Als Josef Winkler den Alfred-Döblin-Preis für Natura morta erhielt, sagte Günter Grass: »Josef Winkler ist jemand, der nicht auch schreibt, sondern der existiert, um zu schreiben. Das merkt man der Dichte seiner Prosa an in all den Büchern, die ich kenne, und auch dieser neue Text bestätigt das, diese Stärke.«
Schon bald nach Erscheinen entwickelte sich die 'römische Novelle' zu einem erstaunlichen Medien- und Publikumserfolg.
»Feigen, frische Feigen!« ruft vor den Toren des Vatikans eine dicke Römerin den vorbeigehenden Pilgern zu, neben ihr steht ein kahlgeschorener Mann, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Mafia. Made in Italy« trägt. Aufdringlich, geradezu überwältigend fühlbar, riechbar, hör- und sehbar beschreibt Josef Winkler in seiner »römischen Novelle« die Stadt, wo sie am lebendigsten ist: wochentags das Markttreiben auf der Piazza Vittorio Emanuele; sonntags das Warten und Lungern vor dem Vatikan.
Unter den Wartenden befinden sich die Feigenverkäuferin und Piccoletto, ihr schöner Sohn, der sonst für einen Fischhändler auf der Piazza Vittorio Emanuele arbeitet. Wie diese Welt - einen endlosen Augenblick lang - in den Sog von Piccolettos Schicksal gerissen wird, ist atemberaubend.
Schon bald nach Erscheinen entwickelte sich die 'römische Novelle' zu einem erstaunlichen Medien- und Publikumserfolg.
»Feigen, frische Feigen!« ruft vor den Toren des Vatikans eine dicke Römerin den vorbeigehenden Pilgern zu, neben ihr steht ein kahlgeschorener Mann, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Mafia. Made in Italy« trägt. Aufdringlich, geradezu überwältigend fühlbar, riechbar, hör- und sehbar beschreibt Josef Winkler in seiner »römischen Novelle« die Stadt, wo sie am lebendigsten ist: wochentags das Markttreiben auf der Piazza Vittorio Emanuele; sonntags das Warten und Lungern vor dem Vatikan.
Unter den Wartenden befinden sich die Feigenverkäuferin und Piccoletto, ihr schöner Sohn, der sonst für einen Fischhändler auf der Piazza Vittorio Emanuele arbeitet. Wie diese Welt - einen endlosen Augenblick lang - in den Sog von Piccolettos Schicksal gerissen wird, ist atemberaubend.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2001Die Früchte und die Körper
Am Ufer des Textflusses: Josef Winkler versetzt das pralle Leben der Moderne in eine vergilische Vorzeit · Von Stephan Wackwitz
Das wichtigste Stilelement der Novelle "Natura morta" scheint Josef Winkler Kafkas Erzählung "Der Jäger Gracchus" entlehnt zu haben. "Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf den See hinaus" - so beginnt Kafkas Gespenstergeschichte über den auf der Fahrt über den Acheron vom Kurs abgekommenen Jäger. Einfache Sätze: Subjekt - Prädikat - Adverbiale - Objekt. Diese Struktur kommt in erzählender Prosa über längere Strecken kaum vor, weil sie für konventionelle Stilerwartungen zu starr ist. Bei Kafka und Winkler lernt man, daß sie, konsequent angewendet, nicht bloß etwas Starrendes, sondern entschieden etwas Unheilstarrendes hat. Offenbar muß man solche Sätze nur oft genug aneinanderreihen, um die Erwartung von etwas Fürchterlichem aus einem Text hervortreten zu lassen.
In Winklers Novelle ist der erste Abschnitt des "Jäger Gracchus", inspiriert vielleicht von Verfahrensweisen der minimal music, sozusagen auf Buchlänge ausgeschrieben. Monumentalisierung entsteht durch Minimierung: "Vor der rollenden Ubahntreppe kniete ein verschmutzter, einen Pappdeckel mit der Aufschrift Ho fame! Non ho una casa! haltender Bettler. Zu seinen nackten Füßen lag ein großes Heiligenbild von Guido Reni, auf dem der Erzengel Michael mit einem Schwert auf den am Rande der Hölle liegenden Dämon niedersticht, der die Gesichtszüge des Kardinals Pamphili, des späteres Papstes Innocenz X., trug. Neben dem Heiligenbild, auf dem ein paar zerknitterte Lirescheine lagen, flackerte eine Kerze in einem roten Plastikbehälter. Einer der drei über die rollende Ubahntreppe kollernden Granatäpfel sprang auseinander, rote Granatäpfelkerne rieselten über die Betonstufen hinunter."
