Uns im Westen geht es gut, weil es den meisten Menschen anderswo schlecht geht. Wir lagern systematisch Armut und Ungerechtigkeit aus, im kleinen wie im großen Maßstab. Und wir alle verdrängen unseren Anteil an dieser Praxis. Der renommierte Soziologe Stephan Lessenich bietet eine brillante, politisch brisante Analyse der Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse der globalisierten Wirtschaft. Er veranschaulicht das soziale Versagen unserer Weltordnung, denn es profitieren eben nicht alle irgendwie von freien Märkten. Die Wahrheit ist: Wenn einer gewinnt, verlieren andere. Jeder von uns ist ein verantwortlicher Akteur in diesem Nullsummenspiel, dessen Verlierer jetzt an unsere Türen klopfen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2016Den Preis zahlen immer die anderen
Ein Gespräch mit dem Soziologen Stephan Lessenich über gesellschaftliche Ungleichheit durch Auslagerung
Wir leben auf Kosten anderer. Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse anderer, sagt der Soziologe Stephan Lessenich in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ (Verlag Hanser Berlin). Über dieses Buch kann man sich prächtig ärgern, weil es Illusionen zerstört. Aus demselben Grund kann man sich freuen über das Buch, weil man nach der Lektüre einiges klarer sieht. Es ist eines der wichtigen Debattenbücher dieses Herbstes.
Lange konnte man sich überlegen, ob man in einer Risikogesellschaft lebt oder in einer Erlebnisgesellschaft. Dann wurden ausgerufen die Müdigkeitsgesellschaft, die Gesellschaft der Angst, die Abstiegsgesellschaft. Nun kommt Stephan Lessenich, der in München Soziologie lehrt, mit der Externalisierungsgesellschaft. Ist das etwas ganz Neues? Externalisierungsgesellschaft, sagt Lessenich im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse, „das ist einerseits eine Zeitdiagnose, die aber weiter zurückgreift. Die moderne kapitalistische Gesellschaft beruht seit fünfhundert Jahren darauf, dass sie die Kosten ihrer Produktions-, ihrer Arbeits- und Lebensweise auslagert in andere Weltgegenden. Den Preis für die Externalisierung haben sehr lange fast ausschließlich Dritte bezahlt. Es könnte sein, dass wir zukünftig stärker zur Kasse gebeten werden.“
Lessenich spricht viele der kritischen Punkte der modernen Gesellschaft an, die wir nicht richtig im Blick haben – oder nicht haben wollen. Die Fakten sind bekannt, die schlimmen Arbeitsbedingungen in Bangladesch, wo die Textilindustrie arbeiten lässt, man nimmt sie zur Kenntnis, wenn es Brände mit vielen Toten dort gibt. Für den Sojabedarf der Deutschen braucht man im Jahr eine Fläche wie die von Hessen – aber bebaut wird sie in Argentinien. Womit wir dort Umweltschäden verursachen, und eine Schieflage der Wirtschaftsstruktur.
Dieses Wir, sagt Lessenich, „ist natürlich eine grobe Vereinfachung. Wir, das sind in erster Linie die reichen Gesellschaften des globalen Nordens. Die anderen die Gesellschaften des globalen Südens.“ Mit deren Problemen werden wir immer häufiger und stärker konfrontiert – zum Beispiel den Flucht- und Migrationsbewegungen. „Die Armut, die dramatischen Verhältnisse, die niedrigen Lebenschancen in bestimmten Weltregionen sind mitproduziert durch unsere Produktions- und Lebensweise. Und nun versucht man, die Folgen aus dem Inneren des europäischen Lebensraums rauszuhalten.“
Um hier etwas zu ändern, gilt es, durch politisches Handeln Strukturen radikal zu ändern, das Welthandelsregime zum Beispiel oder das Weltklimaregime. „Und zwar: zu Lasten der hoch entwickelten Gesellschaften, zugunsten der Gesellschaften, auf deren Kosten wir bislang leben. Langfristige Interessen sind freilich immer schwer anzusprechen und umzusetzen. Ich glaube, die Veränderung wird ohnehin vom globalen Süden ausgehen. Wir täten gut daran, diesen Kampf zu unterstützen.“
JENS BISKY
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Gespräch mit dem Soziologen Stephan Lessenich über gesellschaftliche Ungleichheit durch Auslagerung
Wir leben auf Kosten anderer. Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse anderer, sagt der Soziologe Stephan Lessenich in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ (Verlag Hanser Berlin). Über dieses Buch kann man sich prächtig ärgern, weil es Illusionen zerstört. Aus demselben Grund kann man sich freuen über das Buch, weil man nach der Lektüre einiges klarer sieht. Es ist eines der wichtigen Debattenbücher dieses Herbstes.
