Steckt womöglich ein grundsätzlicher Fehler im Konzept des Naturschutzes? Natur ist ihrer Natur nach veränderlich. Das aktive Konservieren eines bestimmten Zustands stellt daher auch einen Eingriff in den Naturhaushalt dar. Viele Eingriffe haben "mehr Natur" geschaffen, als vorher vorhanden war. Städte sind artenreicher als manche Flächen in der "freien Natur". Viele Arten breiten sich aus, andere schwinden und verschwinden. Trotz Naturschutz! Fremde Arten siedeln sich an. Der Naturschutz will sie nicht haben, schützt aber viele Arten, die Fremdlinge von früher sind. Das momentane Vorkommen seltener Arten wird als Waffe gegen Baumaßnahmen benutzt. Siedeln sich solche aber auf bebautem Gelände an, gibt es dafür keine Kompensation. Der Naturschutz zieht über "Ausgleichsmaßnahmen" zusätzliche Steuern ein und wirkt mit seinen Vorbehalten oder Einschränkungen als massives Hindernis für die Forschung. Kurz: Josef H. Reichholf analysiert die gegenwärtige Situation und entwirft einen"zukunftsfähigen Naturschutz".
»Die Natur braucht Schutz. Aber geschützt werden soll sie möglichst woanders, nicht hier! Warum hat die gute Sache Naturschutz ein so schlechtes Image? Einschränkungen werden doch in vielen Bereichen akzeptiert. Im Naturschutz hält man sie hingegen für überzogen, unnötig oder wirtschaftlich nicht hinnehmbar. Wem also nützt der Naturschutz? Der Natur selbst offenbar gar nicht immer so sehr, denn sie verharrt nicht im Zustand, in dem sie in Schutz genommen wurde.«
»Die Natur braucht Schutz. Aber geschützt werden soll sie möglichst woanders, nicht hier! Warum hat die gute Sache Naturschutz ein so schlechtes Image? Einschränkungen werden doch in vielen Bereichen akzeptiert. Im Naturschutz hält man sie hingegen für überzogen, unnötig oder wirtschaftlich nicht hinnehmbar. Wem also nützt der Naturschutz? Der Natur selbst offenbar gar nicht immer so sehr, denn sie verharrt nicht im Zustand, in dem sie in Schutz genommen wurde.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2010Den Naturhaushalt kennen wir nicht
Naturschutz liegt allen am Herzen. Doch ihn sinnvoll zu begründen und zu praktizieren ist eine andere Sache. Josef Reichholf geht mit der verbreiteten Trivialökologie hart ins Gericht.
Im Festsaal des Frankfurter Senckenbergmuseums war das Wohlwollen von Minute zu Minute gewachsen. Es füllte den Raum wie eine dichte, fast greifbare Wolke aus. Warum sollte man auch nicht eins sein mit den Referenten aus Wissenschaft, Politik und Verbänden, die nach Frankfurt am Main gekommen waren, um den Naturschutz zu preisen. Doch dann wurde die Idylle gestört, und zwar durch wissenschaftlich fundierte und daher von vielen als besonders unangenehm empfundene Fragen an den Naturschutz. Sie kamen von Josef Reichholf. Der Münchener Ökologe und Evolutionsbiologe entlarvte etliche der im Naturschutz geläufigen Sichtweisen als "Trivialökologie", deckte Widersprüche auf und fragte ketzerisch, wie denn eigentlich jene Natur beschaffen sein solle, die man für schützenswert erachte.
Das war Anfang 1995, in jenem Jahr, das der Europarat zum europäischen Naturschutzjahr ausgerufen hatte. Inzwischen hat sich Reichholf immer wieder zu Wort gemeldet. Er spricht aus, was anderen insgeheim vielleicht ebenfalls als Ungereimtheit im Naturschutz aufstößt, das sie aber der guten Sache wegen zu schlucken bereit sind. Seine Kritik, so schmerzhaft sie manchen Naturschützer trifft, ist aber durch und durch konstruktiv. Schließlich hat Reichholf mehr als dreißig Jahre lang Naturschutz an der Technischen Universität München gelehrt, war für die Weltnaturschutzunion IUCN und den WWF tätig und ist jetzt "Botschafter" der Wildtier-Stiftung.
