Die Umsetzung nationalsozialistischer Agrarpolitik vor Ort ist bisher - trotz ihrer herausragenden Bedeutung innerhalb des NS-Staates - von der Forschung wenig beachtet worden. Am Beispiel einer Kreisbauernschaft (in Niedersachsen), d.h. einer mittleren Ebene des Reichsnährstandes, werden die Aufgaben und das Wirken dieser Institution im Rahmen der konkreten Umsetzung der NS-Agrarpolitik vor Ort und die Reaktion der Bauern sowie die Rolle der Bäuerinnen untersucht. Unveränderter Nachdruck
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2001Die "Grüne Revolution" frißt ihre Rinder
Ein Bauer, der kein Geld mehr hat, der brächte gern sein Kalb zur Stadt: Die deutsche Landwirtschaftspolitik als Vorgeschichte der BSE-Krise
Die europäische Landwirtschaft steht vor einem Scherbenhaufen: BSE brachte es nur an den Tag. So jedenfalls beurteilen Kritiker des modernen Agrarund Ernährungssystems die Folgen der Rinderseuche. Die "Grüne Revolution" des zwanzigsten Jahrhunderts scheint an ihr Ende gekommen zu sein, zum Leidwesen der bäuerlichen Traditionalisten, Verbandsfunktionäre und agrarindustriellen Lobbyisten, zur Freude der Fortschrittspessimisten. In der Bevölkerung ist die Ansicht verbreitet, daß die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Interessenorganisationen nicht alles für den risikolosen Verzehr von Nahrungsmitteln unternommen haben. Soviel ist sicher: BSE ist kein Betriebsunfall.
In der hitzigen Debatte um die Zukunft der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft spielt Faktenwissen zur Zeit eine Nebenrolle. Die verschreckten Verbraucher stoßen in ihrem Bemühen um sachliche Aufklärung in vielen Fällen auf eine zivilisationskritische Literatur, die hauptsächlich mit der modernen Konsumgesellschaft und ihrer Mitverantwortung für die Entstehung industrieller Agrarproduktion hart ins Gericht geht. Das derzeit wichtigste politische Thema veranlaßt Kritiker aus den verschiedensten Richtungen, sich für eine fundamentale Kehrtwendung der Agrar- und Ernährungspolitik ins Zeug zu legen. Im Konzert der Weltverbesserer fehlen die historisch orientierten Geistesund Wirtschaftswissenschaftler. Aber wenn die BSE-Krise zugleich eine sozialund wirtschaftsstrukturelle Krise ist, dann können gerade sie für sich in Anspruch nehmen, die Vorgeschichte hierfür geschrieben zu haben. Welche Informationsbasis bieten sie für eine sachliche Diskussion?
Experten prophezeiten zwar nicht die Rinderseuche, sie warnten jedoch vor den Folgen einer falschen Weichenstellung in der Agrar- und Ernährungspolitik. Dabei nahmen sie alle Glieder der Nahrungskette ("Skandalkette") ins Visier: die staatliche Agrarverwaltung in Bonn und Brüssel, die Bauernverbände, die Lebensmittel- und Agroindustrie, die Großanbieter und -verarbeiter und nicht zuletzt die Verbraucher. Sie alle wurden dafür kritisiert, daß sie den ökologischen Landbau als Alternative zur hochtechnisierten Intensivwirtschaft auf unterschiedliche Weise blockieren. Die Auseinandersetzungen sind in ihrem kulturkämpferischen Charakter eine Geschichte für sich. Über die Ereignisse von 1968 mögen wir heute noch geteilter Meinung sein, aber sie haben die Öffentlichkeit für potentielle Schwachstellen des Produktions- und Versorgungssystems sensibilisiert. Hierzu zählen Vermutungen über die Unfähigkeit der staatlichen Agrarverwaltung, die verbandspolitische Interessenkumpanei ("Agrarlobby"), die teure Eurokratie und die Übermacht Brüssels, den ungeschützten Verbraucher und die idyllische Alternative des ökologischen Landbaus. Was hat es mit diesen Vermutungen auf sich?
Die "Landwirtschaft des Jahres 2020", prophezeite der in Bonn und Brüssel offiziell tätige Insider Günther Thiede schon im Jahr 1992, "hat in der Volkswirtschaft keinen besonders herausragenden Sonderstatus mehr". Die Interessen der Landwirtschaft würden in absehbarer Zeit innerhalb der Staatsverwaltung vom Wirtschaftsministerium wahrgenommen. Er konnte aus der Sicht des Jahres 1992 nicht ahnen, daß das klassische Ressort so schnell einen tiefgreifenden Funktionswandel erleben würde, der die vollkommene Umwidmung dieser geschichtsträchtigen Hoheitsverwaltung zugunsten anderer Geschäftsbereiche (Umwelt, Verbraucher) vorwegnimmt. Die Agrarier verlieren ein wichtiges Vorwerk. "Die deutsche Agrarpolitik war stets auf die Interessen der größeren Ackerbaubetriebe ausgerichtet", kritisierte 1985 der Frankfurter Agrarökonom Hermann Priebe die Landwirtschaftsverwaltung des Bundes. Er bezeichnete sie indirekt als Agentur der Großlandwirtschaft und sah in ihr die Quelle des Agrarprotektionismus seit den Tagen des Kaiserreichs.
