Produktdetails
- Politische Ideen
- Verlag: Akademie Verlag
- Seitenzahl: 350
- Abmessung: 245mm
- Gewicht: 850g
- ISBN-13: 9783050031538
- Artikelnr.: 06912421
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.1999Diese sogenannten Schriftsteller waren Rabauken
Herfried Münkler zeigt, wie humanistisches Geltungsbedürfnis die Eitelkeit der Nationen stimulierte
Die Gewalt ist die Mutter der Moderne. In der "Kultur der Renaissance in Italien" zeigt Jacob Burckhardt dies am Beispiel von Individualismus und Kosmopolitismus. In den bürgerlich nivellierten Stadtrepubliken, die im Vakuum zwischen Papst- und Kaisermacht aufblühten, sei die "Entwicklung des Individuums" dadurch forciert worden, daß jeder, der politisch wirken wollte, persönliches Charisma besitzen mußte. Wo Tyrannen herrschten, bündelten sie das Rampenlicht auf sich, drängten alle anderen ins Dunkel des Privaten und förderten so deren subjektive Kultur. Am stärksten aber hätten Verbannungen die Entdeckung des Selbst beschleunigt. Wer sie erlitt, habe sich kaum mehr als Glied von "Rasse, Volk, Partei, Korporation oder Familie" fühlen können. Auf sein reines Ich reduziert, habe er alles Umgebende aus der gleichen objektiven Distanz zu betrachten gelernt und ebendiese Pose zu seinem persönlichen Pathos gemacht.
Gelehrte wie Hans Baron, Felix Gilbert und andere deutsche Großbürger, die 1933 von der Tyrannei nivellierter Kleinbürger ins Exil getrieben wurden, hatten wenig Anlaß, diese Deutung zu bezweifeln. Solange ihre Generation in der internationalen Renaissance-Forschung den Ton angab, galten persönliche Kultur und Weltbürgertum als wichtigste Ziele humanistischen Denkens. Doch die seit 1989 gemachte Erfahrung, daß der Zerfall einer Universalmacht gerade nicht zu grenzenloser Offenheit führt, sondern zur jähen Wiedergeburt nationaler Ambitionen, mahne zur Revision solcher Klischees, meint der Berliner Politologe Herfried Münkler. So liest sich das Buch, das er gemeinsam mit zwei Mitgliedern einer von ihm geleiteten Projektgruppe schrieb, als provokanter Gegenentwurf: Nicht zerbrochen, sondern überhaupt erst aufgerichtet hätten die italienischen und deutschen Intellektuellen des vierzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts die nationalen Schranken. In einer fundamentalen politischen Krise - jenem Umbruch, den Münkler seit seinem "Machiavelli" (1982) immer wieder analysiert hat - hätten sie ihre Aufgabe darin gefunden, ihrer neu entstehenden Gesellschaft ein stabilisierendes "Wir"-Gefühl zu geben.
In fünf Kapiteln untersuchen die Autoren die Strategien, kraft derer dies geschah: Methoden der diskursiven Ein- und Ausgrenzung, der Sinngebung durch Erfindung von Gründungsmythen, Genealogien und "natürlichen" Gemeinsamkeiten. Sie tun dies anhand einer imposanten Fülle von Originaltexten und im intensiven Dialog mit der internationalen Forschungsliteratur. Gleichwohl gibt sich ihr informationsdichtes Kompendium nicht als Handbuch - Resümees fehlen -, sondern als "work in progress". Seine Stärke liegt in der Vielfalt der Details und der Dichte der Analysen, die vor allem eines erweisen: die proteische Vielgesichtigkeit des Phänomens.