Der Naturschutz befindet sich immer noch in einer Krise. Das steht für Reichholf außer Zweifel, wie sein neues Buch zeigt. Die Ausführungen kreisen um die Frage, ob "womöglich ein grundsätzlicher Fehler im Konzept des Naturschutzes" steckt. Schonungslos schlachtet Reichholf so manche heilige Kuh. Als Erstes nimmt er lieb gewordene Ansichten über den Artenschutz aufs Korn. Die Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen habe den Menschen auferlegt, den Fortbestand der Lebensvielfalt auf der Erde zu sichern. Müssten da nicht alle Arten geschützt werden, nicht nur die seltenen? Reichholf zerpflückt das beliebte Argument, in der Praxis sei ein solch umfassender Artenschutz nicht notwendig, denn des Schutzes bedürften eben nur die akut gefährdeten Arten.
Anhand mehrerer Beispiele weist der Biologe nach, dass viele der geschützten Arten gar nicht gefährdet sind. So seien in Deutschland alle Singvögel geschützt, aber nur ein Fünftel könne als gefährdet gelten. Die Bestände an Amseln, Buchfinken, Staren oder Kohlmeisen gingen in die Millionen. Krähen, Elstern und Eichelhäher, die auch Singvögel seien, kämen viel seltener vor, und dennoch würden sie jährlich legal zu Hunderttausenden abgeschossen.
Überhaupt sei der Umgang mit dem Begriff "Seltenheit" alles andere als einfach. Von Natur aus gibt es, wie Reichholf hervorhebt, viel mehr seltene als häufige Arten. Adler könnten durch noch so intensive Schutzbemühungen nie so häufig werden wie Spatzen. Oft sei es die natürliche Beschränkung auf einen bestimmten Lebensraum, etwa ein Hochmoor oder einen Magerrasen, die Seltenheit bei Tieren und Pflanzen bedinge. Dazu kämen starke zeitliche Schwankungen. Geradezu ein Paukenschlag ist die Folgerung, die geschützten Arten seien zum weitaus größten Teil entweder gar nicht selten und schutzbedürftig, oder sie seien von Natur aus selten und würden durch die Inschutznahme nicht begünstigt.
Artenschutz erfordert Flächenschutz. Das leuchtet ein. Aber in der Praxis führt diese Einsicht zu neuen Schwierigkeiten. Denn bei den meisten als naturschutzwürdig eingestuften oder tatsächlich unter Schutz gestellten Flächen handelt es sich Reichholf zufolge nicht um wilde Natur, sondern um Kulturlandschaften. Naturschützer blickten meist auf ein verklärtes "Früher" zurück. Es wirkt fast brutal, wie der Münchener Biologe liebgewordene Wendungen wie "Frieden mit der Natur" oder "Nachhaltigkeit" als Phrasen entlarvt.
Als Leitbild gelte oft die Natur im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert. Das sei aber eine Zeit des Mangels und der Hungersnöte gewesen. Gerade auf den übernutzten, nährstoffarmen Böden habe sich jene Vielfalt an Blumen, Schmetterlingen und anderen Insekten entwickeln können, denen heute das Augenmerk des Naturschutzes in der Kulturlandschaft gelte. Es sei eine ökologische Grundregel, dass nährstoffarme Gebiete eine große Biodiversität hervorbringen, nährstoffreiche eine geringe. Aber dürfe man auf ein Leitbild zurückgreifen, das sich am Mangel in der Natur und am Elend der Menschen ausrichte?
Naturschutz habe weit weniger mit Ökologie und Naturhaushalt zu tun, als den meisten Naturschützern bewusst sei. Er entspreche eher dem Denkmalschutz. Es gelte, ihn von jener Überfrachtung mit "Öko" zu befreien, die zur Ökosophie geworden sei. Vollends verdirbt es sich Reichholf mit wohl den meisten Naturschützern, indem er Begriffe, die leicht und wie selbstverständlich über die Lippen gehen, als Unfug entlarvt.
