Fast die gesamte jüdische Bevölkerung Ostgaliziens fand zwischen 1941 und 1944 bei Massenerschießungen, im Vernichtungslager Belzec und nicht zuletzt infolge katastrophaler Lebensbedingungen den Tod. Der Autor rekonstruiert diesen Massenmord und zeigt, wie die deutsche Polizei in Zusammenhang mit der Zivilverwaltung das Verbrechen organisierte und durchführte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2002Die vielfachen Tatbeiträge zum Mord an den europäischen Juden
Diesseits von Hitler und der SS: Zum sechzigsten Mal jährt sich am 20. Januar der Tag, an dem die Wannsee-Konferenz stattfand / Von Götz Aly
Ohne übertriebene geschichtswissenschaftliche Mühen entrückt die Ära Ulbrichts und Adenauers bereits ins Historische, nicht aber die ältere, vergleichsweise kurze NS-Zeit. Ihre extrem dauerhaften Nachwirkungen belegen die geschichtliche Besonderheit und widerlegen schlagend jedes gleichsetzende Gerede von den zwei Diktaturen in Deutschland. Um es mit Theodor Schieder zu sagen, der nicht öffentlich, aber in den späten siebziger Jahren in einem Privatbrief über die Folgewirkungen des Nationalsozialismus schrieb: "Dies ist eine historisch bisher einmalige Erscheinung, denn alle Gewaltregimes haben Jahrzehnte nach ihrem Untergang nurmehr eine böse Erinnerung hinterlassen, aber keine Macht mehr über die Geister gehabt." Schieder begründete das ausdrücklich mit "der Judenpolitik", die "historische Tatsachen von einem Grad der Fürchterlichkeit" eingeschlossen habe, vor denen andere Fragen "völlig in den Schatten" getreten seien.
Das seither abermals vergangene Vierteljahrhundert bestätigt diese Einsicht ebenso wie der folgenarme Untergang der DDR - einer Diktatur, der offenbar eine geringe wirkungsgeschichtliche Halbwertzeit zukommt. Dreht man Schieders Beobachtung um, dann wird die Epoche des Nationalsozialismus ihre Macht über die Gegenwart erst dann verloren haben, wenn das fürchterlichste Verbrechen angemessen historisiert ist: der in erheblichem Umfang verwirklichte Plan, alle elf Millionen europäischen Juden zu ermorden.
Anders als noch vor zehn Jahren, zur fünfzigsten Wiederkehr der Wannsee-Konferenz, herrschen in der deutschen Forschungsliteratur heute weitgehende Einigkeit und ein hochdetaillierter Kenntnisstand über die engere und weitere Vorgeschichte des "Staatssekretärs-Treffens", das am 20. Januar 1942 am Großen Wannsee in Berlin stattfand. Dort erzielte der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich einen Konsens über "die Endlösung der europäischen Judenfrage", eine, so wörtlich, "Parallelisierung der Linienführung". Auch wenn er im zusammenfassenden Protokoll die Methoden des Mordens nicht klar benannte, so hieß es doch eindeutig genug: Die Juden sollten hinfort "straßenbauend" in die besetzten Teile der Sowjetunion geführt werden, "wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen" werde. Da die wenigen Überlebenden "den widerstandsfähigsten Teil" bildeten, müßten sie "entsprechend behandelt werden". Als Grund gab Heyrich an, daß sie "bei Freilassung nicht zur Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaus" werden könnten.
Natürlich bestanden auf der Konferenz unterschiedliche Auffassungen, nicht im Grundsätzlichen, eher im organisatorischen Detail. Möglicherweise wollte Heydrich die sogenannten Halbjuden und die jüdischen Partner christlich-jüdischer Ehen in sein Progamm mit einbeziehen. Jedenfalls scheiterte eine solche Absicht an den komplizierten Überlegungen des Innenministeriums. Die dafür Verantwortlichen wollten sich das später als "Widerstand" anrechnen. Objektiv aber erleichterten sie die "Endlösung", weil es so zu keinen Verwicklungen mit deutsch-arischen Verwandten, entsprechenden Eingaben oder Protesten kam. Während Heydrich "schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten" im Westen Europas und des Reiches beginnen wollte, bat der aus Krakau angereiste Vertreter der Besatzungsregierung Josef Bühler, die Judenfrage im Generalgouvernement "so schnell wie möglich zu lösen". Das ließe sich, so argumentierte er mit Erfolg, ohne größere Schwierigkeiten machen, weil dort das Transportproblem keine Rolle spiele und "von den in Frage kommenden etwa zweieinhalb Millionen Juden überdies die Mehrzahl der Fälle arbeitsunfähig" sei.
Diese Protokoll-Sätze stellten mit aller Deutlichkeit klar, was Heydrich in seinen bereits zitierten Eingangsformulierungen noch in die Aussiedlungs- und Zwangsarbeitsmethaphorik gekleidet hatte: Bühler warb mit dem Hinweis, daß im Fall der Juden des Generalgouvernements keine Deportation, kein weiterer Transport vorgesehen sei; er sprach von der "Endlösung" an Ort und Stelle, vollzogen an Menschen, die ausdrücklich nicht zur Arbeit eingesetzt werden sollten. Bühler stützte sich dabei unter anderem auf die Wünsche der deutschen Ärzteschaft im besetzten Polen. Sie hatte im Oktober 1942 unter Beteiligung des späteren Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes, Wilhelm Hagen, einvernehmlich ("Beifall, Klatschen") festgestellt: "Es gibt nur zwei Wege, wir verurteilen die Juden im Ghetto zum Hungertode oder wir erschießen sie." Die Wirtschaftsverwaltung hatte die oft winzigen Unternehmen der Juden entweder wegrationalisiert, sie in die Hände von Deutschen oder von Polen gegeben. Im übrigen fanden die Experten, das Generalgouvernement sei ohnehin "überbevölkert" und bedürfe einer "demographischen Entlastung".