Lange konnte man sich überlegen, ob man in einer Risikogesellschaft lebt oder in einer Erlebnisgesellschaft. Dann wurden ausgerufen die Müdigkeitsgesellschaft, die Gesellschaft der Angst, die Abstiegsgesellschaft. Nun kommt Stephan Lessenich, der in München Soziologie lehrt, mit der Externalisierungsgesellschaft. Ist das etwas ganz Neues? Externalisierungsgesellschaft, sagt Lessenich im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse, „das ist einerseits eine Zeitdiagnose, die aber weiter zurückgreift. Die moderne kapitalistische Gesellschaft beruht seit fünfhundert Jahren darauf, dass sie die Kosten ihrer Produktions-, ihrer Arbeits- und Lebensweise auslagert in andere Weltgegenden. Den Preis für die Externalisierung haben sehr lange fast ausschließlich Dritte bezahlt. Es könnte sein, dass wir zukünftig stärker zur Kasse gebeten werden.“
Lessenich spricht viele der kritischen Punkte der modernen Gesellschaft an, die wir nicht richtig im Blick haben – oder nicht haben wollen. Die Fakten sind bekannt, die schlimmen Arbeitsbedingungen in Bangladesch, wo die Textilindustrie arbeiten lässt, man nimmt sie zur Kenntnis, wenn es Brände mit vielen Toten dort gibt. Für den Sojabedarf der Deutschen braucht man im Jahr eine Fläche wie die von Hessen – aber bebaut wird sie in Argentinien. Womit wir dort Umweltschäden verursachen, und eine Schieflage der Wirtschaftsstruktur.
Dieses Wir, sagt Lessenich, „ist natürlich eine grobe Vereinfachung. Wir, das sind in erster Linie die reichen Gesellschaften des globalen Nordens. Die anderen die Gesellschaften des globalen Südens.“ Mit deren Problemen werden wir immer häufiger und stärker konfrontiert – zum Beispiel den Flucht- und Migrationsbewegungen. „Die Armut, die dramatischen Verhältnisse, die niedrigen Lebenschancen in bestimmten Weltregionen sind mitproduziert durch unsere Produktions- und Lebensweise. Und nun versucht man, die Folgen aus dem Inneren des europäischen Lebensraums rauszuhalten.“
Um hier etwas zu ändern, gilt es, durch politisches Handeln Strukturen radikal zu ändern, das Welthandelsregime zum Beispiel oder das Weltklimaregime. „Und zwar: zu Lasten der hoch entwickelten Gesellschaften, zugunsten der Gesellschaften, auf deren Kosten wir bislang leben. Langfristige Interessen sind freilich immer schwer anzusprechen und umzusetzen. Ich glaube, die Veränderung wird ohnehin vom globalen Süden ausgehen. Wir täten gut daran, diesen Kampf zu unterstützen.“
JENS BISKY
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wutentbrannt pfeffert Rezensent Cornelius Pollmer dieses Buch in die Ecke: Darin müht sich Soziologe Lessenich ab, begreiflich zu machen, was für den Kritiker ohnehin schon evident ist - dass der materielle Überfluss des globalen Nordens sehr viel mit dem materiellen Mangel im globalen Süden zu tun hat. Dies aber habe, so Pollmer, grundsätzlich schon begriffen, wer überhaupt zu diesem Buch greift. Glasklarer Fall für den Kritiker: Wissenschaftsverkarstung, "redundante Redundanzen" allerorten schimpft er. Dennoch findet er auch Stärken: Sobald der Text Tacheles spricht, mache sich das präzise Instrumentarium das Soziologen mehr als positiv bemerkbar. Trotzdem stellt sich Pollmer die Frage nach dem Sinn dieses Bandes: Wer sich des Nord-Süd-Gefälles noch nicht hinreichend bewusst ist, wird auch von diesem über weite Strecken behäbigen Buch nicht wachgerüttelt, isr er überzeugt, wohingegen es die bereits Bekehrten mit der bloßen Bestätigung ihrer Erkenntnis alleine lasse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2016Über die Verhältnisse der anderen leben
Coffee to go or not to go, das sollte hier die Frage sein: Der Soziologe Stephan Lessenich liest der Überflussgesellschaft die Leviten.