Die Aufgabe, eine kritische Geschichte der staatlichen Agrarverwaltung zu schreiben, stellt sich der Geschichtswissenschaft nach wie vor. Sie müßte bei Bismarcks Ablehnung beginnen, 1871 ein staatliches Agrarressort einzurichten, um nicht die partikularen Interessen in den Bundesstaaten zu verletzen; sie müßte aber auch den eigentlichen Gründungsanlaß, die akute Ernährungskrise 1919, betonen. Seither versucht die staatliche Agrarverwaltung, neben den politischen Eigeninteressen der jeweiligen Regierung zwischen den unterschiedlichen Belangen der Produzenten und Konsumenten zu vermitteln. Sie gerät durch die verschiedenartigen Verwaltungsbereiche, zu denen von alters her noch die Forstwirtschaft und seit einigen Jahren auch die Umwelt zählen, als reaktionsschwaches Krisenmanagement zwischen die Stühle. Die bevorstehende Neuprofilierung als Verbraucherministerium weist den Weg zurück zu den ministeriellen Wurzeln. Ob sich damit die Hoffnung erfüllt, das säkulare Gegensatzverhältnis von Erzeugern und Verbrauchern zu harmonisieren, bleibt abzuwarten. Die historische Erfahrung spricht dagegen, wie die Studien von Wolfram Pyta und Daniela Münkel für die ausgehende Weimarer Republik und das "Dritte Reich" sowie von Ludwig Gekle für die Bundesrepublik herausstellten.
In der Diskussion wird immer wieder die Frage nach der Verantwortung für das Dilemma gestellt, in dem sich die Agrar- und Ernährungspolitik zur Zeit befinden. Der härtesten Kritik sieht sich der Deutsche Bauernverband ausgesetzt. Mit Gedanken an eine Entflechtung des multifunktionalen Bundeslandwirtschaftsministeriums betonte unlängst Klaus Peter Krause: "Gerade die Agrarlobby fand im Agrarministerium einen idealen Nährboden" (F.A.Z. vom 11. Januar). Der Vorwurf des Lobbyismus wiegt schwer und stieß bei den landwirtschaftlichen Klientelpolitikern von Rehwinkel bis Sonnleitner auf heftige bis moderate Ablehnung. Die Vermutung, daß einige Agrarminister (Niklas/CSU, Lübke/CDU, Schwarz/CDU, Höcherl/CSU, Ertl/FDP, Kiechle/CSU, Borchert/CDU und Funke/SPD) sich als "Bauernminister" empfanden, lag ebenso in ihrer beruflichen Herkunft begründet wie im innerministeriellen Schwergewicht des agrarwirtschaftlichen Teilressorts.
Der politische Schulterschluß von Staatsbürokratie und Interessenverbänden war wiederholt Thema wissenschaftlicher Beiträge. Hierbei ließ sich die Grenzlinie zwischen nachgewiesenem Tatbestand und Spekulation nicht immer deutlich ziehen. Der Soziologe Rolf G. Heinze weist auf die Gefahren verbandspolitischer Tätigkeit hin, die sich zwischen den Kulissen abspielen, insbesondere auf die "Unschärfe" von "Mechanismen, Intensität und konkreten Auswirkungen der gesellschaftlich relevanten Einflußnahmen" auf den Prozeß der politischen Willensbildung und auf die legitimierten Entscheidungsträger. Priebe nennt ein Beispiel offener, brachialer Beeinflussung agrarpolitischer Entscheidungsträger, als es an der "Wiege der Gemeinsamen Agrarpolitik" um die Festsetzung des Getreidepreises ging. Der damalige Präsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Rehwinkel, "lieferte aus dem Hintergrund den Theaterdonner". Er griff gewaltbereit zu Mitteln der direkten Aktion und ließ im Herbst 1962 gegen die Göttinger Urheber des kritischen Professoren-Gutachtens in den agrarökonomischen Universitätsinstituten die Traktoren radikalisierter Bauern auffahren. Eine frühe Weichenstellung in die falsche Richtung, als von staatlicher Agrarverwaltung und vom Bauernverband der "ökonomische Sachverstand vorenthalten" wurde.