Das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW, heute: Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft) hatte sich über die Beschäftigungsmöglichkeiten der Ghettoisierten schon lange und fortlaufend betriebswirtschaftliche Gedanken gemacht. Im Frühjahr 1941 erarbeitete das RKW im Auftrag der Besatzungsregierung ein dreiundfünfzig Seiten langes Gutachten über das Warschauer Ghetto. Darin wurde festgestellt, wenn schon nicht alle polnischen Arbeitskräfte mit Arbeit versehen werden könnten, weil "ein starker Überschuß vorhanden" sei, gelte das für die Ghettoisierten erst recht. Sie würden angesichts der physischen "Minderwertigkeit der jüdischen Volksmasse erhebliche Ausfälle und Kosten" verursachen. Von dieser grundsätzlichen Schwierigkeit abgesehen erfordere das Ghetto pro Tag einen Zuschuß von mindestens 150 000 Reichsmark und bewirke Steuerausfälle. Wenn man das vermeiden wolle, gäbe es drei Wege: Entweder Investitionen für die Schaffung von Arbeitsplätzen im Ghetto, den Zwangsarbeitseinsatz außerhalb ober aber "man läßt Unterversorgung eintreten ohne Rücksicht auf die sich ergebenden Folgen."
In Ostgalizien, das im Sommer 1941 dem Generalgouvernement zufiel, unterschied die deutsche Verwaltung von Anfang an zwischen "produktiven" und "unproduktiven" Juden. Das galt für die Unterbringung wie für die Ernährung. Die Beamten deutscher Arbeitsämter bestimmten dort vielfach über Leben und Tod. Im Reich kam der Druck von unten. 1941 forderten die Gauleiter und ungezählte Bürgermeister der bombardierten Städte im Nordwesten, und nicht nur dort, massiv die "Freimachung der Judenwohnungen", die Verteilung des Hausrats an die deutschen Bedürftigen. Diejenigen, die sich wenig später mit der Umverteilung des Eigentums "Ausgesiedelter" befaßten, sprachen bald vom politisch-integrativen Gewinn ihrer Arbeit. Stolz berichteten sie "von der großen psychologischen Wirkung auf alle Volksgenossen", und zwar aus "allen Berufsschichten". Als im Herbst 1943 die Deportationen aus dem belgischen Lüttich stockten, forderte das Kommando, das für die unbürokratische Soforthilfe zugunsten ausgebombter Deutscher im Rheinland zuständig war: "Baldmöglichst die Judenaktion weiter zu führen, damit die Erfassung der Judenmöbel und Abtransport ins Reich erfolgen kann."
In dieselbe Richtung arbeitete das Reichsernährungsministerium, dessen Staatssekretär Herbert Backe beispielsweise im Juni 1942 erhebliche Lebensmittellieferungen aus dem hungernden Polen nach Deutschland erzwang, zugunsten deutscher Hausfrauen, Senioren und pausbäckiger Säuglinge. Backes Begründung gegenüber den zögernden Besatzungsbehörden in Krakau lautete: "Im Generalgouvernement befinden sich noch 3,5 Mill. Juden. Polen soll noch in diesem Jahr saniert werden." Die Zahl war stark übertrieben oder sie wurde falsch getippt, doch stimmt der Zusammenhang. Schon im August stellten die Verantwortlichen im Generalgouvernement fest: "Die Versorgung der bisher mit 1,5 Millionen Juden angenommenen Bevölkerungsmenge fällt weg, und zwar bis zu einer angenommenen Menge von 300 000 Juden, die noch im deutschen Interesse als Handwerker oder sonstwie arbeiten."
Ist dieser Teil der antijüdischen Politik von Christian Gerlach, Dieter Pohl und vielen anderen gründlich herausgearbeitet worden, so hat Peter Witte in diesen Tagen gezeigt, daß bis zum 31. Dezember des Jahres 1942 tatsächlich und exakt 1 274 166 polnische Juden in den Gaskammern des Generalgouvernements starben. Das von ihm interpretierte Dokument enthält ebenso genaue Angaben über die Zahl der bisdahin in den einzelnen Lagern des "Einsatzes Reinhardt" ermordeten Juden: in Belzec, Sobiór, Treblinka und auch Majdanek. Magnus Brechtgen legte schon vor mehreren Jahren eine gründliche Arbeit über den im Sommer 1940 akuten Plan vor, Juden nach Madagaskar umzusiedeln. Andere haben die Beteiligung von Intellektuellen, wieder andere die kommunalen Interessen erforscht, über die Einheit von Germanisierungspolitik und Judenmord in einzelnen Regionen gearbeitet, über die großen, in diesem Zusammenhang wichtigen gesellschaftssanitären Utopien oder die Wechselwirkungen, die sich zwischen dem Heim-ins-Reich der Volksdeutschen und der antijüdischen Politik schnell ergaben.
Man weiß jetzt, daß die Reichsbahndirektion Oppeln unter ihrem Präsidenten Hans Geitmann für den Transport der oberschlesischen Juden nach Auschwitz zuständig war und wohl auch für sonstige mit der Logistik von Auschwitz-Birkenau verbundene Probleme. Geitmann avancierte später zum Präsidenten der Bundesbahndirektion Nürnberg und zum Vorstandsmitglied der Bundesbahn. Man weiß heute auch, aus welchen Gründen die von Eichmann vorgelegte Variante des Plans, die Juden nach Madagaskar zu deportieren, im Auswärtigen Amt mißfiel: Sie dauerte "zu lange" und griff zu kurz, weil das Reichssicherheitshauptamt "nur" die Juden in den bis dahin von Deutschland besetzten Länder plus Slowakei deportieren wollte, aber, wie das Auswärtige Amt monierte, Italien, Bulgarien, Rumänien "etc." außer Acht ließ. Es kann also keine Rede davon sein, daß die Radikalisierungsschübe stets von der SS ausgegangen seien.
