"Was Neapel angeht, so fühle ich mich heute vor allem angezogen von Ortese. Wenn es mir gelänge, noch von dieser Stadt zu schreiben, würde ich versuchen, die Richtung zu erforschen, die sie gezeigt hat", schrieb Elena Ferrante und ermöglichte damit die Entdeckung von Anna Maria Orteses brillanten Erzählungen und literarischen Reportagen aus dem Neapel der Nachkriegsjahre. Mit großer erzählerischer Kraft und menschlicher Wärme fängt Ortese jenen armen Teil der Stadt ein, "der nicht am Meer liegt".
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2020Eine Stadt wider Willen
Wo die Erde einen Teil ihrer Schwerkraft verliert: Anna Maria Orteses Prosaband "Neapel liegt nicht am Meer" erscheint nun vollständig auf deutsch.
Der Welterfolg von Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie kam aus dem Schatten der Anonymität, doch er kam nicht aus dem Nichts. Die bekannte Unbekannte hat Vorläuferinnen: Anna Maria Ortese, die, geboren 1914 in Rom, gestorben 1998 in Rapallo, an vielen Orten und zweimal länger in Neapel gelebt hat, ist die bedeutendste von ihnen. Die Bestsellerautorin fühlt sich von ihr "angezogen" und erweist ihr in "Meine geniale Freundin" die Reverenz. So wird die Metapher des Titels "Neapel liegt nicht am Meer", für den Ortese 1953 der Premio Viareggio zugesprochen wurde, aufgegriffen: Erst als die Freundinnen Lenù und Lila aus ihrem Armenviertel herauskommen und, nur wenige Kilometer entfernt, auf der Flaniermeile Via Chiaia die eleganten Damen und Mädchen ("Sie waren vollkommen anders als wir") bestaunen, sehen sie ein anderes Neapel, eines, das am Meer liegt. "Es war, als hätten wir eine Grenze passiert." Damit endet ihre Kindheit.
Anna Maria Ortese, in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und Autodidaktin, hat nicht den großen Atem für eine Familiensaga, nicht die Distanz zu einer fernen Kindheit und kein Vertrauen in konventionelle Erzählweisen. Fasziniert von Neapel, wo "die Erde einen Teil ihrer Schwerkraft (verliert)", leidet sie umso mehr an seiner Verwahrlosung und Zerrissenheit.
Der Band enthält fünf Geschichten - zwei Erzählungen, zwei Reportagen und einen Essay -, die eine unruhige, unmittelbare Prosa auszeichnet und, geschult am Neorealismo, phantastische und surreale Elemente durchschießen: Schlaglichter auf die Nachkriegszeit, in denen sich vielstimmig und perspektivenreich die Wirklichkeit der Stadt verdichtet, auf Klassengräben und Geschlechterrollen, Vitalität und Gewalt, Frömmigkeit und Flehrufe, Lärm und Musik auf den Straßen.
Die Erzählung "Die Brille" lässt sich als Metapher für eine Literatur lesen, die unter die Oberfläche des Augenscheinlichen blicken lässt. Auf die Brille setzt die in einem ärmlichen Basso wohnende, fast blinde Eugenia ihre ganze Glückserwartung, doch als das Mädchen sie endlich auf der Nase hat, beginnt sich die Welt, die nun ihr monströses Elend enthüllt, zu drehen, so dass es sich erbricht. In der scheiternden Emanzipation steckt die Parabel einer Unterdrückung: Dass sie die teure Brille bezahlt, nutzt Nunzia, die großzügige Tante, aus, um sich zu bemitleiden und die Nichte zu Demut und Dankbarkeit zu disziplinieren. Der emotionale Missbrauch macht Eugenias Enttäuschung vollkommen.
Die ambivalenten Abhängigkeiten verwandtschaftlicher Beziehungen werden in "Familie - Eine Innenansicht" bis in feinste Nadelstiche und abgefeimte Schikanen seziert: Am Morgen des ersten Weihnachtstags fegt der Gruß eines Mannes, den sie früher einmal im Sinn hatte, wie ein Sturm in die wunschlose, windstille Existenz der Anastasia Finizio und weckt in ihr dunkle, außergewöhnliche Gefühle. Die ledige Frau, "an der Schwelle der Vierziger", lässt sich auf Phantasien, Hoffnungen und Träume ein, die sie vor der Mutter, die das Machtgefüge der Familie zusammenhält, und ihrer jüngeren Schwester Anna für sich behalten muss. In Gedanken erlebt sie die Illusion eines geborgten Glücks, von dem am Abend nichts mehr übrig ist.
"Dieses Neapel lag nicht am Meer." Der Satz fällt in der Reportage "Gold in Forcella", die sich in das enge, wuselige, von Bettlern und Gläubigen, unbekleideten Kindern und süßen Madonnen bevölkerte Altstadtquartier begibt, wo noch beim Warten im Pfandhaus, diesem "großen Werk des Erbarmens", mit Verstellung, Tricks und Theater um Vorteile gekämpft wird. Eine Art Elendswimmelbild zeichnet die Erkundung der Granili III und IV, zwei gigantischen Lagerhäusern am Hafen, wo Obdachlose ins Asyl gepfercht wurden. Der Titel "Die Stadt wider Willen" steht auch für das niedrige Neapel, das hier in Fäulnis übergeht: Seine Menschen erscheinen als "Larven eines Lebens, in dem es einmal Wind und Sonne gab, woran sie aber keine Erinnerung mehr haben".