Seither meiden die Lobbyisten das Spektakel. Mit der Verfeinerung der Methoden zur Beeinflussung staatlicher Entscheidungsträger ergibt sich für die Forschung noch stärker als zuvor das Problem ihrer Nachweisbarkeit. Ausgangspunkt für die Beurteilung der Rolle des Bauernverbands bleibt die Verbandsmacht durch die viergliedrige Organisationsstruktur des "Zentralausschusses der Deutschen Landwirtschaft". Er setzt sich aus dem DBV, dem Verband der Landwirtschaftskammern, der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft und dem Deutschen Raiffeisenverband zusammen. Dazu kommt eine Vielzahl von Regional- und Spezialverbänden aller Sparten, die von den Tierzuchtverbänden bis zum Gartenbau, vom Rind über den Wein bis zur Orchidee reicht. Von hier aus gehen die Verbindungen in alle Bereiche, die dem landwirtschaftlichen Produktionssektor vor- und nachgelagert sind (etwa Futtermittelherstellung, Großschlächtereien, Molkereien, Fleischwarenfabrikation, Mühlenbetriebe, Lebensmittelgroßhandel).
Der personelle Lobbyismus mit aufmüpfigen Verbandspräsidenten wie Rehwinkel gehört spätestens seit der Ära Heereman der Vergangenheit an. Die neue Erscheinungsform ist der strukturelle Lobbyismus, der weniger auf politischen Bezugspersonen beruht als auf der engen Sachverflechtung von Agrobusineß und zahlreichen staatlichen Verwaltungsstellen.
An der Wachstumspolitik schieden sich innerhalb des Deutschen Bauernverbandes die Geister und führten zur Entstehung der "Deutschen Agraropposition", die - nach Rolf Heinze - mit ihren Gruppen (unter anderen der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) "vor allem von der politischen Partei der ,Grünen'" unterstützt wird. Die historisch-politische Verbandsforschung bereitet sich indessen auf ein neues Kapitel in der Entwicklung des modernen Lobbyismus im Bereich von Landwirtschaft vor.
Brüssel ist an allem schuld, denn - so die landläufige, unwidersprochene Ansicht aufmerksamer Beobachter der europäischen Agrarszene - die Eurokraten hätten die Bauern der Gemeinschaft in einen kostspieligen und risikoreichen Wettlauf um höhere Erträge auf allen Märkten getrieben. Die Kritik am gemeinschaftlichen Agrarmarkt ist so alt wie die Europäische Gemeinschaft selbst. Priebe zeigte sich enttäuscht darüber, das sich die Hoffnung der Gemeinschaftsgründer von 1957 "auf einen Marktausgleich im größeren Raum" nicht erfüllte. Aus dem nationalen Lobbyismus entstand eine Art "Club europäischer Lobbyisten" mit der Absicht, das Protektionssystem zu einer "Geheimwissenschaft" zu entwickeln. Seinen jüngeren Berufskollegen hinterließ er den Rat, "den Schleier zu durchdringen", wobei es allerdings blieb. Thiede spricht von "Reformvorschlägen ohne Ende", die den Bauern in den Gemeinschaftsländern "keine langfristig gültige, also verläßliche Orientierung" gaben. Die Fülle der wissenschaftlichen Literatur, die Jahr für Jahr über den Europäischen Agrarmarkt erscheint, entspricht der Problemfülle der Gemeinsamen Landwirtschaft. Selbst kundige Agrarökonomen wie Wilhelm Henrichsmeyer kommen nach ausgedehnter Erörterung von Reformkonzepten zu dem resignierenden Schluß, daß die künftige Entwicklungsrichtung der EU-Agrarpolitik unbestimmbar bleibe, weil die Grundentscheidungen "nicht allein von den Akteuren im engeren Bereich der Agrarpolitik" abhingen, sondern von der "weiteren gesamtwirtschaftlichen und allgemein-politischen Entwicklung in EU-Europa".
Vor diesem Hintergrund läßt die regierungsamtliche Ankündigung einer "neuen Agrarpolitik" aufhorchen. Schließt sich damit an die bisherigen fünf Phasen Europäischer Agrarpolitik mit ihrer kostspieligen Überschußpolitik eine neue Phase an, die mit dem intensiv wirtschaftenden Agrarsystem Schluß macht und die Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts ökologisiert? Kritiker vermißten, daß den Regierungsworten nicht sofort amtliche Konzepte folgten. Sie fochten den ökologischen Landbau als agrarpolitischen Königsweg an. Seither reißt die Diskussion über die Frage "Landwirtschaft - wohin?" nicht ab.