Das Madagaskar-Projekt scheiterte rasch und wurde durch ein neues ("Ostraumlösung") ersetzt, das ebenfalls scheiterte. Noch am 3. September 1941 fragte ein entnervter Umsiedlungsfunktionär, der auch für das Ghetto Lodz zuständig war, bei Eichmann an: Was mit den "für die großdeutschen Siedlungsräume unerwünschten Volksteilen endgültig geschehen" solle? Er wollte wissen, und erhielt auf seine Frage erst nach vier Wochen eine ausweichende Antwort: "Ob das Ziel darin besteht, ihnen ein gewisses Leben für dauernd zu sichern, oder ob sie völlig ausgemerzt werden sollen?"
Seit der vor zwei Jahren erfolgten Freigabe der Texte ("Memoiren"), die Eichmann nach seiner Verurteilung in der israelischen Gefängniszelle niederschrieb, weiß man auch, was er empfand, als er Ende 1944 von Ungarn nach Berlin zurückkehrte. Dort hatte er persönlich den Transport von mehr als 400 000 Juden nach Auschwitz organisiert, hatte es aber nicht mehr geschafft, die 200 000 Juden Budapests zu deportieren. Er war am internationalen Druck gescheitert - gegenüber Horthy namentlich und massiv ausgeübt von dem päpstlichen Nuntius Angelo Rotta, der immer wieder "mit größter Entschlossenheit" protestierte. Als Eichmann nun in die Reichshauptstadt zurückkehrte, sah er "von Tieffliegern zerhackte Deutsche". Wegen der "anglo-amerikanischen Bomber stank es dort nach verbranntem Fleisch und verwesenden Leichen". Deswegen war für Eichmann "an eine geregelte Behördenarbeit nicht mehr zu denken".
All das, einschließlich der Vorgeschichte seit 1933, ist in den vergangenen fünfzehn Jahren ziemlich gut untersucht worden, einige noch wichtige Arbeiten werden bald oder in den nächsten Jahren erscheinen. Niemand fand bei seinen Recherchen den einen Grund, niemand stieß auf das große alles entschlüsselnde Dokument. Sämtliche Forschungsarbeiten gleichen sich in ihrer beeindruckenden, fußnotenstarken Fundamentierung, im peniblen, rekonstruierenden Verbinden und Ordnen der Quellensplitter. Heute steht fest, die Judenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland erklärt sich nicht aus den Akten, die unmittelbar von der "Judenfrage" handeln. Vielmehr sind die vielen politischen und materiellen Interessen, die in diese schließlich mörderische Deiskriminierungspolitik einflossen, inzwischen selbstverständlicher Bestandteil der Forschung geworden. Kein ernsthafter Historiker wird heute "Hitlers Obsessionen" oder dem "Rassenwahn der SS" die hauptsächliche oder gar alleinige Verantwortung an der Ermordung der europäischen Juden zuschreiben.
Die multikausalen Voraussetzungen des Holocaust, die vielschichtigen, über einen längeren Zeitraum getroffenen Einzelentscheidungen sind eindeutig erwiesen. Niemand kann genau sagen, welches Gewicht dabei der Kriegsernährungssicherung zukam, den Wohnraumbeschaffern, den Siedlungsplanern, den Rationalisierungsfachleuten, Statistikern, dem auf Sondereinnahmen erpichten Finanzminister oder einzelnen SS-Institutionen. Eine solche Qualifizierung der Entscheidungselemente gelingt in der Geschichtsforschung nur ausnahmsweise, und nach aller menschlichen Erfahrung bleibt das Gewicht einzelner, in einer komplexen Entscheidungssituation maßgeblicher Beweggründe oft genug selbst den unmittelbar Handelnden unklar.
Das Verbrechen wurde aus der Mitte einer modernen, hochdifferenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaft begangen. Mit einiger Sicherheit gehörte diese Diffusität zu den wichtigen Voraussetzung. Sie erlaubte es, die traditionellen juridischen und moralischen Schranken zu überwinden, weil erst die anonyme, tausendfache Mittäterschaft die persönliche Verantwortung des einzelnen soweit reduzierte, daß sie das Gewissen der einzelnen nur noch schwach belastete. Die Organisatoren der Deportationsfahrpläne erfüllten dabei andere Funktionen als die Theoretiker der Volkstumspolitik, Juristen andere als Historiker, Filmemacher andere als Reichsbankdirektoren. Notwendig aber waren die Tatbeiträge aller.
Abgelehnt werden muß nach aller Forschung die kontrafaktische, in die Form der rhetorischen Frage gekleidete Mutmaßung, die Jürgen Kocka zu Gunsten der antisemitischen Geheimgutachten und Schriften prominenter deutscher Historiker ins Feld geführt hat: "Wäre ohne sie die Eroberungs-, Zwangsumsiedlungs- und Ausrottungspolitik anders verlaufen? Ich vermute: kaum." So sehr die Wannsee-Konferenz die keinesfalls konsistente antisemitische Ideologie voraussetzte, so sehr gehörten die konkreten, realpolitischen Interessen an einer wie immer gearteten "Entfernung" der Juden zu den Grundlagen dieser Konferenz. Das gilt um so mehr, als die gesamte deutsche Politik seit 1939 zunehmend und im Vorgriff so handelte, als könnten "die Judenfrage" binnen weniger Monate mit dem Mittel der Zwangsumsiedlung "gelöst" sein.
Insofern hält der alte, von Hans Mommsen vor mehr als fünfunddreißig Jahren geprägte Begriff der kumulativen Radikalisierung nicht allein der gesamten neueren Forschung stand, sie füllte ihn erst richtig aus. Offenbar verhielt es sich in Deutschland und in einigen besetzten Ländern so, wie Goebbels im April 1944 notierte: "Jedenfalls werden die Ungarn aus dem Rhythmus der Judenpolitik nicht mehr herauskommen. Wer A sagt muß B sagen, und die Ungarn haben einmal angefangen mit der Judenpolitik, sie können sie deshalb nicht mehr abbremsen. Die Judenpolitik treibt sich von einem gewissen Zeitpunkt an von selbst. Das ist jetzt bei den Ungarn der Fall." Goebbels notierte das, nachdem die relativ souveräne ungarische Regierung 300 000 Juden des annektierten Nordens und Ostens ghettoisiert, die Verordnung zum Tragen des gelben Sterns erlassen, die Läden und Betriebe, die sich im Besitz von Juden befanden, geschlossen und die gemeinnützige Konfiszierung jüdischen Eigentums angekündigt hatte.
