeistiges Vortragsprogramm bevorzugt. Doch Tagore, bei aller Kunst der situativen Selbstdarstellung ein wahrheitsliebender Denker mit einer Botschaft, will über "Nationalismus" sprechen. Seine drei Vorträge erscheinen 1917 bei Macmillan in London und New York, bereits ein Jahr später in deutscher Übertragung. Jetzt hat Joachim Kalka sie neu übersetzt.

Tagore hat feine Antennen für politische und kulturelle Verschiebungen und Umschwünge. 1916 kämpfen die Militärapparate der Kolonialmächte auf europäischen Schauplätzen; in den Vereinigten Staaten beginnt die Debatte um einen möglichen Eintritt in den Krieg; Japan hat 1915 ein Protektorat über China erzwingen wollen und ist nur vorerst gescheitert; Indien wurde von seinen britischen Herren in den Krieg gezogen und erwartet nun politische Zugeständnisse.

In dieser Lage wählt Tagore eine mittlere Argumentationshöhe zwischen Gegenwartsdiagnose und überzeitlichen Weisheiten, wie sie das westliche Publikum von einer Prophetenfigur mit wallendem Bart und orientalischen Roben erwartet. Seine Botschaft ist im Grunde einfach: Nationalismus ist ein relativ neuartiges Übel, das aus dem Westen kommt. Es äußert sich in der Umorganisation von Staaten zu National-Staaten, die als aggressive Apparate und Machtmaschinen zwangsläufig übereinander herfallen müssen. Der Nationalismus wird Europa ruinieren. Asien muss sich hüten, diese "Abstraktion des Egoismus" von den Europäern zu übernehmen, auch wenn Japan in seinem Überlegenheitsrausch gerade dabei ist, ebendies zu tun.

Amerika allerdings ist noch unverbraucht und nicht infiziert und hat den moralischen Bankrott Europas vermieden; es ist "dazu bestimmt, die westliche Zivilisation vor dem Osten zu rechtfertigen". Präsident Woodrow Wilson hätte dem zustimmen können, wäre allerdings mit der pazifistischen Fluchtlinie von Tagores Überlegungen nicht einverstanden gewesen. Tagores Komplimente an die Vereinigten Staaten enden dort, wo er den Wahn des weißen Amerikas anprangert, seine "Überlegenheit anderen Rassen gegenüber sicherzustellen".

Eine lehrbuchreife und durchsystematisierte "Nationalismustheorie" wird man von Rabindranath Tagore nicht erwarten können. Derlei gab es damals noch nicht. Auch bedient er keine allzu offensichtlichen Erwartungen. Er mutet seinem amerikanischen und japanischen Publikum keine breitflächige Demontage des britischen Kolonialismus in Indien zu; andere indische Autoren taten dies gleichzeitig mit erheblichem Erfolg. Wenn er die spirituellen Ressourcen des Ostens dem Materialismus des Westens gegenüberstellt, polt er die Hierarchie der Zivilisationen nicht einfach um. Von einer generellen Überlegenheit des Ostens ist nicht die Rede, auch wenn Tagore die sozial-religiöse Ordnung Indiens dem machtstaatlichen Primat des Politischen vorzieht, den er als Kern des westlichen Zivilisationsmodells ausmacht. Die Kultur des Westens, die Tagore vorzüglich kennt, wird nicht pauschal verworfen. "Ich spreche nur dann bitter von der westlichen Zivilisation, wenn mir bewusst wird, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen verrät und ihren eigenen Zweck sabotiert."

Ein antikolonialer Nationalismus begann sich in Indien und anderen Teilen Asiens im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts gerade erst herauszubilden. Tagore bringt keineswegs einen defensiven und legitimen Nationalismus der unterdrückten Kolonialvölker gegen den offensiven und illegitimen Nationalismus der imperialen Mächte in Stellung. Später hat er bei aller Anerkennung von Gandhis politischer Führung im indischen Unabhängigkeitskampf dem Mahatma in taktischen Fragen häufig widersprochen und dessen antimodernistische Anwandlungen kritisiert. Zum Beispiel sah Tagore die Industrialisierung Indiens mit mehr Zuversicht als Gandhi. Für indische Nationalisten ist er bis heute ein unsicherer Kantonist geblieben. Schon Ende 1916 schmiedeten indische Revolutionäre in Kalifornien ein Mordkomplott gegen ihn. Heutige Hindu-Nationalisten können sich auf diesen großherzigen Verfechter des Religionsfriedens nicht berufen.

Die spätere Entwicklung Japans vom Vorkämpfer asiatischer Selbstbefreiung zur repressiven Imperialmacht hat Tagore als einer der Ersten vorausgeahnt und seine japanischen Hörer davor gewarnt, neben den guten auch die schlechten Eigenarten des Westens zu übernehmen. Konkurrenz, so mahnt er, sei in der Staatenwelt stets verderblicher als Kooperation. Freiheit sei ein hohes Gut, doch nicht jeder, der sich politisch frei fühle, sei dies auch in einem moralischen Sinne. Dazu müssten die "Leidenschaften", allen voran Macht- und Profitgier, gezügelt werden.

Manches bei Tagore klingt nach Bußpredigt und daher neuerdings wieder vertraut. "Jedes Individuum ist heute aufgerufen, sich und seine Umgebung auf eine neue Ära vorzubereiten, in welcher der Mensch seine Seele in der geistigen Einheit aller Menschen finden wird." Das lässt sich mehr als ein Jahrhundert später leicht in die Sprache globaler Verantwortungsethik übersetzen. An anderen Stellen zeigt sich der Idealist als kühler Analytiker. Nationen, wie heute üblich, als "imagined communities" zu verstehen ist nicht bedeutend tiefschürfender als Tagores Einsicht in der Mitte des Ersten Weltkriegs, dass sie Konformität produzierende Menschenmanufakturen sind. Tagore sieht die psychologischen Hinter- und Abgründe der Idee der Nation. "Unter ihrem bedeutenden Einfluss kann das ganze Volk einem systematischen Programm des aggressivsten Egoismus folgen, ohne sich im mindesten der moralischen Perversion dieses Vorgangs bewusst zu sein."

Die Zukunft sollte Tagores Sorgen bestätigen. Am 7. Mai 1941, seinem achtzigsten Geburtstag, zog der Weise Bilanz. Er wandte sich ab von Europa und den Briten (nicht aber von seinen englischen Freunden), sah den Triumph des "Dämons der Barbarei" und erwartete dennoch eine Erneuerung der Humanität jenseits des Machtdenkens, vielleicht aus dem Osten kommend. Drei Monate später ist er gestorben.

JÜRGEN OSTERHAMMEL

Rabindranath Tagore:

"Nationalismus".

Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Mit einem Vorwort von Pankaj Mishra. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 120 S., geb., 22,- [Euro].

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