Weil es unseren stilistischen Erwartungen widerspricht, daß es - wie gegenstandsreich und bunt auch immer - seitenlang im Text so weitergeht; weil es unserem Stilempfinden zufolge "so doch nicht weitergehen kann", haben wir den zu Beginn des letzten Drittels der Novelle eintretenden Unfalltod eines schönen und verwahrlosten Halbwüchsigen, des jungen Piccoletto, längst erwartet, vielleicht insgeheim sogar ersehnt. Als "unerhörte Begebenheit" wird das schreckliche Ereignis aus dem ungerührt weitererzählenden Textfluß vor unsere Füße gespült: "In weitem Bogen flog die Pizza auf den Asphalt. Der Junge wurde mehr als zehn Meter von der Feuerwehr mitgeschleift. Nur mehr mit einer gelben Unterhose und dem zerrissenen Leibchen bekleidet, auf dem die Beatles abgebildet waren, lag Piccoletto rücklings auf dem Asphalt. Der Regen platschte auf seinen Körper, auf sein Gesicht, auf seine offenen, unbeweglichen Augen und rann in seinen Mund hinein."
In einer merkwürdigen Rückwendung beansprucht der Modernismus in Winklers Buch eine neue Klassizität. Allein die kantilenenartig schwingenden Versbögen der von Ingeborg Bachmann übersetzten Gedichte Guiseppe Ungarettis, die Winkler als Motti über den Eingang der Kurzkapitel seiner Novelle gesetzt hat, vertreten in ihr so etwas wie eine Melodie; fast hat man den Eindruck, daß diese Kapiteleinteilung den geheimen Zweck verfolgt, dieses melodiöse Zitieren überhaupt erst zu ermöglichen. Der Text selbst aber besteht aus einer stoßartig immer wieder und immer wieder gleich ansetzenden Beschreibung einer bis an die Ekelgrenze und über sie hinaus genau beobachteten Straßen- und Marktszenerie. Die Früchte und die Körper, die halblebendigen, toten, verwesenden und auf den Müll geworfenen Leiber der verkauften, geschlachteten, gefesselten Tiere. Die Münder, die Haut und die Geschlechtsteile der Mädchen und der Jungen, der alten Männer, der Frauen. Die Kühle der Kirchen, in die man beiläufig eintritt, bevor man wieder gierig ist, sich langweilt, masturbiert, Geschäfte macht, Tiere quält.
Es ist gleichgültig, an welcher Stelle man diesen Band aufschlägt. Winklers Text verwandelt das Chaos dieser ärmlichen, erotischen, grausamen und romantischen Straßenszenen auf jeder der 102 Seiten mit einer bewundernswürdigen technischen Kunstfertigkeit in Stil. Er offenbart dabei nicht nur ein sehr klassisches, wenn auch den Verfahrensweisen der Moderne verpflichtetes Verständnis des mit diesem Wort bezeichneten, zugleich ästhetischen wie ethischen Formideals, sondern auch eine dichterische und etwas altmodische Vorstellung davon, was man gemeinhin "das pralle Leben" nennt. In Winklers Novelle, um so deutlicher, je weiter sie sich ihrem Ende nähert, werden das moderne Leben im Slum und am Straßenrand, der technisierte Tod von Hand eines unbekannten Autofahrers in eine vergilische Vorzeit versetzt. Der tote Piccoletto verwandelt sich in den schönen toten Hirten der 5. Ekloge - den grausam tilgte der Tod, den Daphnis beweinten klagend die Nymphen -, auch wenn die Nymphen und Hirten bloß erscheinen als Piccolettos Arbeitgeber, der dicke, stets unrasierte Fischhändler.
Beim Begräbnis des Jungen sehen wir ihn als den eigentlich Leidtragenden. "Frocio, mit Psychopharmaka ruhiggestellt, war rasiert und hatte tiefe Augenschatten, er trug ein kurzärmeliges Hemd mit blauen und gelben Schmetterlingen. In seiner Hand hielt er einen Strauß weißen, stark duftenden Ginster." Frocio, von dem uns Lesern nur ein paar obszöne Gesten und ruppige Zärtlichkeiten gegenüber dem lebenden Piccoletto in Erinnerung sind, wächst nach dem tödlichen Unfall des Jungen in die Rolle der eigentlichen, der nach Schillers berühmter Unterscheidung sentimentalischen Hauptfigur hinein, so wie in Vergils Hirtengedicht nicht der tote Daphnis das eigentliche Thema ist, sondern die reflektierenden, klagenden, singenden Hirten Vergils, die ja in Wirklichkeit bukolisch verkleidete Großstädter sind.