Nach mehr als einem halben Jahrhundert deutet sich die Historisierung des Holocaust an. Langsam erlischt die zeitgeschichtliche Wahrnehmung, die sich definitorisch an den Mythen der Zeitgenossen, den Wünschen nach Beschönigung, hartnäckiger Verdrehungen oder einseitigen Schuldzuweisungen reibt. So gesehen erscheint die Zeit reif für eine großangelegte, vielbändige Quellenedition. Ein solches Werk hätte die Geschichte der Ausgrenzung, Entrechtung und Enteignung der deutschen wie später der europäischen Juden breit und facettenreich zu dokumentieren, schließlich ihre Ghettoisierung, Deportation und Ermordung.
Uneinigkeit besteht noch über die Auswirkungen der Wannsee-Konferenz. Das gilt zum einen für die gern verbreitete Behauptung, am 20. Januar 1942 sei ein Programm in Gang gesetzt worden, das in seiner Hermetik weder durch die zunehmend schwierige Kriegslage, noch von den Öffentlichkeiten in Deutschland oder in den besetzten Ländern wesentlich hätte beeinflußt werden können. Aber gegen die Judendeportation konnte sich nicht nur das kleine, besetzte Dänemark wehren, auch Frankreich verweigerte die Auslieferung von drei Vierteln seiner jüdischen Bevölkerung. In Belgien wurden Zehntausende der Bedrohten versteckt - nicht aber in den Niederlanden. Rumänische Einheiten begingen entsetzliche Massaker an den Juden Transistriens, die Regierung verweigerte sich jedoch konsequent dem deutschen Drängen, die 250 000 Juden Zentralrumäniens "nach Osten abzuschieben". Ähnliches gilt für Bulgarien, das die Juden der annektierten Teile Thraziens und Mazedoniens auslieferte, nicht aber die des Kernlandes. Selbst die Slowakei weigerte sich seit 1943 standhaft, die letzten 18 000 Juden zu deportieren. In Griechenland bereiteten die nationalen Behörden der Deportation keine Schwierigkeiten, wohl aber die Militärverwaltung der durch das faschistische Italien besetzten Zone.
Die genannten Länder unterschieden sich in ihren religiösen Traditionen, ihren politischen und ökonomischen Zuständen extrem. Ihr (Teil-)Widerstand gegen die Deportation jüdischer Mitbürger läßt sich also nicht auf einen einfachen, volkspädagogisch bequemen Nenner bringen. Die zweite, damit verbundene, unentschiedene Frage lautet: Was wußten die Deutschen? In welchem Ausmaß haben sie durch ihre aktive oder klammheimliche Zustimmung zur Judenvernichtung mitgewirkt oder sie durch ihr Schweigen, ihre ostentative Gleichgültigkeit ermöglicht? Dazu sind grundlegende Untersuchungen noch nicht geschrieben. Die Arbeiten von Daniel Goldhagen, Eric Johnson oder Robert Gellately ziehen aus ihrem äußerst lückenhaften, nicht selten interpretatorisch strapazierten Quellenmaterial zu weitreichende Schlüsse.
Die im Vorangegangenen zitierten Autoren beschäftigen sich mit der Frage nach der Massenunterstützung nur sporadisch, etwa wenn aus dem zeitgenössischen Bericht eines Unteroffiziers zitiert wird, der im August 1942 per Bahn von Lemberg nach Lublin fuhr: "Wir sind am Lager Belzec vorbeigefahren", heißt es dort, und plötzlich habe eine Mitreisende gerufen: "Jetzt kommt es!" Dem Bericht zufolge lag "ein stark süßlicher Geruch" in der Luft. "Die stinken ja schon, sagte die Frau. Ach Quatsch, das ist das Gas, lachte der Bahnpolizist."
Liest man daneben die Feldpostbriefe Heinrich Bölls, dann zeigt sich ein Deutscher, der angewidert Zwangsarbeiter nahe Köln bewachte. Deren Lage erinnerte ihn an die eigene Arbeitsdienstzeit, ansonsten war er mit sich selbst beschäftigt. "Der Krieg saugt wirklich alle Kraft und allen Willen meines Geistes aus mir heraus", stellt er immer wieder fest, oder: ". . . ich verliere mein Hirn stückweise und gehe allmählich ganz unter in diesem grauen Brei des Wachvereins". Der Gelbe Stern, die Deportationen aus dem Rheinland interessieren ihn nicht, wer weiß, ob er davon gehört hat. "Meine einzige große Sorge ist vorläufig nur", notiert er am 28. November 1941, "ob ich nach Antwerpen komme oder nicht; alle die schönen Dinge, die ich mitbringen muß und will, Kaffee, Zigarren und Tuche, ach, wenn das alles sein könnte." Kein Gedanke darüber, wem all die schönen Sachen einmal gehört haben mögen.
Die offene Frage, die im Hinblick auf die Wannsee-Konferenz noch beantwortet werden muß, erscheint klar. Was wußten die Deutschen, was wollten sie wissen? Welche Abstumpfungen bewirkten der Krieg, der Bombenkrieg, die täglichen Sorgen? Mit welchen Gefühlen, mit welcher Selbstverständlichkeit profitierten sie von den Deportationen? Wie wirkte die Propaganda-Figur vom "jüdischen Krieg"? Warum tabuisierten selbst die geheimen "Meldungen aus dem Reich" das Morden? Die Ergebnisse solcher Untersuchung lassen sich heute schwer abschätzen. Und deshalb sollten sie unternommen werden. Schließlich befürchtete Heydrich selber Bedenken, Fürsprache und Gegenreaktionen, wenn er die Deportationen der über fünfundsechzigjährigen deutschen Juden und der Träger von Kriegsauszeichnungen in das "Altersghetto" Theresienstadt mit den Worten befürwortete: "Mit dieser zweckmäßigen Lösung werden mit einem Schlag die vielen Interventionen ausgeschaltet."