Es gibt ein reichhaltiges Arsenal von wissenschaftlichen Beiträgen über die alternative Landwirtschaft. Hierbei heben sich fundierte Arbeiten von publizistischen Schnellschüssen deutlich ab. Daß trotz langjähriger Diskussionen unter den Verfechtern des ökologischen Landbaus immer noch großer Klärungsbedarf besteht, läßt beispielsweise das breite Meinungsspektrum auf der Stuttgarter Tagung zum Thema "Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialwissenschaften" Ende 1998 erkennen. Hierin beklagten Fachexperten wie Siegfried Bauer und Patrick Trötschler von der Gießener Universität, daß die "bisherigen Versuche, den Begriff Nachhaltigkeit zu umschreiben, oft durch das hohe Gewicht gekennzeichnet sind, welches den ökologischen Prinzipien beigemessen wird", während ökonomische und soziale Aspekte weitgehend unberücksichtigt bleiben. Wer aber von einer automatischen "Umstellung" der konventionellen Landwirtschaft auf den ökologischen Landbau in der Hoffnung ausgeht, daß damit der langfristige Strukturwandel in der deutschen und europäischen Landwirtschaft abgeschlossen ist, dürfte von den Gießener Prognostikern enttäuscht sein. Denn sie lassen die ökonomische Nachhaltigkeit nur für einen Teil der bestehenden Landwirtschaft gelten: "Die zunehmenden gesellschaftlichen Anforderungen und gesetzlichen Umweltauflagen erschweren aber auch den prinzipiell entwicklungsfähigen Betrieben ihre Überlebensfähigkeit und nachhaltige Entwicklung." Auch wenn in den seriösen Tagungsbeiträgen von einem platten agrarstrukturellen Dualismus "Bio-Landwirtschaft - Agrarfabrik" nicht ausdrücklich die Rede ist, weil er in dieser populistischen Deutung nicht existiert, deutet doch vieles darauf hin, daß die deutschen Bauern nicht nur vor einem wirtschaftlichen, sondern auch vor einem ideologischen Konflikt stehen.
Zu den gesellschaftlichen Folgen der BSE-Krise gehören die verstörten Verbraucher. Auf ihnen lastet nicht nur die "Lawine der Angst", um ein geflügeltes Wort zu benutzen, sondern auch die Verantwortung für die Abkehr von allen agrar- und ernährungspolitischen Konventionen. Nur wer "der Verbraucher" ist, blieb bisher hinter den beschwörenden Worten über seine tragende Rolle verborgen. Die einschlägigen Wissenschaften in Deutschland "entdeckten" den Verbraucher auffallend spät. Die umfassende Geschichte der Konsumgesellschaft von Wolfgang König, die Vergleiche zwischen amerikanischen und westdeutschen Verhältnissen zieht, dämpft Hoffnungen auf eine schnelle Umsteuerung kollektiver Ernährungsgewohnheiten unter dem Druck der BSE-Krise.
Einem raschen Erfolg stellen sich vor allem zwei historische Veränderungen in den Weg: die Amerikanisierung der deutschen Eßkultur und die Gewöhnung an industriell hergestellte Lebensmittel. Beides widerspricht den hohen Erwartungen, daß die Verbraucher unverzüglich Lehren aus den Lebensmittelskandalen der jüngeren und jüngsten Vergangenheit ziehen. Das "Engelsche Gesetz" aus dem neunzehnten Jahrhundert, wonach steigendes Einkommen nicht automatisch zu steigenden Ausgaben für Nahrungsgüter führt, gilt noch immer. Ob die "Ladentheke" der eigentliche Ansatzpunkt für einen grundlegenden Wandel eingefahrener Verzehrgewohnheiten ist, erscheint zumindest nach diesen Erkenntnissen zweifelhaft.
Alles in allem beurteilt, liegt die Vorgeschichte der aktuellen Krisensituation in weiten Teilen wissenschaftlich aufbereitet vor. Das Dilemma der Agrar- und Ernährungswirtschaft begann nicht mit dem ersten BSE-Fall, sondern mit falschen politischen Weichenstellungen. Die Frage, wie es weitergehen wird, können von allen an der öffentlichen Diskussion Beteiligten die Geistes- und Wirtschaftswissenschaftler, insbesondere die mit historischen Methoden arbeitenden, am wenigsten beantworten. In einem Fall versuchten sie es: Vom "langen Abschied" des deutschen Agrarlands ist in einer von Daniela Münkel sorgsam edierten Sammelstudie die Rede, von der "Entagrarisierung" im Sinne eines Fundamentalverlusts wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ländlichkeit. Auf der Basis betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse wird dagegen ein langfristiger, konfliktreicher Funktionswandel der Landwirtschaft behauptet.
Es trifft zu, daß "Bäuerlichkeit" immer mehr verschwindet. Wenn darunter ständiges "Ringen mit den Naturgewalten" verstanden wird, dann hat der Abschied von traditioneller Ländlichkeit in der Lebens- und Arbeitswelt bereits vor einigen Jahrzehnten stattgefunden. Der Vorschlag, zu alten Zuständen zurückzukehren, um die gegenwärtige Krise zu bewältigen, kommt vor allem von Verfechtern des ökologischen Landbaus. Aber daß moderne Produktionsweisen sich mit landwirtschaftlicher Nachhaltigkeit durchaus vertragen, ist inzwischen hinlänglich bewiesen. Ein echter "Abschied" wäre der Abschied von der kostspieligen Sonderrolle der Landwirtschaft und ihren Trägern in Wirtschaft und Gesellschaft.