Ausgangspunkt ist der neutrale, "polysemische" Nations-Begriff, wie er an den mittelalterlichen Universitäten herrschte, in dem Milieu also, das jeden Gelehrten entscheidend prägte. "Nationes" nannte man jene landsmannschaftliche Korporationen, denen jeder auswärtige Student beitreten mußte, weil er nur durch ihre Vermittlung geschäftsfähig war. Ins Gegenteil verkehrte sich ihre integrative Funktion erstmals 1409, als der böhmische König Wenzel in interne Machtkämpfe an der Universität Prag eingriff. Auf Bitten der kleinen "natio Bohemica", die gegen die drei großen deutschen "nationes" die Oberhand gewinnen wollte, faßte er diese zu einer einzigen "natio" zusammen. Dieser Willkürakt erhob die Muttersprache, ein im lateinischen Universitätsalltag bislang belangloses Merkmal, zum Kern nationaler Identität. Die Umdefinition gelang, weil die Hochschule sich auf Druck der Regierung der Gesellschaft und ihren Sprachregelungen öffnen mußte: weil sie deren explosive Unterscheidungskriterien aufgezwungen bekam.
Ähnliche Konflikte befeuerten die "Erfindung der italienischen Nation in den Schriften der Humanisten". Minutiös zeigen Münkler und seine Co-Autorin Kathrin Mayer, wie zunächst die regierenden Parteien einzelner Städte danach strebten, ihrer Kommune durch "mythisch-genealogische Ansippung" eine möglichst edle Abkunft zu konstruieren und innere Gegner aus ihr herauszudefinieren. Giovanni Villani etwa behauptete um 1340, daß die Bewohner seiner Heimatstadt Florenz von zwei verschiedenen Völkern abstammten: von edlen Römern (zu deren Nachfahren er die Mitglieder seiner Partei zählte) und von Immigranten auf Fiesole, die seit jeher mit fremden Tyrannen paktiert hätten.
Solchen Konfrontationen diente auch die Idee einer gesamtitalienischen Solidarität, an die erstmals Cola di Rienzo - 1347 selbsternannter Kaiser des "Heiligen Italien" - und der weniger tragisch endende Petrarca appellierten: Alle "Italiener" sollten zusammenstehen, um das gemeinsame "Vaterland" von den "Barbaren" zu befreien. Angesichts der damaligen Realitäten eine bizarre Formel. Daß sie gleichwohl mächtig wirkte - bis in Machiavellis "Principe" von 1513 -, lag am unerschöpflichen Strom fremder Söldnerheere in Italien, aber auch daran, daß man als "Barbaren" wahlweise die Franzosen, die Deutschen oder überhaupt jeden Gegner des eigenen Gemeinwesens einsetzen konnte. Der Florentiner Kanzler Coluccio Salutati subsumierte sogar Papst Gregor XI. darunter, seit dieser die Arnostadt mit ausländischer Hilfe bekriegte. Stand Florenz im Namen der "libertas Italiae" damals sogar mit ihrer Erzfeindin Mailand im Bund, so schloß man die Lombarden rasch wieder aus der italienischen "Nation" aus, als die Allianz wenig später zerbrach. Wenn man im fünfzehnten Jahrhundert für "Italien" geschwärmt habe, sei dies meist nur geschehen, "um einen anderen, gleichfalls italienischen Staat zu kränken", schrieb einst Burckhardt. Münklers Beispiele geben ihm recht.
Von Italien aus kam der "Nations"-Diskurs zu den Deutschen. Als wichtigsten Vermittler präsentieren Münkler und Hans Grünberger, Co-Autor der drei "Deutschland"-Kapitel, den 1458 zum Papst gekrönten Deutschland-Experten der Kurie, Enea Silvio Piccolomini. Er machte nicht nur die "Germania" des Tacitus im Reich bekannt, sondern beruhigte auch dessen Intellektuelle: Zwar besäßen die Deutschen nach wie vor die darin geschilderte Kriegstüchtigkeit und Sittenreinheit - was sie zu Recht zu Erben des Römischen Reiches mache -, sie seien aber längst keine Barbaren mehr, sondern kultivierte Nachfahren Karls des Großen, des deutschen Helden. Absichtslos freilich war solches Lob nicht. Einerseits sollte es die Klagen über Roms Geldforderungen entkräften, andererseits die Einwände der Reichsfürsten gegen den vom Papst geplanten Türkenkreuzzug schwächen.