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Diesseits von Hitler und der SS: Zum sechzigsten Mal jährt sich am 20. Januar der Tag, an dem die Wannsee-Konferenz stattfand / Von Götz Aly
Ohne übertriebene geschichtswissenschaftliche Mühen entrückt die Ära Ulbrichts und Adenauers bereits ins Historische, nicht aber die ältere, vergleichsweise kurze NS-Zeit. Ihre extrem dauerhaften Nachwirkungen belegen die geschichtliche Besonderheit und widerlegen schlagend jedes gleichsetzende Gerede von den zwei Diktaturen in Deutschland. Um es mit Theodor Schieder zu sagen, der nicht öffentlich, aber in den späten siebziger Jahren in einem Privatbrief über die Folgewirkungen des Nationalsozialismus schrieb: "Dies ist eine historisch bisher einmalige Erscheinung, denn alle Gewaltregimes haben Jahrzehnte nach ihrem Untergang nurmehr eine böse Erinnerung hinterlassen, aber keine Macht mehr über die Geister gehabt." Schieder begründete das ausdrücklich mit "der Judenpolitik", die "historische Tatsachen von einem Grad der Fürchterlichkeit" eingeschlossen habe, vor denen andere Fragen "völlig in den Schatten" getreten seien.
Das seither abermals vergangene Vierteljahrhundert bestätigt diese Einsicht ebenso wie der folgenarme Untergang der DDR - einer Diktatur, der offenbar eine geringe wirkungsgeschichtliche Halbwertzeit zukommt. Dreht man Schieders Beobachtung um, dann wird die Epoche des Nationalsozialismus ihre Macht über die Gegenwart erst dann verloren haben, wenn das fürchterlichste Verbrechen angemessen historisiert ist: der in erheblichem Umfang verwirklichte Plan, alle elf Millionen europäischen Juden zu ermorden.
Anders als noch vor zehn Jahren, zur fünfzigsten Wiederkehr der Wannsee-Konferenz, herrschen in der deutschen Forschungsliteratur heute weitgehende Einigkeit und ein hochdetaillierter Kenntnisstand über die engere und weitere Vorgeschichte des "Staatssekretärs-Treffens", das am 20. Januar 1942 am Großen Wannsee in Berlin stattfand. Dort erzielte der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich einen Konsens über "die Endlösung der europäischen Judenfrage", eine, so wörtlich, "Parallelisierung der Linienführung". Auch wenn er im zusammenfassenden Protokoll die Methoden des Mordens nicht klar benannte, so hieß es doch eindeutig genug: Die Juden sollten hinfort "straßenbauend" in die besetzten Teile der Sowjetunion geführt werden, "wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen" werde. Da die wenigen Überlebenden "den widerstandsfähigsten Teil" bildeten, müßten sie "entsprechend behandelt werden". Als Grund gab Heyrich an, daß sie "bei Freilassung nicht zur Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaus" werden könnten.
Natürlich bestanden auf der Konferenz unterschiedliche Auffassungen, nicht im Grundsätzlichen, eher im organisatorischen Detail. Möglicherweise wollte Heydrich die sogenannten Halbjuden und die jüdischen Partner christlich-jüdischer Ehen in sein Progamm mit einbeziehen. Jedenfalls scheiterte eine solche Absicht an den komplizierten Überlegungen des Innenministeriums. Die dafür Verantwortlichen wollten sich das später als "Widerstand" anrechnen. Objektiv aber erleichterten sie die "Endlösung", weil es so zu keinen Verwicklungen mit deutsch-arischen Verwandten, entsprechenden Eingaben oder Protesten kam. Während Heydrich "schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten" im Westen Europas und des Reiches beginnen wollte, bat der aus Krakau angereiste Vertreter der Besatzungsregierung Josef Bühler, die Judenfrage im Generalgouvernement "so schnell wie möglich zu lösen". Das ließe sich, so argumentierte er mit Erfolg, ohne größere Schwierigkeiten machen, weil dort das Transportproblem keine Rolle spiele und "von den in Frage kommenden etwa zweieinhalb Millionen Juden überdies die Mehrzahl der Fälle arbeitsunfähig" sei.
Diese Protokoll-Sätze stellten mit aller Deutlichkeit klar, was Heydrich in seinen bereits zitierten Eingangsformulierungen noch in die Aussiedlungs- und Zwangsarbeitsmethaphorik gekleidet hatte: Bühler warb mit dem Hinweis, daß im Fall der Juden des Generalgouvernements keine Deportation, kein weiterer Transport vorgesehen sei; er sprach von der "Endlösung" an Ort und Stelle, vollzogen an Menschen, die ausdrücklich nicht zur Arbeit eingesetzt werden sollten. Bühler stützte sich dabei unter anderem auf die Wünsche der deutschen Ärzteschaft im besetzten Polen. Sie hatte im Oktober 1942 unter Beteiligung des späteren Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes, Wilhelm Hagen, einvernehmlich ("Beifall, Klatschen") festgestellt: "Es gibt nur zwei Wege, wir verurteilen die Juden im Ghetto zum Hungertode oder wir erschießen sie." Die Wirtschaftsverwaltung hatte die oft winzigen Unternehmen der Juden entweder wegrationalisiert, sie in die Hände von Deutschen oder von Polen gegeben. Im übrigen fanden die Experten, das Generalgouvernement sei ohnehin "überbevölkert" und bedürfe einer "demographischen Entlastung".