ULRICH KLUGE.
Der Verfasser ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Dresden.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Bauer, der kein Geld mehr hat, der brächte gern sein Kalb zur Stadt: Die deutsche Landwirtschaftspolitik als Vorgeschichte der BSE-Krise
Die europäische Landwirtschaft steht vor einem Scherbenhaufen: BSE brachte es nur an den Tag. So jedenfalls beurteilen Kritiker des modernen Agrarund Ernährungssystems die Folgen der Rinderseuche. Die "Grüne Revolution" des zwanzigsten Jahrhunderts scheint an ihr Ende gekommen zu sein, zum Leidwesen der bäuerlichen Traditionalisten, Verbandsfunktionäre und agrarindustriellen Lobbyisten, zur Freude der Fortschrittspessimisten. In der Bevölkerung ist die Ansicht verbreitet, daß die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Interessenorganisationen nicht alles für den risikolosen Verzehr von Nahrungsmitteln unternommen haben. Soviel ist sicher: BSE ist kein Betriebsunfall.
In der hitzigen Debatte um die Zukunft der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft spielt Faktenwissen zur Zeit eine Nebenrolle. Die verschreckten Verbraucher stoßen in ihrem Bemühen um sachliche Aufklärung in vielen Fällen auf eine zivilisationskritische Literatur, die hauptsächlich mit der modernen Konsumgesellschaft und ihrer Mitverantwortung für die Entstehung industrieller Agrarproduktion hart ins Gericht geht. Das derzeit wichtigste politische Thema veranlaßt Kritiker aus den verschiedensten Richtungen, sich für eine fundamentale Kehrtwendung der Agrar- und Ernährungspolitik ins Zeug zu legen. Im Konzert der Weltverbesserer fehlen die historisch orientierten Geistesund Wirtschaftswissenschaftler. Aber wenn die BSE-Krise zugleich eine sozialund wirtschaftsstrukturelle Krise ist, dann können gerade sie für sich in Anspruch nehmen, die Vorgeschichte hierfür geschrieben zu haben. Welche Informationsbasis bieten sie für eine sachliche Diskussion?
Experten prophezeiten zwar nicht die Rinderseuche, sie warnten jedoch vor den Folgen einer falschen Weichenstellung in der Agrar- und Ernährungspolitik. Dabei nahmen sie alle Glieder der Nahrungskette ("Skandalkette") ins Visier: die staatliche Agrarverwaltung in Bonn und Brüssel, die Bauernverbände, die Lebensmittel- und Agroindustrie, die Großanbieter und -verarbeiter und nicht zuletzt die Verbraucher. Sie alle wurden dafür kritisiert, daß sie den ökologischen Landbau als Alternative zur hochtechnisierten Intensivwirtschaft auf unterschiedliche Weise blockieren. Die Auseinandersetzungen sind in ihrem kulturkämpferischen Charakter eine Geschichte für sich. Über die Ereignisse von 1968 mögen wir heute noch geteilter Meinung sein, aber sie haben die Öffentlichkeit für potentielle Schwachstellen des Produktions- und Versorgungssystems sensibilisiert. Hierzu zählen Vermutungen über die Unfähigkeit der staatlichen Agrarverwaltung, die verbandspolitische Interessenkumpanei ("Agrarlobby"), die teure Eurokratie und die Übermacht Brüssels, den ungeschützten Verbraucher und die idyllische Alternative des ökologischen Landbaus. Was hat es mit diesen Vermutungen auf sich?
Die "Landwirtschaft des Jahres 2020", prophezeite der in Bonn und Brüssel offiziell tätige Insider Günther Thiede schon im Jahr 1992, "hat in der Volkswirtschaft keinen besonders herausragenden Sonderstatus mehr". Die Interessen der Landwirtschaft würden in absehbarer Zeit innerhalb der Staatsverwaltung vom Wirtschaftsministerium wahrgenommen. Er konnte aus der Sicht des Jahres 1992 nicht ahnen, daß das klassische Ressort so schnell einen tiefgreifenden Funktionswandel erleben würde, der die vollkommene Umwidmung dieser geschichtsträchtigen Hoheitsverwaltung zugunsten anderer Geschäftsbereiche (Umwelt, Verbraucher) vorwegnimmt. Die Agrarier verlieren ein wichtiges Vorwerk. "Die deutsche Agrarpolitik war stets auf die Interessen der größeren Ackerbaubetriebe ausgerichtet", kritisierte 1985 der Frankfurter Agrarökonom Hermann Priebe die Landwirtschaftsverwaltung des Bundes. Er bezeichnete sie indirekt als Agentur der Großlandwirtschaft und sah in ihr die Quelle des Agrarprotektionismus seit den Tagen des Kaiserreichs.