Einer davon ist der "Naturhaushalt". Er wird gern herangezogen, wenn es etwa gilt, eine lokale Baumaßnahme zu verhindern. Reichholf ist in dieser Hinsicht unerbittlich: "Den Naturhaushalt gibt es gar nicht." Es sei denn, man beziehe sich auf die ganze Erde. Bei dieser Gelegenheit verdirbt der Biologe den Naturschützern gleich auch noch den Spaß am "Ökosystem". Die sogenannten Ökosysteme existierten nicht, sie stellten keine realen Gegebenheiten in der Natur dar: "Sagen wir es ganz deutlich: Es gibt sie in der Wirklichkeit schlicht und ergreifend nicht." "Ökosystem" sei nur ein anderes - wissenschaftlich wirkendes - Wort etwa für Wälder, Wiesen und Teiche.
Nicht nur mit dem Naturschutz legt sich Reichholf seit jeher gern an, sondern auch mit der Landwirtschaft. In der Tat sind etliche der ihr gewährten Sonderrechte schwer mit einem wirksamen Naturschutz in Einklang zu bringen. Angeprangert wird in dem Buch etwa die Überfrachtung der Gewässer durch Dünger. Ein halbes Jahrhundert Umweltschutz und viele Milliarden für Sanierungsmaßnahmen hätten nicht bewirkt, dass man aus der nächsten Quelle trinken könne. Nach wie vor müsse Trinkwasser über große Entfernungen zu den Menschen transportiert werden, denn die Hauptbelastungsquelle - die Landwirtschaft - sei von beinahe allen zur Sanierung der Umwelt verhängten Einschränkungen ausgenommen. Was den Schwund an Arten und Biotopen sowie Änderungen im Wasserhaushalt betreffe, betrage der Anteil von Industrie, Verkehr, Bau- und Siedlungstätigkeit weniger als ein Zehntel dessen, was auf das Konto der Landwirtschaft gehe. Hinsichtlich des Energieverbrauchs und des Ausstoßes an klimawirksamen Gasen übertreffe die Landwirtschaft in Deutschland die vom Kraftfahrzeugverkehr in Mitteleuropa verursachte Umweltbelastung.
Wie kann der Naturschutz seine Krise überwinden? Für Reichholf steht fest, dass ein Neuanfang vonnöten ist. Mehr Ehrlichkeit ist eine der Forderungen. Naturschutz dürfe nicht als Vorwand zur Verhinderung unerwünschter Baumaßnahmen angeführt werden. Der lange bekämpfte Flughafen München zum Beispiel habe vielen besonders geschützten Arten neuen Lebensraum verschafft. Das größte Brutvorkommen des in Bayern vom Aussterben bedrohten Großen Brachvogels befinde sich heute direkt neben den Start- und Landebahnen. Dies einzugestehen, falle den Naturschützern schwer.
Auch Reichholf hat freilich Schwierigkeiten, und zwar, wenn es darum geht, einen konkreten Entwurf für den Naturschutz der Zukunft zu formulieren. Ein düsteres Bild zu zeichnen reicht jedenfalls nicht aus, wie er selbst einräumt. Schließlich gibt es auch beachtliche Erfolge. Einer von Reichholfs Vorschlägen lautet, alle Tiere und Pflanzen sollten als Lebewesen gleich behandelt werden, keine Art dürfe ohne triftigen Grund verfolgt und dezimiert werden. Er wünscht sich einen Naturschutz, der für und nicht gegen den Menschen ist, "der von innen kommt und nach außen ehrlich, offen und zuverlässig vertreten wird". Nicht jedermann wird damit viel anfangen können. Dass wir eine "neue Begeisterung für die Natur" benötigen, mag stimmen, aber könnte sie den Naturschutz zum Besseren hin umkrempeln?
Zweifellos recht hat Reichholf, wenn er dafür plädiert, die Zeit als Faktor stärker zu berücksichtigen. Denn die Natur ist alles andere als statisch. Das zeigt sich nicht zuletzt an den oft unliebsamen "fremden" Tier- und Pflanzenarten, die sich neu hier ansiedeln. Solche Zuwanderer gab es aber schon immer. Einem Idealbild aus der Vergangenheit zu frönen, wie das oft der Fall ist, erscheint jedenfalls unsinnig. "Die Natur ist kein festes Gebäude mit festgelegten Zimmern und Nischen, in denen sich das Leben abzuspielen hat", sagt Reichholf. Einen bestimmten Zustand zu konservieren wäre daher ebenfalls ein Eingriff. Dadurch reift beim Leser die Erkenntnis, dass es im Naturschutz darum gehen muss, den Wandel zu bewahren. Sich damit anzufreunden fällt gar nicht so leicht.