So ist auch Winklers Frocio ein Held zweiter Ordnung. Ihn, nicht seinen unbegreiflich schönen und abstoßend vulgären geopferten heidnischen Engel, verstehen wir am Schluß dann plötzlich und fühlen uns ihm nah. Nicht daß es Josef Winkler gelingt, der literarischen Moderne antikisierende Wirkungen abzugewinnen, ist die große Leistung dieses schönen und erstaunlichen kleinen Buches, sondern daß es in dieser scheinhaften Hirtenwelt nicht zu bleiben beansprucht und entschlossen in die problematischen Verhältnisse und reflektierenden Seelenverfassungen der Moderne zurückgekehrt ist.
Josef Winkler: "Natura morta". Eine römische Novelle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 102 Seiten, geb., 32,- DM.
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Am Ufer des Textflusses: Josef Winkler versetzt das pralle Leben der Moderne in eine vergilische Vorzeit · Von Stephan Wackwitz
Das wichtigste Stilelement der Novelle "Natura morta" scheint Josef Winkler Kafkas Erzählung "Der Jäger Gracchus" entlehnt zu haben. "Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf den See hinaus" - so beginnt Kafkas Gespenstergeschichte über den auf der Fahrt über den Acheron vom Kurs abgekommenen Jäger. Einfache Sätze: Subjekt - Prädikat - Adverbiale - Objekt. Diese Struktur kommt in erzählender Prosa über längere Strecken kaum vor, weil sie für konventionelle Stilerwartungen zu starr ist. Bei Kafka und Winkler lernt man, daß sie, konsequent angewendet, nicht bloß etwas Starrendes, sondern entschieden etwas Unheilstarrendes hat. Offenbar muß man solche Sätze nur oft genug aneinanderreihen, um die Erwartung von etwas Fürchterlichem aus einem Text hervortreten zu lassen.
In Winklers Novelle ist der erste Abschnitt des "Jäger Gracchus", inspiriert vielleicht von Verfahrensweisen der minimal music, sozusagen auf Buchlänge ausgeschrieben. Monumentalisierung entsteht durch Minimierung: "Vor der rollenden Ubahntreppe kniete ein verschmutzter, einen Pappdeckel mit der Aufschrift Ho fame! Non ho una casa! haltender Bettler. Zu seinen nackten Füßen lag ein großes Heiligenbild von Guido Reni, auf dem der Erzengel Michael mit einem Schwert auf den am Rande der Hölle liegenden Dämon niedersticht, der die Gesichtszüge des Kardinals Pamphili, des späteres Papstes Innocenz X., trug. Neben dem Heiligenbild, auf dem ein paar zerknitterte Lirescheine lagen, flackerte eine Kerze in einem roten Plastikbehälter. Einer der drei über die rollende Ubahntreppe kollernden Granatäpfel sprang auseinander, rote Granatäpfelkerne rieselten über die Betonstufen hinunter."
Weil es unseren stilistischen Erwartungen widerspricht, daß es - wie gegenstandsreich und bunt auch immer - seitenlang im Text so weitergeht; weil es unserem Stilempfinden zufolge "so doch nicht weitergehen kann", haben wir den zu Beginn des letzten Drittels der Novelle eintretenden Unfalltod eines schönen und verwahrlosten Halbwüchsigen, des jungen Piccoletto, längst erwartet, vielleicht insgeheim sogar ersehnt. Als "unerhörte Begebenheit" wird das schreckliche Ereignis aus dem ungerührt weitererzählenden Textfluß vor unsere Füße gespült: "In weitem Bogen flog die Pizza auf den Asphalt. Der Junge wurde mehr als zehn Meter von der Feuerwehr mitgeschleift. Nur mehr mit einer gelben Unterhose und dem zerrissenen Leibchen bekleidet, auf dem die Beatles abgebildet waren, lag Piccoletto rücklings auf dem Asphalt. Der Regen platschte auf seinen Körper, auf sein Gesicht, auf seine offenen, unbeweglichen Augen und rann in seinen Mund hinein."