Die Aufgabe, eine kritische Geschichte der staatlichen Agrarverwaltung zu schreiben, stellt sich der Geschichtswissenschaft nach wie vor. Sie müßte bei Bismarcks Ablehnung beginnen, 1871 ein staatliches Agrarressort einzurichten, um nicht die partikularen Interessen in den Bundesstaaten zu verletzen; sie müßte aber auch den eigentlichen Gründungsanlaß, die akute Ernährungskrise 1919, betonen. Seither versucht die staatliche Agrarverwaltung, neben den politischen Eigeninteressen der jeweiligen Regierung zwischen den unterschiedlichen Belangen der Produzenten und Konsumenten zu vermitteln. Sie gerät durch die verschiedenartigen Verwaltungsbereiche, zu denen von alters her noch die Forstwirtschaft und seit einigen Jahren auch die Umwelt zählen, als reaktionsschwaches Krisenmanagement zwischen die Stühle. Die bevorstehende Neuprofilierung als Verbraucherministerium weist den Weg zurück zu den ministeriellen Wurzeln. Ob sich damit die Hoffnung erfüllt, das säkulare Gegensatzverhältnis von Erzeugern und Verbrauchern zu harmonisieren, bleibt abzuwarten. Die historische Erfahrung spricht dagegen, wie die Studien von Wolfram Pyta und Daniela Münkel für die ausgehende Weimarer Republik und das "Dritte Reich" sowie von Ludwig Gekle für die Bundesrepublik herausstellten.
In der Diskussion wird immer wieder die Frage nach der Verantwortung für das Dilemma gestellt, in dem sich die Agrar- und Ernährungspolitik zur Zeit befinden. Der härtesten Kritik sieht sich der Deutsche Bauernverband ausgesetzt. Mit Gedanken an eine Entflechtung des multifunktionalen Bundeslandwirtschaftsministeriums betonte unlängst Klaus Peter Krause: "Gerade die Agrarlobby fand im Agrarministerium einen idealen Nährboden" (F.A.Z. vom 11. Januar). Der Vorwurf des Lobbyismus wiegt schwer und stieß bei den landwirtschaftlichen Klientelpolitikern von Rehwinkel bis Sonnleitner auf heftige bis moderate Ablehnung. Die Vermutung, daß einige Agrarminister (Niklas/CSU, Lübke/CDU, Schwarz/CDU, Höcherl/CSU, Ertl/FDP, Kiechle/CSU, Borchert/CDU und Funke/SPD) sich als "Bauernminister" empfanden, lag ebenso in ihrer beruflichen Herkunft begründet wie im innerministeriellen Schwergewicht des agrarwirtschaftlichen Teilressorts.
Der politische Schulterschluß von Staatsbürokratie und Interessenverbänden war wiederholt Thema wissenschaftlicher Beiträge. Hierbei ließ sich die Grenzlinie zwischen nachgewiesenem Tatbestand und Spekulation nicht immer deutlich ziehen. Der Soziologe Rolf G. Heinze weist auf die Gefahren verbandspolitischer Tätigkeit hin, die sich zwischen den Kulissen abspielen, insbesondere auf die "Unschärfe" von "Mechanismen, Intensität und konkreten Auswirkungen der gesellschaftlich relevanten Einflußnahmen" auf den Prozeß der politischen Willensbildung und auf die legitimierten Entscheidungsträger. Priebe nennt ein Beispiel offener, brachialer Beeinflussung agrarpolitischer Entscheidungsträger, als es an der "Wiege der Gemeinsamen Agrarpolitik" um die Festsetzung des Getreidepreises ging. Der damalige Präsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Rehwinkel, "lieferte aus dem Hintergrund den Theaterdonner". Er griff gewaltbereit zu Mitteln der direkten Aktion und ließ im Herbst 1962 gegen die Göttinger Urheber des kritischen Professoren-Gutachtens in den agrarökonomischen Universitätsinstituten die Traktoren radikalisierter Bauern auffahren. Eine frühe Weichenstellung in die falsche Richtung, als von staatlicher Agrarverwaltung und vom Bauernverband der "ökonomische Sachverstand vorenthalten" wurde.