REINHARD WANDTNER
Josef H. Reichholf: "Naturschutz". Krise und Zukunft". Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 169 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Naturschutz liegt allen am Herzen. Doch ihn sinnvoll zu begründen und zu praktizieren ist eine andere Sache. Josef Reichholf geht mit der verbreiteten Trivialökologie hart ins Gericht.
Im Festsaal des Frankfurter Senckenbergmuseums war das Wohlwollen von Minute zu Minute gewachsen. Es füllte den Raum wie eine dichte, fast greifbare Wolke aus. Warum sollte man auch nicht eins sein mit den Referenten aus Wissenschaft, Politik und Verbänden, die nach Frankfurt am Main gekommen waren, um den Naturschutz zu preisen. Doch dann wurde die Idylle gestört, und zwar durch wissenschaftlich fundierte und daher von vielen als besonders unangenehm empfundene Fragen an den Naturschutz. Sie kamen von Josef Reichholf. Der Münchener Ökologe und Evolutionsbiologe entlarvte etliche der im Naturschutz geläufigen Sichtweisen als "Trivialökologie", deckte Widersprüche auf und fragte ketzerisch, wie denn eigentlich jene Natur beschaffen sein solle, die man für schützenswert erachte.
Das war Anfang 1995, in jenem Jahr, das der Europarat zum europäischen Naturschutzjahr ausgerufen hatte. Inzwischen hat sich Reichholf immer wieder zu Wort gemeldet. Er spricht aus, was anderen insgeheim vielleicht ebenfalls als Ungereimtheit im Naturschutz aufstößt, das sie aber der guten Sache wegen zu schlucken bereit sind. Seine Kritik, so schmerzhaft sie manchen Naturschützer trifft, ist aber durch und durch konstruktiv. Schließlich hat Reichholf mehr als dreißig Jahre lang Naturschutz an der Technischen Universität München gelehrt, war für die Weltnaturschutzunion IUCN und den WWF tätig und ist jetzt "Botschafter" der Wildtier-Stiftung.
Der Naturschutz befindet sich immer noch in einer Krise. Das steht für Reichholf außer Zweifel, wie sein neues Buch zeigt. Die Ausführungen kreisen um die Frage, ob "womöglich ein grundsätzlicher Fehler im Konzept des Naturschutzes" steckt. Schonungslos schlachtet Reichholf so manche heilige Kuh. Als Erstes nimmt er lieb gewordene Ansichten über den Artenschutz aufs Korn. Die Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen habe den Menschen auferlegt, den Fortbestand der Lebensvielfalt auf der Erde zu sichern. Müssten da nicht alle Arten geschützt werden, nicht nur die seltenen? Reichholf zerpflückt das beliebte Argument, in der Praxis sei ein solch umfassender Artenschutz nicht notwendig, denn des Schutzes bedürften eben nur die akut gefährdeten Arten.
Anhand mehrerer Beispiele weist der Biologe nach, dass viele der geschützten Arten gar nicht gefährdet sind. So seien in Deutschland alle Singvögel geschützt, aber nur ein Fünftel könne als gefährdet gelten. Die Bestände an Amseln, Buchfinken, Staren oder Kohlmeisen gingen in die Millionen. Krähen, Elstern und Eichelhäher, die auch Singvögel seien, kämen viel seltener vor, und dennoch würden sie jährlich legal zu Hunderttausenden abgeschossen.