Das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW, heute: Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft) hatte sich über die Beschäftigungsmöglichkeiten der Ghettoisierten schon lange und fortlaufend betriebswirtschaftliche Gedanken gemacht. Im Frühjahr 1941 erarbeitete das RKW im Auftrag der Besatzungsregierung ein dreiundfünfzig Seiten langes Gutachten über das Warschauer Ghetto. Darin wurde festgestellt, wenn schon nicht alle polnischen Arbeitskräfte mit Arbeit versehen werden könnten, weil "ein starker Überschuß vorhanden" sei, gelte das für die Ghettoisierten erst recht. Sie würden angesichts der physischen "Minderwertigkeit der jüdischen Volksmasse erhebliche Ausfälle und Kosten" verursachen. Von dieser grundsätzlichen Schwierigkeit abgesehen erfordere das Ghetto pro Tag einen Zuschuß von mindestens 150 000 Reichsmark und bewirke Steuerausfälle. Wenn man das vermeiden wolle, gäbe es drei Wege: Entweder Investitionen für die Schaffung von Arbeitsplätzen im Ghetto, den Zwangsarbeitseinsatz außerhalb ober aber "man läßt Unterversorgung eintreten ohne Rücksicht auf die sich ergebenden Folgen."
In Ostgalizien, das im Sommer 1941 dem Generalgouvernement zufiel, unterschied die deutsche Verwaltung von Anfang an zwischen "produktiven" und "unproduktiven" Juden. Das galt für die Unterbringung wie für die Ernährung. Die Beamten deutscher Arbeitsämter bestimmten dort vielfach über Leben und Tod. Im Reich kam der Druck von unten. 1941 forderten die Gauleiter und ungezählte Bürgermeister der bombardierten Städte im Nordwesten, und nicht nur dort, massiv die "Freimachung der Judenwohnungen", die Verteilung des Hausrats an die deutschen Bedürftigen. Diejenigen, die sich wenig später mit der Umverteilung des Eigentums "Ausgesiedelter" befaßten, sprachen bald vom politisch-integrativen Gewinn ihrer Arbeit. Stolz berichteten sie "von der großen psychologischen Wirkung auf alle Volksgenossen", und zwar aus "allen Berufsschichten". Als im Herbst 1943 die Deportationen aus dem belgischen Lüttich stockten, forderte das Kommando, das für die unbürokratische Soforthilfe zugunsten ausgebombter Deutscher im Rheinland zuständig war: "Baldmöglichst die Judenaktion weiter zu führen, damit die Erfassung der Judenmöbel und Abtransport ins Reich erfolgen kann."
In dieselbe Richtung arbeitete das Reichsernährungsministerium, dessen Staatssekretär Herbert Backe beispielsweise im Juni 1942 erhebliche Lebensmittellieferungen aus dem hungernden Polen nach Deutschland erzwang, zugunsten deutscher Hausfrauen, Senioren und pausbäckiger Säuglinge. Backes Begründung gegenüber den zögernden Besatzungsbehörden in Krakau lautete: "Im Generalgouvernement befinden sich noch 3,5 Mill. Juden. Polen soll noch in diesem Jahr saniert werden." Die Zahl war stark übertrieben oder sie wurde falsch getippt, doch stimmt der Zusammenhang. Schon im August stellten die Verantwortlichen im Generalgouvernement fest: "Die Versorgung der bisher mit 1,5 Millionen Juden angenommenen Bevölkerungsmenge fällt weg, und zwar bis zu einer angenommenen Menge von 300 000 Juden, die noch im deutschen Interesse als Handwerker oder sonstwie arbeiten."
Ist dieser Teil der antijüdischen Politik von Christian Gerlach, Dieter Pohl und vielen anderen gründlich herausgearbeitet worden, so hat Peter Witte in diesen Tagen gezeigt, daß bis zum 31. Dezember des Jahres 1942 tatsächlich und exakt 1 274 166 polnische Juden in den Gaskammern des Generalgouvernements starben. Das von ihm interpretierte Dokument enthält ebenso genaue Angaben über die Zahl der bisdahin in den einzelnen Lagern des "Einsatzes Reinhardt" ermordeten Juden: in Belzec, Sobiór, Treblinka und auch Majdanek. Magnus Brechtgen legte schon vor mehreren Jahren eine gründliche Arbeit über den im Sommer 1940 akuten Plan vor, Juden nach Madagaskar umzusiedeln. Andere haben die Beteiligung von Intellektuellen, wieder andere die kommunalen Interessen erforscht, über die Einheit von Germanisierungspolitik und Judenmord in einzelnen Regionen gearbeitet, über die großen, in diesem Zusammenhang wichtigen gesellschaftssanitären Utopien oder die Wechselwirkungen, die sich zwischen dem Heim-ins-Reich der Volksdeutschen und der antijüdischen Politik schnell ergaben.
Man weiß jetzt, daß die Reichsbahndirektion Oppeln unter ihrem Präsidenten Hans Geitmann für den Transport der oberschlesischen Juden nach Auschwitz zuständig war und wohl auch für sonstige mit der Logistik von Auschwitz-Birkenau verbundene Probleme. Geitmann avancierte später zum Präsidenten der Bundesbahndirektion Nürnberg und zum Vorstandsmitglied der Bundesbahn. Man weiß heute auch, aus welchen Gründen die von Eichmann vorgelegte Variante des Plans, die Juden nach Madagaskar zu deportieren, im Auswärtigen Amt mißfiel: Sie dauerte "zu lange" und griff zu kurz, weil das Reichssicherheitshauptamt "nur" die Juden in den bis dahin von Deutschland besetzten Länder plus Slowakei deportieren wollte, aber, wie das Auswärtige Amt monierte, Italien, Bulgarien, Rumänien "etc." außer Acht ließ. Es kann also keine Rede davon sein, daß die Radikalisierungsschübe stets von der SS ausgegangen seien.
Das Madagaskar-Projekt scheiterte rasch und wurde durch ein neues ("Ostraumlösung") ersetzt, das ebenfalls scheiterte. Noch am 3. September 1941 fragte ein entnervter Umsiedlungsfunktionär, der auch für das Ghetto Lodz zuständig war, bei Eichmann an: Was mit den "für die großdeutschen Siedlungsräume unerwünschten Volksteilen endgültig geschehen" solle? Er wollte wissen, und erhielt auf seine Frage erst nach vier Wochen eine ausweichende Antwort: "Ob das Ziel darin besteht, ihnen ein gewisses Leben für dauernd zu sichern, oder ob sie völlig ausgemerzt werden sollen?"