Seither meiden die Lobbyisten das Spektakel. Mit der Verfeinerung der Methoden zur Beeinflussung staatlicher Entscheidungsträger ergibt sich für die Forschung noch stärker als zuvor das Problem ihrer Nachweisbarkeit. Ausgangspunkt für die Beurteilung der Rolle des Bauernverbands bleibt die Verbandsmacht durch die viergliedrige Organisationsstruktur des "Zentralausschusses der Deutschen Landwirtschaft". Er setzt sich aus dem DBV, dem Verband der Landwirtschaftskammern, der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft und dem Deutschen Raiffeisenverband zusammen. Dazu kommt eine Vielzahl von Regional- und Spezialverbänden aller Sparten, die von den Tierzuchtverbänden bis zum Gartenbau, vom Rind über den Wein bis zur Orchidee reicht. Von hier aus gehen die Verbindungen in alle Bereiche, die dem landwirtschaftlichen Produktionssektor vor- und nachgelagert sind (etwa Futtermittelherstellung, Großschlächtereien, Molkereien, Fleischwarenfabrikation, Mühlenbetriebe, Lebensmittelgroßhandel).
Der personelle Lobbyismus mit aufmüpfigen Verbandspräsidenten wie Rehwinkel gehört spätestens seit der Ära Heereman der Vergangenheit an. Die neue Erscheinungsform ist der strukturelle Lobbyismus, der weniger auf politischen Bezugspersonen beruht als auf der engen Sachverflechtung von Agrobusineß und zahlreichen staatlichen Verwaltungsstellen.
An der Wachstumspolitik schieden sich innerhalb des Deutschen Bauernverbandes die Geister und führten zur Entstehung der "Deutschen Agraropposition", die - nach Rolf Heinze - mit ihren Gruppen (unter anderen der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) "vor allem von der politischen Partei der ,Grünen'" unterstützt wird. Die historisch-politische Verbandsforschung bereitet sich indessen auf ein neues Kapitel in der Entwicklung des modernen Lobbyismus im Bereich von Landwirtschaft vor.
Brüssel ist an allem schuld, denn - so die landläufige, unwidersprochene Ansicht aufmerksamer Beobachter der europäischen Agrarszene - die Eurokraten hätten die Bauern der Gemeinschaft in einen kostspieligen und risikoreichen Wettlauf um höhere Erträge auf allen Märkten getrieben. Die Kritik am gemeinschaftlichen Agrarmarkt ist so alt wie die Europäische Gemeinschaft selbst. Priebe zeigte sich enttäuscht darüber, das sich die Hoffnung der Gemeinschaftsgründer von 1957 "auf einen Marktausgleich im größeren Raum" nicht erfüllte. Aus dem nationalen Lobbyismus entstand eine Art "Club europäischer Lobbyisten" mit der Absicht, das Protektionssystem zu einer "Geheimwissenschaft" zu entwickeln. Seinen jüngeren Berufskollegen hinterließ er den Rat, "den Schleier zu durchdringen", wobei es allerdings blieb. Thiede spricht von "Reformvorschlägen ohne Ende", die den Bauern in den Gemeinschaftsländern "keine langfristig gültige, also verläßliche Orientierung" gaben. Die Fülle der wissenschaftlichen Literatur, die Jahr für Jahr über den Europäischen Agrarmarkt erscheint, entspricht der Problemfülle der Gemeinsamen Landwirtschaft. Selbst kundige Agrarökonomen wie Wilhelm Henrichsmeyer kommen nach ausgedehnter Erörterung von Reformkonzepten zu dem resignierenden Schluß, daß die künftige Entwicklungsrichtung der EU-Agrarpolitik unbestimmbar bleibe, weil die Grundentscheidungen "nicht allein von den Akteuren im engeren Bereich der Agrarpolitik" abhingen, sondern von der "weiteren gesamtwirtschaftlichen und allgemein-politischen Entwicklung in EU-Europa".
Vor diesem Hintergrund läßt die regierungsamtliche Ankündigung einer "neuen Agrarpolitik" aufhorchen. Schließt sich damit an die bisherigen fünf Phasen Europäischer Agrarpolitik mit ihrer kostspieligen Überschußpolitik eine neue Phase an, die mit dem intensiv wirtschaftenden Agrarsystem Schluß macht und die Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts ökologisiert? Kritiker vermißten, daß den Regierungsworten nicht sofort amtliche Konzepte folgten. Sie fochten den ökologischen Landbau als agrarpolitischen Königsweg an. Seither reißt die Diskussion über die Frage "Landwirtschaft - wohin?" nicht ab.