In einer merkwürdigen Rückwendung beansprucht der Modernismus in Winklers Buch eine neue Klassizität. Allein die kantilenenartig schwingenden Versbögen der von Ingeborg Bachmann übersetzten Gedichte Guiseppe Ungarettis, die Winkler als Motti über den Eingang der Kurzkapitel seiner Novelle gesetzt hat, vertreten in ihr so etwas wie eine Melodie; fast hat man den Eindruck, daß diese Kapiteleinteilung den geheimen Zweck verfolgt, dieses melodiöse Zitieren überhaupt erst zu ermöglichen. Der Text selbst aber besteht aus einer stoßartig immer wieder und immer wieder gleich ansetzenden Beschreibung einer bis an die Ekelgrenze und über sie hinaus genau beobachteten Straßen- und Marktszenerie. Die Früchte und die Körper, die halblebendigen, toten, verwesenden und auf den Müll geworfenen Leiber der verkauften, geschlachteten, gefesselten Tiere. Die Münder, die Haut und die Geschlechtsteile der Mädchen und der Jungen, der alten Männer, der Frauen. Die Kühle der Kirchen, in die man beiläufig eintritt, bevor man wieder gierig ist, sich langweilt, masturbiert, Geschäfte macht, Tiere quält.
Es ist gleichgültig, an welcher Stelle man diesen Band aufschlägt. Winklers Text verwandelt das Chaos dieser ärmlichen, erotischen, grausamen und romantischen Straßenszenen auf jeder der 102 Seiten mit einer bewundernswürdigen technischen Kunstfertigkeit in Stil. Er offenbart dabei nicht nur ein sehr klassisches, wenn auch den Verfahrensweisen der Moderne verpflichtetes Verständnis des mit diesem Wort bezeichneten, zugleich ästhetischen wie ethischen Formideals, sondern auch eine dichterische und etwas altmodische Vorstellung davon, was man gemeinhin "das pralle Leben" nennt. In Winklers Novelle, um so deutlicher, je weiter sie sich ihrem Ende nähert, werden das moderne Leben im Slum und am Straßenrand, der technisierte Tod von Hand eines unbekannten Autofahrers in eine vergilische Vorzeit versetzt. Der tote Piccoletto verwandelt sich in den schönen toten Hirten der 5. Ekloge - den grausam tilgte der Tod, den Daphnis beweinten klagend die Nymphen -, auch wenn die Nymphen und Hirten bloß erscheinen als Piccolettos Arbeitgeber, der dicke, stets unrasierte Fischhändler.
Beim Begräbnis des Jungen sehen wir ihn als den eigentlich Leidtragenden. "Frocio, mit Psychopharmaka ruhiggestellt, war rasiert und hatte tiefe Augenschatten, er trug ein kurzärmeliges Hemd mit blauen und gelben Schmetterlingen. In seiner Hand hielt er einen Strauß weißen, stark duftenden Ginster." Frocio, von dem uns Lesern nur ein paar obszöne Gesten und ruppige Zärtlichkeiten gegenüber dem lebenden Piccoletto in Erinnerung sind, wächst nach dem tödlichen Unfall des Jungen in die Rolle der eigentlichen, der nach Schillers berühmter Unterscheidung sentimentalischen Hauptfigur hinein, so wie in Vergils Hirtengedicht nicht der tote Daphnis das eigentliche Thema ist, sondern die reflektierenden, klagenden, singenden Hirten Vergils, die ja in Wirklichkeit bukolisch verkleidete Großstädter sind.
So ist auch Winklers Frocio ein Held zweiter Ordnung. Ihn, nicht seinen unbegreiflich schönen und abstoßend vulgären geopferten heidnischen Engel, verstehen wir am Schluß dann plötzlich und fühlen uns ihm nah. Nicht daß es Josef Winkler gelingt, der literarischen Moderne antikisierende Wirkungen abzugewinnen, ist die große Leistung dieses schönen und erstaunlichen kleinen Buches, sondern daß es in dieser scheinhaften Hirtenwelt nicht zu bleiben beansprucht und entschlossen in die problematischen Verhältnisse und reflektierenden Seelenverfassungen der Moderne zurückgekehrt ist.
Josef Winkler: "Natura morta". Eine römische Novelle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 102 Seiten, geb., 32,- DM.
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