Seit der vor zwei Jahren erfolgten Freigabe der Texte ("Memoiren"), die Eichmann nach seiner Verurteilung in der israelischen Gefängniszelle niederschrieb, weiß man auch, was er empfand, als er Ende 1944 von Ungarn nach Berlin zurückkehrte. Dort hatte er persönlich den Transport von mehr als 400 000 Juden nach Auschwitz organisiert, hatte es aber nicht mehr geschafft, die 200 000 Juden Budapests zu deportieren. Er war am internationalen Druck gescheitert - gegenüber Horthy namentlich und massiv ausgeübt von dem päpstlichen Nuntius Angelo Rotta, der immer wieder "mit größter Entschlossenheit" protestierte. Als Eichmann nun in die Reichshauptstadt zurückkehrte, sah er "von Tieffliegern zerhackte Deutsche". Wegen der "anglo-amerikanischen Bomber stank es dort nach verbranntem Fleisch und verwesenden Leichen". Deswegen war für Eichmann "an eine geregelte Behördenarbeit nicht mehr zu denken".
All das, einschließlich der Vorgeschichte seit 1933, ist in den vergangenen fünfzehn Jahren ziemlich gut untersucht worden, einige noch wichtige Arbeiten werden bald oder in den nächsten Jahren erscheinen. Niemand fand bei seinen Recherchen den einen Grund, niemand stieß auf das große alles entschlüsselnde Dokument. Sämtliche Forschungsarbeiten gleichen sich in ihrer beeindruckenden, fußnotenstarken Fundamentierung, im peniblen, rekonstruierenden Verbinden und Ordnen der Quellensplitter. Heute steht fest, die Judenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland erklärt sich nicht aus den Akten, die unmittelbar von der "Judenfrage" handeln. Vielmehr sind die vielen politischen und materiellen Interessen, die in diese schließlich mörderische Deiskriminierungspolitik einflossen, inzwischen selbstverständlicher Bestandteil der Forschung geworden. Kein ernsthafter Historiker wird heute "Hitlers Obsessionen" oder dem "Rassenwahn der SS" die hauptsächliche oder gar alleinige Verantwortung an der Ermordung der europäischen Juden zuschreiben.
Die multikausalen Voraussetzungen des Holocaust, die vielschichtigen, über einen längeren Zeitraum getroffenen Einzelentscheidungen sind eindeutig erwiesen. Niemand kann genau sagen, welches Gewicht dabei der Kriegsernährungssicherung zukam, den Wohnraumbeschaffern, den Siedlungsplanern, den Rationalisierungsfachleuten, Statistikern, dem auf Sondereinnahmen erpichten Finanzminister oder einzelnen SS-Institutionen. Eine solche Qualifizierung der Entscheidungselemente gelingt in der Geschichtsforschung nur ausnahmsweise, und nach aller menschlichen Erfahrung bleibt das Gewicht einzelner, in einer komplexen Entscheidungssituation maßgeblicher Beweggründe oft genug selbst den unmittelbar Handelnden unklar.
Das Verbrechen wurde aus der Mitte einer modernen, hochdifferenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaft begangen. Mit einiger Sicherheit gehörte diese Diffusität zu den wichtigen Voraussetzung. Sie erlaubte es, die traditionellen juridischen und moralischen Schranken zu überwinden, weil erst die anonyme, tausendfache Mittäterschaft die persönliche Verantwortung des einzelnen soweit reduzierte, daß sie das Gewissen der einzelnen nur noch schwach belastete. Die Organisatoren der Deportationsfahrpläne erfüllten dabei andere Funktionen als die Theoretiker der Volkstumspolitik, Juristen andere als Historiker, Filmemacher andere als Reichsbankdirektoren. Notwendig aber waren die Tatbeiträge aller.
Abgelehnt werden muß nach aller Forschung die kontrafaktische, in die Form der rhetorischen Frage gekleidete Mutmaßung, die Jürgen Kocka zu Gunsten der antisemitischen Geheimgutachten und Schriften prominenter deutscher Historiker ins Feld geführt hat: "Wäre ohne sie die Eroberungs-, Zwangsumsiedlungs- und Ausrottungspolitik anders verlaufen? Ich vermute: kaum." So sehr die Wannsee-Konferenz die keinesfalls konsistente antisemitische Ideologie voraussetzte, so sehr gehörten die konkreten, realpolitischen Interessen an einer wie immer gearteten "Entfernung" der Juden zu den Grundlagen dieser Konferenz. Das gilt um so mehr, als die gesamte deutsche Politik seit 1939 zunehmend und im Vorgriff so handelte, als könnten "die Judenfrage" binnen weniger Monate mit dem Mittel der Zwangsumsiedlung "gelöst" sein.
Insofern hält der alte, von Hans Mommsen vor mehr als fünfunddreißig Jahren geprägte Begriff der kumulativen Radikalisierung nicht allein der gesamten neueren Forschung stand, sie füllte ihn erst richtig aus. Offenbar verhielt es sich in Deutschland und in einigen besetzten Ländern so, wie Goebbels im April 1944 notierte: "Jedenfalls werden die Ungarn aus dem Rhythmus der Judenpolitik nicht mehr herauskommen. Wer A sagt muß B sagen, und die Ungarn haben einmal angefangen mit der Judenpolitik, sie können sie deshalb nicht mehr abbremsen. Die Judenpolitik treibt sich von einem gewissen Zeitpunkt an von selbst. Das ist jetzt bei den Ungarn der Fall." Goebbels notierte das, nachdem die relativ souveräne ungarische Regierung 300 000 Juden des annektierten Nordens und Ostens ghettoisiert, die Verordnung zum Tragen des gelben Sterns erlassen, die Läden und Betriebe, die sich im Besitz von Juden befanden, geschlossen und die gemeinnützige Konfiszierung jüdischen Eigentums angekündigt hatte.