Von Barbara Kuchler
Es ist gesagt worden, dass wir als Insassen der modernen Gesellschaft technische Giganten, aber moralische Zwerge sind. In Sachen Technik sind wir unschlagbar: Wir schicken Sonden auf den Mars, bauen Nanoroboter und tragen in unseren Hosentaschen eine Rechenleistung mit uns herum, die 1970 die Größe eines Mehrfamilienhauses gehabt hätte. Moralisch hat sich die Gesellschaft seit ihren Anfängen nicht weiterentwickelt. Manche vermuten sogar - zurückentwickelt. Denn während das Leistungsniveau im technischen Bereich von den besten Köpfen abhängt, wird es im moralischen Bereich oftmals von den "bösesten", skrupellosesten Menschen bestimmt.
Das größte und ungelöste moralische Problem, das wir haben, ist das Problem des Nord-Süd-Gefälles in der Welt, das der Münchner Soziologe Stephan Lessenich auf den Namen "Externalisierungsgesellschaft" tauft. Eine Minderheit der Weltbevölkerung lebt in Saus und Braus, während Milliarden von Menschen am Existenzminimum oder darunter leben. Eine Minderheit versucht noch die letzten Risiken aus ihren Nahrungsmitteln, ihren Kosmetika und den täglichen Wegen ihrer Kinder auszuschalten, während Milliarden nicht einmal sauberes Wasser und Basisimpfungen haben. Eine Minderheit besinnt sich auf den Wert einer sauberen Umwelt, aber vorzugsweise dadurch, dass Müll und Gifteinsatz in andere Weltteile exportiert werden.
Dieses Problem will Lessenich mit einem großen Knall auf den Tisch legen. Er will unsere Verdrängungsroutinen stören. Denn wir alle wissen natürlich um dieses Problem, scheren uns aber nicht darum. Auch wenn wir nicht böse sind, so seien wir doch Meister im Verdrängen. Der Autor führt drastische Beispiele für das Prinzip der Externalisierung vor, also den Export der negativen Folgen und Begleiterscheinungen unseres Wohlstandslebens anderswohin. So gilt es seit einigen Jahren als schick, Kaffee in Mikro-Portionen abzufüllen. Diese Kaffeepads fressen allerdings allein durch ihren Aluminiumbedarf 100 000 Megawattstunden Strom jährlich, setzen dabei 80 000 Tonnen CO2 frei und erzeugen nach kurzem Genuss 8000 Tonnen Aluminiumabfall, der dann gerne wieder dorthin exportiert wird, wo das Aluminium herkommt. Und das viele Fleisch, das wir essen, kann nur produziert werden dank agro-industriellen Futtermittelanbaus in Südamerika, flankiert von massivem Glyphosat-Einsatz inklusive aller Folgen wie steigenden Krebs- und Missgeburtsraten.
Lessenich stellt sich mit diesem Buch in die Tradition von Ulrich Beck, dessen Lehrstuhl er übernommen hat. Er will Soziologie und allgemeine Öffentlichkeit um die drängenden Probleme der Zeit herum vereinen, und er findet dafür stets griffige, schlagkräftige Formulierungen. "Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse anderer" - so beschreibt er das Grundproblem. Und lustvoll reimt er, dass der "coffee to go" immer auch ein "coffee to throw" ist - nämlich ein Kaffee im Wegwerfbecher, mit 300 000 Stück pro Stunde in Deutschland.
Das Buch ist seiner Natur nach ein Aufschrei, angereichert um Analyse - nicht andersherum. Eingestreut ist eine Art feindosierter, unaggressiver Rest-Marxismus: Lessenich benutzt den Begriff der Ausbeutung und greift locker auf die Weltsystemtheorie und die Theorie ungleichen Tauschs zurück. Er will die "Systemfrage" stellen und einen "Systemwechsel" anregen, auch wenn er ebenso wenig wie irgendjemand sonst sagen kann, wie dieser aussehen soll. Das Buch zielt vorrangig auf Bewusstseinsbildung und Anstoß einer Debatte. Dem analytischen Kopf fallen viele Fragen ein, die mit dem Buch nur angetippt werden und zu denen man gern mehr lesen würde.