Doch man griff es um so lieber auf, als man es durchaus antipäpstlich wenden konnte: Wenn die Deutschen das Reich ihrer eigenen Tüchtigkeit verdankten, waren sie Rom nichts schuldig. Wenn sie ihre Sprache, Sitten und Tugenden rein bewahrt hatten - weil "Germanien", wie der Tübinger Hofhumanist Heinrich Bebel ausführte, anders als Italien nie von fremden Eroberern besetzt worden war -, durften sie sich den kultivierten, aber dekadenten Romanen überlegen wissen. Dieser trotzig-kompensatorische Stolz auf die "deutsche Freiheit" sollte in Arminius Fleisch geworden sein - nicht nur bei Ulrich von Hutten (dessen Bedeutung, wie Münkler zeigt, in der Forschung kraß überschätzt wird), sondern bei Publizisten aller politischen Couleurs. Dem Sieger der Varus-Schlacht dichtete man Ahnenreihen an, die bis in biblisch-mythische Urzeiten zurückreichten und über Karl den Großen in die Gegenwart führten. Daß man um dessen Abstammung hart konkurrierte - der Franke Trithemius etwa reklamierte ihn als Franken, der Bayer Aventinus als Bayern -, zeigt zugleich das zentrale Problem frühneuzeitlicher deutscher Nationsbildung: "nationales" Selbstgefühl, Reichspatriotismus und Stammesstolz kamen selten zur Deckung. "Deutsche" Identität blieb mehrsträngig.
Daher warnt Münkler vor falschen Eindeutigkeiten. Sowenig er im frühen "Nations"-Diskurs ein Bewußtwerden tatsächlich vorhandener "natürlicher" Gemeinsamkeiten sehen möchte, sowenig hört er in ihm eine Overtüre nationalistischen Größenwahns. Keine zielstrebige Konstruktion kollektiver Identität konstatiert er, sondern tastende Reaktionen auf deren Fehlen: unkoordinierte Verkettungen zwischen realen Veränderungen und Veränderungsängsten, zwischen politischen Visionen und ideologischer Gewalt. Die Erfindung der "Nation" fand in den Köpfen der Intellektuellen statt. Aber nicht nur dort und meist anders als geplant.
GERRIT WALTHER
Herfried Münkler, Hans Grünberger, Kathrin Mayer: "Nationenbildung". Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Politische Ideen, Band 8. Akademie Verlag, Berlin 1998. 350 S., geb., 120,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herfried Münkler zeigt, wie humanistisches Geltungsbedürfnis die Eitelkeit der Nationen stimulierte
Die Gewalt ist die Mutter der Moderne. In der "Kultur der Renaissance in Italien" zeigt Jacob Burckhardt dies am Beispiel von Individualismus und Kosmopolitismus. In den bürgerlich nivellierten Stadtrepubliken, die im Vakuum zwischen Papst- und Kaisermacht aufblühten, sei die "Entwicklung des Individuums" dadurch forciert worden, daß jeder, der politisch wirken wollte, persönliches Charisma besitzen mußte. Wo Tyrannen herrschten, bündelten sie das Rampenlicht auf sich, drängten alle anderen ins Dunkel des Privaten und förderten so deren subjektive Kultur. Am stärksten aber hätten Verbannungen die Entdeckung des Selbst beschleunigt. Wer sie erlitt, habe sich kaum mehr als Glied von "Rasse, Volk, Partei, Korporation oder Familie" fühlen können. Auf sein reines Ich reduziert, habe er alles Umgebende aus der gleichen objektiven Distanz zu betrachten gelernt und ebendiese Pose zu seinem persönlichen Pathos gemacht.
Gelehrte wie Hans Baron, Felix Gilbert und andere deutsche Großbürger, die 1933 von der Tyrannei nivellierter Kleinbürger ins Exil getrieben wurden, hatten wenig Anlaß, diese Deutung zu bezweifeln. Solange ihre Generation in der internationalen Renaissance-Forschung den Ton angab, galten persönliche Kultur und Weltbürgertum als wichtigste Ziele humanistischen Denkens. Doch die seit 1989 gemachte Erfahrung, daß der Zerfall einer Universalmacht gerade nicht zu grenzenloser Offenheit führt, sondern zur jähen Wiedergeburt nationaler Ambitionen, mahne zur Revision solcher Klischees, meint der Berliner Politologe Herfried Münkler. So liest sich das Buch, das er gemeinsam mit zwei Mitgliedern einer von ihm geleiteten Projektgruppe schrieb, als provokanter Gegenentwurf: Nicht zerbrochen, sondern überhaupt erst aufgerichtet hätten die italienischen und deutschen Intellektuellen des vierzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts die nationalen Schranken. In einer fundamentalen politischen Krise - jenem Umbruch, den Münkler seit seinem "Machiavelli" (1982) immer wieder analysiert hat - hätten sie ihre Aufgabe darin gefunden, ihrer neu entstehenden Gesellschaft ein stabilisierendes "Wir"-Gefühl zu geben.