Nach mehr als einem halben Jahrhundert deutet sich die Historisierung des Holocaust an. Langsam erlischt die zeitgeschichtliche Wahrnehmung, die sich definitorisch an den Mythen der Zeitgenossen, den Wünschen nach Beschönigung, hartnäckiger Verdrehungen oder einseitigen Schuldzuweisungen reibt. So gesehen erscheint die Zeit reif für eine großangelegte, vielbändige Quellenedition. Ein solches Werk hätte die Geschichte der Ausgrenzung, Entrechtung und Enteignung der deutschen wie später der europäischen Juden breit und facettenreich zu dokumentieren, schließlich ihre Ghettoisierung, Deportation und Ermordung.
Uneinigkeit besteht noch über die Auswirkungen der Wannsee-Konferenz. Das gilt zum einen für die gern verbreitete Behauptung, am 20. Januar 1942 sei ein Programm in Gang gesetzt worden, das in seiner Hermetik weder durch die zunehmend schwierige Kriegslage, noch von den Öffentlichkeiten in Deutschland oder in den besetzten Ländern wesentlich hätte beeinflußt werden können. Aber gegen die Judendeportation konnte sich nicht nur das kleine, besetzte Dänemark wehren, auch Frankreich verweigerte die Auslieferung von drei Vierteln seiner jüdischen Bevölkerung. In Belgien wurden Zehntausende der Bedrohten versteckt - nicht aber in den Niederlanden. Rumänische Einheiten begingen entsetzliche Massaker an den Juden Transistriens, die Regierung verweigerte sich jedoch konsequent dem deutschen Drängen, die 250 000 Juden Zentralrumäniens "nach Osten abzuschieben". Ähnliches gilt für Bulgarien, das die Juden der annektierten Teile Thraziens und Mazedoniens auslieferte, nicht aber die des Kernlandes. Selbst die Slowakei weigerte sich seit 1943 standhaft, die letzten 18 000 Juden zu deportieren. In Griechenland bereiteten die nationalen Behörden der Deportation keine Schwierigkeiten, wohl aber die Militärverwaltung der durch das faschistische Italien besetzten Zone.
Die genannten Länder unterschieden sich in ihren religiösen Traditionen, ihren politischen und ökonomischen Zuständen extrem. Ihr (Teil-)Widerstand gegen die Deportation jüdischer Mitbürger läßt sich also nicht auf einen einfachen, volkspädagogisch bequemen Nenner bringen. Die zweite, damit verbundene, unentschiedene Frage lautet: Was wußten die Deutschen? In welchem Ausmaß haben sie durch ihre aktive oder klammheimliche Zustimmung zur Judenvernichtung mitgewirkt oder sie durch ihr Schweigen, ihre ostentative Gleichgültigkeit ermöglicht? Dazu sind grundlegende Untersuchungen noch nicht geschrieben. Die Arbeiten von Daniel Goldhagen, Eric Johnson oder Robert Gellately ziehen aus ihrem äußerst lückenhaften, nicht selten interpretatorisch strapazierten Quellenmaterial zu weitreichende Schlüsse.
Die im Vorangegangenen zitierten Autoren beschäftigen sich mit der Frage nach der Massenunterstützung nur sporadisch, etwa wenn aus dem zeitgenössischen Bericht eines Unteroffiziers zitiert wird, der im August 1942 per Bahn von Lemberg nach Lublin fuhr: "Wir sind am Lager Belzec vorbeigefahren", heißt es dort, und plötzlich habe eine Mitreisende gerufen: "Jetzt kommt es!" Dem Bericht zufolge lag "ein stark süßlicher Geruch" in der Luft. "Die stinken ja schon, sagte die Frau. Ach Quatsch, das ist das Gas, lachte der Bahnpolizist."
Liest man daneben die Feldpostbriefe Heinrich Bölls, dann zeigt sich ein Deutscher, der angewidert Zwangsarbeiter nahe Köln bewachte. Deren Lage erinnerte ihn an die eigene Arbeitsdienstzeit, ansonsten war er mit sich selbst beschäftigt. "Der Krieg saugt wirklich alle Kraft und allen Willen meines Geistes aus mir heraus", stellt er immer wieder fest, oder: ". . . ich verliere mein Hirn stückweise und gehe allmählich ganz unter in diesem grauen Brei des Wachvereins". Der Gelbe Stern, die Deportationen aus dem Rheinland interessieren ihn nicht, wer weiß, ob er davon gehört hat. "Meine einzige große Sorge ist vorläufig nur", notiert er am 28. November 1941, "ob ich nach Antwerpen komme oder nicht; alle die schönen Dinge, die ich mitbringen muß und will, Kaffee, Zigarren und Tuche, ach, wenn das alles sein könnte." Kein Gedanke darüber, wem all die schönen Sachen einmal gehört haben mögen.
Die offene Frage, die im Hinblick auf die Wannsee-Konferenz noch beantwortet werden muß, erscheint klar. Was wußten die Deutschen, was wollten sie wissen? Welche Abstumpfungen bewirkten der Krieg, der Bombenkrieg, die täglichen Sorgen? Mit welchen Gefühlen, mit welcher Selbstverständlichkeit profitierten sie von den Deportationen? Wie wirkte die Propaganda-Figur vom "jüdischen Krieg"? Warum tabuisierten selbst die geheimen "Meldungen aus dem Reich" das Morden? Die Ergebnisse solcher Untersuchung lassen sich heute schwer abschätzen. Und deshalb sollten sie unternommen werden. Schließlich befürchtete Heydrich selber Bedenken, Fürsprache und Gegenreaktionen, wenn er die Deportationen der über fünfundsechzigjährigen deutschen Juden und der Träger von Kriegsauszeichnungen in das "Altersghetto" Theresienstadt mit den Worten befürwortete: "Mit dieser zweckmäßigen Lösung werden mit einem Schlag die vielen Interventionen ausgeschaltet."
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"Dieter Pohl verdanken wir das Standardwerk über die Ermordung der ost-galizischen Juden. (...) In der Tat kommt Pohl mit seinen oft minutiösen Beschreibungen des Mordens und Deportierens dem nahe, was Daniel Goldhagen thematisiert hat." (DIE ZEIT, 4. Oktober 1996)