Neapel ist von der Entzauberung der Welt verschont geblieben, und doch ist es eine moderne Stadt. Schon geologisch doppelbödig, hat es eine Affinität zum Zwischenreich ausgebildet : Transgender und Geister, Adoptionsgemeinschaften als Familien, anonyme Totenschädel als Vorfahren. Ulrich van Loyen begibt sich mit seinem wissenschaftlichen Reisebuch in diese Schwellenzonen und versucht, anhand der Totenkulte die Matrix dieser Stadt zu entschlüsseln. Dabei leitet ihn weniger die europäische Hochkultur, für die Neapel eine dauernde Fremdheitsressource darstellt, als vielmehr die teilnehmende Beobachtung am Leben der sogenannten einfachen Leute. In den Gassen der Sanità, in den Unterkirchen der "Seelen im Fegefeuer", bei Camorristi, die sich als Sozialhelfer geben, durch die Freundschaft mit Seherinnen, die die Toten zum Sprechen bringen und damit den politischen Klientelismus stürzen wollen, wird unter anderem deutlich, dass der Alltag das größte aller Geheimnisse, die Familie ein Mysterium und die Stadt eine permanente Krise bedeuten. Davon kann man mit Neapel erzählen, und damit erzählt Neapel uns.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Ronald Düker erkennt in Ulrich van Loyens mehrjähriger ethnologischer Feldforschungsarbeit in Neapels Unterwelt einen Gegenbeweis für die Vermutung, in Zeiten der alles gleichmachenden Globalisierung stehe es schlecht um die Ethnologie. Ein echtes Widerstandsnest gegen die Entzauberung entdeckt er gemeinsam mit dem Autor, trifft Kerzenverkäuferinnen, Knochenputzer und Wahrsagerinnen und andere Besucher im Reich der Toten. Für Düker ein veritabler ethnologischer Gespensterroman, der für ihn dadurch glänzt, dass sein Autor sich jede Schwärmerei versagt, wenn er diese "symptomatische" Widerstandsgemeinschaft gegen den politischen Zerfall in Italien besucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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