"Poesie ist die Kunst, in einem Wasserglas das Meer rauschen zu lassen." Diese Sentenz von Italo Calvino einzulösen gelingt Anna Maria Ortese mit vier kleinen Gläsern, von denen jedes randvoll gefüllt ist. Der Essay nimmt, immer wieder abschweifend, einen längeren Weg: In "Das Schweigen der Vernunft" durchstreift die Autorin die Stadt, um Kollegen der legendären Zeitschrift "Sud" (Süden), zu deren Mitarbeitern sie gehörte, für eine Reportage mit dem Titel "Was machen die jungen Schriftsteller von Neapel" zu besuchen. Dabei geht sie über ein literarisches Porträt weit hinaus, kommt auf Eitelkeiten und Rivalitäten, Indolenz und politische Naivität zu sprechen, schildert Zufallsbegegnungen und Impressionen. Ihr kritisches Gruppenbild wurde ihr als Urteil "gegen Neapel" derart übelgenommen, dass sie die Stadt verlassen hat und nur "ein einziges Mal für ein paar Stunden" zurückgekehrt ist. Noch als Achtzigjährige wurde sie dafür angegriffen, so von Erri de Luca, der ihr sachliche Fehler vorrechnete und diese über die literarische Freiheit und Qualität stellte. Wie das der Autorin zugesetzt und sie in ihrem Einzelgängertum isoliert hat, legt Franz Haas in seinem kenntnisreichen Nachwort dar.
Schon einmal ist "Il mare non bagna Napoli" (wörtlich: "Das Meer umspült Neapel nicht"), das noch heute in den Buchhandlungen der Stadt in der ersten Reihe steht, auf Deutsch erschienen: In der Übersetzung von Charlotte Birnbaum kam der Band 1955, um das Gruppenporträt gekürzt, unter dem unglücklichen Titel "Neapel, Stadt ohne Gnade" heraus. Ihn erstmals komplett auf Deutsch vorzulegen gereicht dem Verlag zur Ehre - und könnte ihn ermutigen: Anna Maria Orteses großer Neapel-Roman "Il porto di Toledo" ("Der Hafen von Toledo"), 1975 veröffentlicht und das Buch, das sie für ihr wichtigstes hielt, wartet noch immer auf seine Übersetzung.
ANDREAS ROSSMANN
Anna Maria Ortese: "Neapel liegt nicht am Meer". Erzählungen.
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Nachwort von Franz Haas. Friedenauer Presse, Berlin 2019. 236 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo die Erde einen Teil ihrer Schwerkraft verliert: Anna Maria Orteses Prosaband "Neapel liegt nicht am Meer" erscheint nun vollständig auf deutsch.
Der Welterfolg von Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie kam aus dem Schatten der Anonymität, doch er kam nicht aus dem Nichts. Die bekannte Unbekannte hat Vorläuferinnen: Anna Maria Ortese, die, geboren 1914 in Rom, gestorben 1998 in Rapallo, an vielen Orten und zweimal länger in Neapel gelebt hat, ist die bedeutendste von ihnen. Die Bestsellerautorin fühlt sich von ihr "angezogen" und erweist ihr in "Meine geniale Freundin" die Reverenz. So wird die Metapher des Titels "Neapel liegt nicht am Meer", für den Ortese 1953 der Premio Viareggio zugesprochen wurde, aufgegriffen: Erst als die Freundinnen Lenù und Lila aus ihrem Armenviertel herauskommen und, nur wenige Kilometer entfernt, auf der Flaniermeile Via Chiaia die eleganten Damen und Mädchen ("Sie waren vollkommen anders als wir") bestaunen, sehen sie ein anderes Neapel, eines, das am Meer liegt. "Es war, als hätten wir eine Grenze passiert." Damit endet ihre Kindheit.
Anna Maria Ortese, in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und Autodidaktin, hat nicht den großen Atem für eine Familiensaga, nicht die Distanz zu einer fernen Kindheit und kein Vertrauen in konventionelle Erzählweisen. Fasziniert von Neapel, wo "die Erde einen Teil ihrer Schwerkraft (verliert)", leidet sie umso mehr an seiner Verwahrlosung und Zerrissenheit.
Der Band enthält fünf Geschichten - zwei Erzählungen, zwei Reportagen und einen Essay -, die eine unruhige, unmittelbare Prosa auszeichnet und, geschult am Neorealismo, phantastische und surreale Elemente durchschießen: Schlaglichter auf die Nachkriegszeit, in denen sich vielstimmig und perspektivenreich die Wirklichkeit der Stadt verdichtet, auf Klassengräben und Geschlechterrollen, Vitalität und Gewalt, Frömmigkeit und Flehrufe, Lärm und Musik auf den Straßen.