Etwa entlang der Dimension Ausbeutung versus Überflüssigkeit. Lessenich vertritt die Position, dass es uns deshalb gutgeht, weil wir den Süden ausbeuten. Nun gibt es aber von kritischen Beobachtern des globalen Gefälles auch andere Beschreibungen. Etwa die: Wenn Afrika morgen im Meer versänke, würde das niemand bemerken, es würde niemandem fehlen. Diese Diagnose - wie immer überspitzt - ist in gewisser Weise noch radikaler, noch härter als die Ausbeutungsdiagnose. Wenn und insoweit sie zutrifft, braucht der reiche Norden den armen Süden nicht einmal mehr, lohnt es sich nicht einmal, ihn auszubeuten. Vermutlich ist an beiden Sichtweisen etwas dran - wie viel, müsste diskutiert werden.
Auch bei der Frage der globalen Vermögensverteilung kann man weiterdenken. Lessenich zitiert die Oxfam-Studie, derzufolge die zweiundsechzig reichsten Personen der Erde so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Das ist sicher eine skandalöse Zahl. Aber was folgt daraus, insbesondere für die Frage nach einem eventuellen Systemwechsel? Was würde passieren, wenn man diesen Reichsten ihr Vermögen jenseits einer Deckelungsgrenze wegnehmen und an die fünfzig Prozent der Ärmsten umverteilen würde? Wäre das Anstoß zu einer nachhaltigen Umverteilung, Initialzündung für ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum im globalen Süden? Oder würde es wirkungslos verpuffen, Einmalmaßnahme ohne Langzeitwirkung angesichts eingefahrener Strukturen weltweiter Arbeitsteilung? Auch hier ist vermutlich an beiden Szenarien etwas dran, und es wäre schön, informierte Mutmaßungen dazu zu lesen.
Schließlich bleibt die Frage offen, wie das hartnäckige Nicht-wissen-Wollen des hiesigen Wohlstandsbürgers genau zu verstehen ist. Lessenich spricht von einem etablierten und allzu bequemen Habitus und verweist auf das psychologische Prinzip der Verdrängung und der Abspaltung. Soziologisch ist indes das Prinzip der Rollentrennung zentral - etwa entlang der Unterscheidung von politischen und wirtschaftlichen Rollen. In unserer Eigenschaft als Inhaber einer politischen Meinung sind wir alle gegen Klimaerwärmung und gegen elende Arbeitsbedingungen in indischen Textilfabriken. Aber in unserer Rolle als Konsument können wir uns sofort danach wieder freuen, dass das T-Shirt nur zehn Euro kostet und dass es gerade einen so günstigen Flug auf die Malediven gibt.
Rollentrennung ist ein sehr wirksames Prinzip, und zwar oft im Guten: Ihm verdanken wir so schöne Dinge wie den Rechtsstaat und die Liebesheirat. Gerade für einen Soziologen müsste die Hoffnung, gegen ein so grundlegendes Bauprinzip der modernen Gesellschaft mit Bewusstseinsbildung ankommen zu können, trügerisch sein. Die Testfrage hierfür wäre, wie viele Tassen Kaffee aus Kaffeepads zur Lektüre von Lessenichs Buch getrunken werden. Immerhin sind es dieselben Lifestyle-Mittelschichtler, die modische Kaffeemaschinen besitzen und die die Zielgruppe des Buches bilden. Ein Pessimist könnte vermuten, dass das noch lange nebeneinander bestehen kann.
Stephan Lessenich: "Neben uns die Sintflut". Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2016. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Coffee to go or not to go, das sollte hier die Frage sein: Der Soziologe Stephan Lessenich liest der Überflussgesellschaft die Leviten.