Es gibt ein reichhaltiges Arsenal von wissenschaftlichen Beiträgen über die alternative Landwirtschaft. Hierbei heben sich fundierte Arbeiten von publizistischen Schnellschüssen deutlich ab. Daß trotz langjähriger Diskussionen unter den Verfechtern des ökologischen Landbaus immer noch großer Klärungsbedarf besteht, läßt beispielsweise das breite Meinungsspektrum auf der Stuttgarter Tagung zum Thema "Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialwissenschaften" Ende 1998 erkennen. Hierin beklagten Fachexperten wie Siegfried Bauer und Patrick Trötschler von der Gießener Universität, daß die "bisherigen Versuche, den Begriff Nachhaltigkeit zu umschreiben, oft durch das hohe Gewicht gekennzeichnet sind, welches den ökologischen Prinzipien beigemessen wird", während ökonomische und soziale Aspekte weitgehend unberücksichtigt bleiben. Wer aber von einer automatischen "Umstellung" der konventionellen Landwirtschaft auf den ökologischen Landbau in der Hoffnung ausgeht, daß damit der langfristige Strukturwandel in der deutschen und europäischen Landwirtschaft abgeschlossen ist, dürfte von den Gießener Prognostikern enttäuscht sein. Denn sie lassen die ökonomische Nachhaltigkeit nur für einen Teil der bestehenden Landwirtschaft gelten: "Die zunehmenden gesellschaftlichen Anforderungen und gesetzlichen Umweltauflagen erschweren aber auch den prinzipiell entwicklungsfähigen Betrieben ihre Überlebensfähigkeit und nachhaltige Entwicklung." Auch wenn in den seriösen Tagungsbeiträgen von einem platten agrarstrukturellen Dualismus "Bio-Landwirtschaft - Agrarfabrik" nicht ausdrücklich die Rede ist, weil er in dieser populistischen Deutung nicht existiert, deutet doch vieles darauf hin, daß die deutschen Bauern nicht nur vor einem wirtschaftlichen, sondern auch vor einem ideologischen Konflikt stehen.
Zu den gesellschaftlichen Folgen der BSE-Krise gehören die verstörten Verbraucher. Auf ihnen lastet nicht nur die "Lawine der Angst", um ein geflügeltes Wort zu benutzen, sondern auch die Verantwortung für die Abkehr von allen agrar- und ernährungspolitischen Konventionen. Nur wer "der Verbraucher" ist, blieb bisher hinter den beschwörenden Worten über seine tragende Rolle verborgen. Die einschlägigen Wissenschaften in Deutschland "entdeckten" den Verbraucher auffallend spät. Die umfassende Geschichte der Konsumgesellschaft von Wolfgang König, die Vergleiche zwischen amerikanischen und westdeutschen Verhältnissen zieht, dämpft Hoffnungen auf eine schnelle Umsteuerung kollektiver Ernährungsgewohnheiten unter dem Druck der BSE-Krise.
Einem raschen Erfolg stellen sich vor allem zwei historische Veränderungen in den Weg: die Amerikanisierung der deutschen Eßkultur und die Gewöhnung an industriell hergestellte Lebensmittel. Beides widerspricht den hohen Erwartungen, daß die Verbraucher unverzüglich Lehren aus den Lebensmittelskandalen der jüngeren und jüngsten Vergangenheit ziehen. Das "Engelsche Gesetz" aus dem neunzehnten Jahrhundert, wonach steigendes Einkommen nicht automatisch zu steigenden Ausgaben für Nahrungsgüter führt, gilt noch immer. Ob die "Ladentheke" der eigentliche Ansatzpunkt für einen grundlegenden Wandel eingefahrener Verzehrgewohnheiten ist, erscheint zumindest nach diesen Erkenntnissen zweifelhaft.
Alles in allem beurteilt, liegt die Vorgeschichte der aktuellen Krisensituation in weiten Teilen wissenschaftlich aufbereitet vor. Das Dilemma der Agrar- und Ernährungswirtschaft begann nicht mit dem ersten BSE-Fall, sondern mit falschen politischen Weichenstellungen. Die Frage, wie es weitergehen wird, können von allen an der öffentlichen Diskussion Beteiligten die Geistes- und Wirtschaftswissenschaftler, insbesondere die mit historischen Methoden arbeitenden, am wenigsten beantworten. In einem Fall versuchten sie es: Vom "langen Abschied" des deutschen Agrarlands ist in einer von Daniela Münkel sorgsam edierten Sammelstudie die Rede, von der "Entagrarisierung" im Sinne eines Fundamentalverlusts wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ländlichkeit. Auf der Basis betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse wird dagegen ein langfristiger, konfliktreicher Funktionswandel der Landwirtschaft behauptet.
Es trifft zu, daß "Bäuerlichkeit" immer mehr verschwindet. Wenn darunter ständiges "Ringen mit den Naturgewalten" verstanden wird, dann hat der Abschied von traditioneller Ländlichkeit in der Lebens- und Arbeitswelt bereits vor einigen Jahrzehnten stattgefunden. Der Vorschlag, zu alten Zuständen zurückzukehren, um die gegenwärtige Krise zu bewältigen, kommt vor allem von Verfechtern des ökologischen Landbaus. Aber daß moderne Produktionsweisen sich mit landwirtschaftlicher Nachhaltigkeit durchaus vertragen, ist inzwischen hinlänglich bewiesen. Ein echter "Abschied" wäre der Abschied von der kostspieligen Sonderrolle der Landwirtschaft und ihren Trägern in Wirtschaft und Gesellschaft.
ULRICH KLUGE.
Der Verfasser ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Dresden.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main