Überhaupt sei der Umgang mit dem Begriff "Seltenheit" alles andere als einfach. Von Natur aus gibt es, wie Reichholf hervorhebt, viel mehr seltene als häufige Arten. Adler könnten durch noch so intensive Schutzbemühungen nie so häufig werden wie Spatzen. Oft sei es die natürliche Beschränkung auf einen bestimmten Lebensraum, etwa ein Hochmoor oder einen Magerrasen, die Seltenheit bei Tieren und Pflanzen bedinge. Dazu kämen starke zeitliche Schwankungen. Geradezu ein Paukenschlag ist die Folgerung, die geschützten Arten seien zum weitaus größten Teil entweder gar nicht selten und schutzbedürftig, oder sie seien von Natur aus selten und würden durch die Inschutznahme nicht begünstigt.
Artenschutz erfordert Flächenschutz. Das leuchtet ein. Aber in der Praxis führt diese Einsicht zu neuen Schwierigkeiten. Denn bei den meisten als naturschutzwürdig eingestuften oder tatsächlich unter Schutz gestellten Flächen handelt es sich Reichholf zufolge nicht um wilde Natur, sondern um Kulturlandschaften. Naturschützer blickten meist auf ein verklärtes "Früher" zurück. Es wirkt fast brutal, wie der Münchener Biologe liebgewordene Wendungen wie "Frieden mit der Natur" oder "Nachhaltigkeit" als Phrasen entlarvt.
Als Leitbild gelte oft die Natur im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert. Das sei aber eine Zeit des Mangels und der Hungersnöte gewesen. Gerade auf den übernutzten, nährstoffarmen Böden habe sich jene Vielfalt an Blumen, Schmetterlingen und anderen Insekten entwickeln können, denen heute das Augenmerk des Naturschutzes in der Kulturlandschaft gelte. Es sei eine ökologische Grundregel, dass nährstoffarme Gebiete eine große Biodiversität hervorbringen, nährstoffreiche eine geringe. Aber dürfe man auf ein Leitbild zurückgreifen, das sich am Mangel in der Natur und am Elend der Menschen ausrichte?
Naturschutz habe weit weniger mit Ökologie und Naturhaushalt zu tun, als den meisten Naturschützern bewusst sei. Er entspreche eher dem Denkmalschutz. Es gelte, ihn von jener Überfrachtung mit "Öko" zu befreien, die zur Ökosophie geworden sei. Vollends verdirbt es sich Reichholf mit wohl den meisten Naturschützern, indem er Begriffe, die leicht und wie selbstverständlich über die Lippen gehen, als Unfug entlarvt.
Einer davon ist der "Naturhaushalt". Er wird gern herangezogen, wenn es etwa gilt, eine lokale Baumaßnahme zu verhindern. Reichholf ist in dieser Hinsicht unerbittlich: "Den Naturhaushalt gibt es gar nicht." Es sei denn, man beziehe sich auf die ganze Erde. Bei dieser Gelegenheit verdirbt der Biologe den Naturschützern gleich auch noch den Spaß am "Ökosystem". Die sogenannten Ökosysteme existierten nicht, sie stellten keine realen Gegebenheiten in der Natur dar: "Sagen wir es ganz deutlich: Es gibt sie in der Wirklichkeit schlicht und ergreifend nicht." "Ökosystem" sei nur ein anderes - wissenschaftlich wirkendes - Wort etwa für Wälder, Wiesen und Teiche.
Nicht nur mit dem Naturschutz legt sich Reichholf seit jeher gern an, sondern auch mit der Landwirtschaft. In der Tat sind etliche der ihr gewährten Sonderrechte schwer mit einem wirksamen Naturschutz in Einklang zu bringen. Angeprangert wird in dem Buch etwa die Überfrachtung der Gewässer durch Dünger. Ein halbes Jahrhundert Umweltschutz und viele Milliarden für Sanierungsmaßnahmen hätten nicht bewirkt, dass man aus der nächsten Quelle trinken könne. Nach wie vor müsse Trinkwasser über große Entfernungen zu den Menschen transportiert werden, denn die Hauptbelastungsquelle - die Landwirtschaft - sei von beinahe allen zur Sanierung der Umwelt verhängten Einschränkungen ausgenommen. Was den Schwund an Arten und Biotopen sowie Änderungen im Wasserhaushalt betreffe, betrage der Anteil von Industrie, Verkehr, Bau- und Siedlungstätigkeit weniger als ein Zehntel dessen, was auf das Konto der Landwirtschaft gehe. Hinsichtlich des Energieverbrauchs und des Ausstoßes an klimawirksamen Gasen übertreffe die Landwirtschaft in Deutschland die vom Kraftfahrzeugverkehr in Mitteleuropa verursachte Umweltbelastung.