In fünf Kapiteln untersuchen die Autoren die Strategien, kraft derer dies geschah: Methoden der diskursiven Ein- und Ausgrenzung, der Sinngebung durch Erfindung von Gründungsmythen, Genealogien und "natürlichen" Gemeinsamkeiten. Sie tun dies anhand einer imposanten Fülle von Originaltexten und im intensiven Dialog mit der internationalen Forschungsliteratur. Gleichwohl gibt sich ihr informationsdichtes Kompendium nicht als Handbuch - Resümees fehlen -, sondern als "work in progress". Seine Stärke liegt in der Vielfalt der Details und der Dichte der Analysen, die vor allem eines erweisen: die proteische Vielgesichtigkeit des Phänomens.
Ausgangspunkt ist der neutrale, "polysemische" Nations-Begriff, wie er an den mittelalterlichen Universitäten herrschte, in dem Milieu also, das jeden Gelehrten entscheidend prägte. "Nationes" nannte man jene landsmannschaftliche Korporationen, denen jeder auswärtige Student beitreten mußte, weil er nur durch ihre Vermittlung geschäftsfähig war. Ins Gegenteil verkehrte sich ihre integrative Funktion erstmals 1409, als der böhmische König Wenzel in interne Machtkämpfe an der Universität Prag eingriff. Auf Bitten der kleinen "natio Bohemica", die gegen die drei großen deutschen "nationes" die Oberhand gewinnen wollte, faßte er diese zu einer einzigen "natio" zusammen. Dieser Willkürakt erhob die Muttersprache, ein im lateinischen Universitätsalltag bislang belangloses Merkmal, zum Kern nationaler Identität. Die Umdefinition gelang, weil die Hochschule sich auf Druck der Regierung der Gesellschaft und ihren Sprachregelungen öffnen mußte: weil sie deren explosive Unterscheidungskriterien aufgezwungen bekam.
Ähnliche Konflikte befeuerten die "Erfindung der italienischen Nation in den Schriften der Humanisten". Minutiös zeigen Münkler und seine Co-Autorin Kathrin Mayer, wie zunächst die regierenden Parteien einzelner Städte danach strebten, ihrer Kommune durch "mythisch-genealogische Ansippung" eine möglichst edle Abkunft zu konstruieren und innere Gegner aus ihr herauszudefinieren. Giovanni Villani etwa behauptete um 1340, daß die Bewohner seiner Heimatstadt Florenz von zwei verschiedenen Völkern abstammten: von edlen Römern (zu deren Nachfahren er die Mitglieder seiner Partei zählte) und von Immigranten auf Fiesole, die seit jeher mit fremden Tyrannen paktiert hätten.
Solchen Konfrontationen diente auch die Idee einer gesamtitalienischen Solidarität, an die erstmals Cola di Rienzo - 1347 selbsternannter Kaiser des "Heiligen Italien" - und der weniger tragisch endende Petrarca appellierten: Alle "Italiener" sollten zusammenstehen, um das gemeinsame "Vaterland" von den "Barbaren" zu befreien. Angesichts der damaligen Realitäten eine bizarre Formel. Daß sie gleichwohl mächtig wirkte - bis in Machiavellis "Principe" von 1513 -, lag am unerschöpflichen Strom fremder Söldnerheere in Italien, aber auch daran, daß man als "Barbaren" wahlweise die Franzosen, die Deutschen oder überhaupt jeden Gegner des eigenen Gemeinwesens einsetzen konnte. Der Florentiner Kanzler Coluccio Salutati subsumierte sogar Papst Gregor XI. darunter, seit dieser die Arnostadt mit ausländischer Hilfe bekriegte. Stand Florenz im Namen der "libertas Italiae" damals sogar mit ihrer Erzfeindin Mailand im Bund, so schloß man die Lombarden rasch wieder aus der italienischen "Nation" aus, als die Allianz wenig später zerbrach. Wenn man im fünfzehnten Jahrhundert für "Italien" geschwärmt habe, sei dies meist nur geschehen, "um einen anderen, gleichfalls italienischen Staat zu kränken", schrieb einst Burckhardt. Münklers Beispiele geben ihm recht.