Die Erzählung "Die Brille" lässt sich als Metapher für eine Literatur lesen, die unter die Oberfläche des Augenscheinlichen blicken lässt. Auf die Brille setzt die in einem ärmlichen Basso wohnende, fast blinde Eugenia ihre ganze Glückserwartung, doch als das Mädchen sie endlich auf der Nase hat, beginnt sich die Welt, die nun ihr monströses Elend enthüllt, zu drehen, so dass es sich erbricht. In der scheiternden Emanzipation steckt die Parabel einer Unterdrückung: Dass sie die teure Brille bezahlt, nutzt Nunzia, die großzügige Tante, aus, um sich zu bemitleiden und die Nichte zu Demut und Dankbarkeit zu disziplinieren. Der emotionale Missbrauch macht Eugenias Enttäuschung vollkommen.
Die ambivalenten Abhängigkeiten verwandtschaftlicher Beziehungen werden in "Familie - Eine Innenansicht" bis in feinste Nadelstiche und abgefeimte Schikanen seziert: Am Morgen des ersten Weihnachtstags fegt der Gruß eines Mannes, den sie früher einmal im Sinn hatte, wie ein Sturm in die wunschlose, windstille Existenz der Anastasia Finizio und weckt in ihr dunkle, außergewöhnliche Gefühle. Die ledige Frau, "an der Schwelle der Vierziger", lässt sich auf Phantasien, Hoffnungen und Träume ein, die sie vor der Mutter, die das Machtgefüge der Familie zusammenhält, und ihrer jüngeren Schwester Anna für sich behalten muss. In Gedanken erlebt sie die Illusion eines geborgten Glücks, von dem am Abend nichts mehr übrig ist.
"Dieses Neapel lag nicht am Meer." Der Satz fällt in der Reportage "Gold in Forcella", die sich in das enge, wuselige, von Bettlern und Gläubigen, unbekleideten Kindern und süßen Madonnen bevölkerte Altstadtquartier begibt, wo noch beim Warten im Pfandhaus, diesem "großen Werk des Erbarmens", mit Verstellung, Tricks und Theater um Vorteile gekämpft wird. Eine Art Elendswimmelbild zeichnet die Erkundung der Granili III und IV, zwei gigantischen Lagerhäusern am Hafen, wo Obdachlose ins Asyl gepfercht wurden. Der Titel "Die Stadt wider Willen" steht auch für das niedrige Neapel, das hier in Fäulnis übergeht: Seine Menschen erscheinen als "Larven eines Lebens, in dem es einmal Wind und Sonne gab, woran sie aber keine Erinnerung mehr haben".
"Poesie ist die Kunst, in einem Wasserglas das Meer rauschen zu lassen." Diese Sentenz von Italo Calvino einzulösen gelingt Anna Maria Ortese mit vier kleinen Gläsern, von denen jedes randvoll gefüllt ist. Der Essay nimmt, immer wieder abschweifend, einen längeren Weg: In "Das Schweigen der Vernunft" durchstreift die Autorin die Stadt, um Kollegen der legendären Zeitschrift "Sud" (Süden), zu deren Mitarbeitern sie gehörte, für eine Reportage mit dem Titel "Was machen die jungen Schriftsteller von Neapel" zu besuchen. Dabei geht sie über ein literarisches Porträt weit hinaus, kommt auf Eitelkeiten und Rivalitäten, Indolenz und politische Naivität zu sprechen, schildert Zufallsbegegnungen und Impressionen. Ihr kritisches Gruppenbild wurde ihr als Urteil "gegen Neapel" derart übelgenommen, dass sie die Stadt verlassen hat und nur "ein einziges Mal für ein paar Stunden" zurückgekehrt ist. Noch als Achtzigjährige wurde sie dafür angegriffen, so von Erri de Luca, der ihr sachliche Fehler vorrechnete und diese über die literarische Freiheit und Qualität stellte. Wie das der Autorin zugesetzt und sie in ihrem Einzelgängertum isoliert hat, legt Franz Haas in seinem kenntnisreichen Nachwort dar.
Schon einmal ist "Il mare non bagna Napoli" (wörtlich: "Das Meer umspült Neapel nicht"), das noch heute in den Buchhandlungen der Stadt in der ersten Reihe steht, auf Deutsch erschienen: In der Übersetzung von Charlotte Birnbaum kam der Band 1955, um das Gruppenporträt gekürzt, unter dem unglücklichen Titel "Neapel, Stadt ohne Gnade" heraus. Ihn erstmals komplett auf Deutsch vorzulegen gereicht dem Verlag zur Ehre - und könnte ihn ermutigen: Anna Maria Orteses großer Neapel-Roman "Il porto di Toledo" ("Der Hafen von Toledo"), 1975 veröffentlicht und das Buch, das sie für ihr wichtigstes hielt, wartet noch immer auf seine Übersetzung.
ANDREAS ROSSMANN
Anna Maria Ortese: "Neapel liegt nicht am Meer". Erzählungen.
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Nachwort von Franz Haas. Friedenauer Presse, Berlin 2019. 236 S., geb., 22,- [Euro].
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