Wie kann der Naturschutz seine Krise überwinden? Für Reichholf steht fest, dass ein Neuanfang vonnöten ist. Mehr Ehrlichkeit ist eine der Forderungen. Naturschutz dürfe nicht als Vorwand zur Verhinderung unerwünschter Baumaßnahmen angeführt werden. Der lange bekämpfte Flughafen München zum Beispiel habe vielen besonders geschützten Arten neuen Lebensraum verschafft. Das größte Brutvorkommen des in Bayern vom Aussterben bedrohten Großen Brachvogels befinde sich heute direkt neben den Start- und Landebahnen. Dies einzugestehen, falle den Naturschützern schwer.
Auch Reichholf hat freilich Schwierigkeiten, und zwar, wenn es darum geht, einen konkreten Entwurf für den Naturschutz der Zukunft zu formulieren. Ein düsteres Bild zu zeichnen reicht jedenfalls nicht aus, wie er selbst einräumt. Schließlich gibt es auch beachtliche Erfolge. Einer von Reichholfs Vorschlägen lautet, alle Tiere und Pflanzen sollten als Lebewesen gleich behandelt werden, keine Art dürfe ohne triftigen Grund verfolgt und dezimiert werden. Er wünscht sich einen Naturschutz, der für und nicht gegen den Menschen ist, "der von innen kommt und nach außen ehrlich, offen und zuverlässig vertreten wird". Nicht jedermann wird damit viel anfangen können. Dass wir eine "neue Begeisterung für die Natur" benötigen, mag stimmen, aber könnte sie den Naturschutz zum Besseren hin umkrempeln?
Zweifellos recht hat Reichholf, wenn er dafür plädiert, die Zeit als Faktor stärker zu berücksichtigen. Denn die Natur ist alles andere als statisch. Das zeigt sich nicht zuletzt an den oft unliebsamen "fremden" Tier- und Pflanzenarten, die sich neu hier ansiedeln. Solche Zuwanderer gab es aber schon immer. Einem Idealbild aus der Vergangenheit zu frönen, wie das oft der Fall ist, erscheint jedenfalls unsinnig. "Die Natur ist kein festes Gebäude mit festgelegten Zimmern und Nischen, in denen sich das Leben abzuspielen hat", sagt Reichholf. Einen bestimmten Zustand zu konservieren wäre daher ebenfalls ein Eingriff. Dadurch reift beim Leser die Erkenntnis, dass es im Naturschutz darum gehen muss, den Wandel zu bewahren. Sich damit anzufreunden fällt gar nicht so leicht.
REINHARD WANDTNER
Josef H. Reichholf: "Naturschutz". Krise und Zukunft". Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 169 S., br., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Naturschützer, die dieses Buch lesen, sollen sich warm anziehen, warnt Rezensent Reinhard Wandtner. Dabei ist der Autor selber Ökologe und Evolutionsbiologe. Dass Josef H. Reichholf aus besonderem Holz ist, erfährt Wandtner hier allerdings in jedem Absatz. So wenn Reichholf kampflustig Begriffe wie "Seltenheit" oder "Nachhaltigkeit" überprüft und feststellt, es sind nur Phrasen. Selten sei der Adler schließlich immer, auch mit dem bestmöglichen Seltenheitsschutz. Auch wenn Reichholf Naturschutz als Denkmalschutz bezeichnet und die Landwirtschaft als eigentlichen Stachel im Fleisch der sogenannten Natur entlarvt, macht sich der Autor laut Wandtner keine Freunde. Reichholfs Lösungsvorschlag eines menschenfreundlichen, dem Wandel der Natur angepassten Naturschutzes leuchtet dem zwar Rezensenten ein, sich damit anzufreunden, vermutet er, wird aber nicht leicht sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Seine Kritik so schmerzhaft sie manchen Naturschützer trifft, ist aber durch und durch konstruktiv.« Reinhard Wandtner Frankfurter Allgemeine Zeitung 20100809