Von Italien aus kam der "Nations"-Diskurs zu den Deutschen. Als wichtigsten Vermittler präsentieren Münkler und Hans Grünberger, Co-Autor der drei "Deutschland"-Kapitel, den 1458 zum Papst gekrönten Deutschland-Experten der Kurie, Enea Silvio Piccolomini. Er machte nicht nur die "Germania" des Tacitus im Reich bekannt, sondern beruhigte auch dessen Intellektuelle: Zwar besäßen die Deutschen nach wie vor die darin geschilderte Kriegstüchtigkeit und Sittenreinheit - was sie zu Recht zu Erben des Römischen Reiches mache -, sie seien aber längst keine Barbaren mehr, sondern kultivierte Nachfahren Karls des Großen, des deutschen Helden. Absichtslos freilich war solches Lob nicht. Einerseits sollte es die Klagen über Roms Geldforderungen entkräften, andererseits die Einwände der Reichsfürsten gegen den vom Papst geplanten Türkenkreuzzug schwächen.
Doch man griff es um so lieber auf, als man es durchaus antipäpstlich wenden konnte: Wenn die Deutschen das Reich ihrer eigenen Tüchtigkeit verdankten, waren sie Rom nichts schuldig. Wenn sie ihre Sprache, Sitten und Tugenden rein bewahrt hatten - weil "Germanien", wie der Tübinger Hofhumanist Heinrich Bebel ausführte, anders als Italien nie von fremden Eroberern besetzt worden war -, durften sie sich den kultivierten, aber dekadenten Romanen überlegen wissen. Dieser trotzig-kompensatorische Stolz auf die "deutsche Freiheit" sollte in Arminius Fleisch geworden sein - nicht nur bei Ulrich von Hutten (dessen Bedeutung, wie Münkler zeigt, in der Forschung kraß überschätzt wird), sondern bei Publizisten aller politischen Couleurs. Dem Sieger der Varus-Schlacht dichtete man Ahnenreihen an, die bis in biblisch-mythische Urzeiten zurückreichten und über Karl den Großen in die Gegenwart führten. Daß man um dessen Abstammung hart konkurrierte - der Franke Trithemius etwa reklamierte ihn als Franken, der Bayer Aventinus als Bayern -, zeigt zugleich das zentrale Problem frühneuzeitlicher deutscher Nationsbildung: "nationales" Selbstgefühl, Reichspatriotismus und Stammesstolz kamen selten zur Deckung. "Deutsche" Identität blieb mehrsträngig.
Daher warnt Münkler vor falschen Eindeutigkeiten. Sowenig er im frühen "Nations"-Diskurs ein Bewußtwerden tatsächlich vorhandener "natürlicher" Gemeinsamkeiten sehen möchte, sowenig hört er in ihm eine Overtüre nationalistischen Größenwahns. Keine zielstrebige Konstruktion kollektiver Identität konstatiert er, sondern tastende Reaktionen auf deren Fehlen: unkoordinierte Verkettungen zwischen realen Veränderungen und Veränderungsängsten, zwischen politischen Visionen und ideologischer Gewalt. Die Erfindung der "Nation" fand in den Köpfen der Intellektuellen statt. Aber nicht nur dort und meist anders als geplant.
GERRIT WALTHER
Herfried Münkler, Hans Grünberger, Kathrin Mayer: "Nationenbildung". Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Politische Ideen, Band 8. Akademie Verlag, Berlin 1998. 350 S., geb., 120,- DM.
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