Von Barbara Kuchler
Es ist gesagt worden, dass wir als Insassen der modernen Gesellschaft technische Giganten, aber moralische Zwerge sind. In Sachen Technik sind wir unschlagbar: Wir schicken Sonden auf den Mars, bauen Nanoroboter und tragen in unseren Hosentaschen eine Rechenleistung mit uns herum, die 1970 die Größe eines Mehrfamilienhauses gehabt hätte. Moralisch hat sich die Gesellschaft seit ihren Anfängen nicht weiterentwickelt. Manche vermuten sogar - zurückentwickelt. Denn während das Leistungsniveau im technischen Bereich von den besten Köpfen abhängt, wird es im moralischen Bereich oftmals von den "bösesten", skrupellosesten Menschen bestimmt.
Das größte und ungelöste moralische Problem, das wir haben, ist das Problem des Nord-Süd-Gefälles in der Welt, das der Münchner Soziologe Stephan Lessenich auf den Namen "Externalisierungsgesellschaft" tauft. Eine Minderheit der Weltbevölkerung lebt in Saus und Braus, während Milliarden von Menschen am Existenzminimum oder darunter leben. Eine Minderheit versucht noch die letzten Risiken aus ihren Nahrungsmitteln, ihren Kosmetika und den täglichen Wegen ihrer Kinder auszuschalten, während Milliarden nicht einmal sauberes Wasser und Basisimpfungen haben. Eine Minderheit besinnt sich auf den Wert einer sauberen Umwelt, aber vorzugsweise dadurch, dass Müll und Gifteinsatz in andere Weltteile exportiert werden.
Dieses Problem will Lessenich mit einem großen Knall auf den Tisch legen. Er will unsere Verdrängungsroutinen stören. Denn wir alle wissen natürlich um dieses Problem, scheren uns aber nicht darum. Auch wenn wir nicht böse sind, so seien wir doch Meister im Verdrängen. Der Autor führt drastische Beispiele für das Prinzip der Externalisierung vor, also den Export der negativen Folgen und Begleiterscheinungen unseres Wohlstandslebens anderswohin. So gilt es seit einigen Jahren als schick, Kaffee in Mikro-Portionen abzufüllen. Diese Kaffeepads fressen allerdings allein durch ihren Aluminiumbedarf 100 000 Megawattstunden Strom jährlich, setzen dabei 80 000 Tonnen CO2 frei und erzeugen nach kurzem Genuss 8000 Tonnen Aluminiumabfall, der dann gerne wieder dorthin exportiert wird, wo das Aluminium herkommt. Und das viele Fleisch, das wir essen, kann nur produziert werden dank agro-industriellen Futtermittelanbaus in Südamerika, flankiert von massivem Glyphosat-Einsatz inklusive aller Folgen wie steigenden Krebs- und Missgeburtsraten.
Lessenich stellt sich mit diesem Buch in die Tradition von Ulrich Beck, dessen Lehrstuhl er übernommen hat. Er will Soziologie und allgemeine Öffentlichkeit um die drängenden Probleme der Zeit herum vereinen, und er findet dafür stets griffige, schlagkräftige Formulierungen. "Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse anderer" - so beschreibt er das Grundproblem. Und lustvoll reimt er, dass der "coffee to go" immer auch ein "coffee to throw" ist - nämlich ein Kaffee im Wegwerfbecher, mit 300 000 Stück pro Stunde in Deutschland.
Das Buch ist seiner Natur nach ein Aufschrei, angereichert um Analyse - nicht andersherum. Eingestreut ist eine Art feindosierter, unaggressiver Rest-Marxismus: Lessenich benutzt den Begriff der Ausbeutung und greift locker auf die Weltsystemtheorie und die Theorie ungleichen Tauschs zurück. Er will die "Systemfrage" stellen und einen "Systemwechsel" anregen, auch wenn er ebenso wenig wie irgendjemand sonst sagen kann, wie dieser aussehen soll. Das Buch zielt vorrangig auf Bewusstseinsbildung und Anstoß einer Debatte. Dem analytischen Kopf fallen viele Fragen ein, die mit dem Buch nur angetippt werden und zu denen man gern mehr lesen würde.
Etwa entlang der Dimension Ausbeutung versus Überflüssigkeit. Lessenich vertritt die Position, dass es uns deshalb gutgeht, weil wir den Süden ausbeuten. Nun gibt es aber von kritischen Beobachtern des globalen Gefälles auch andere Beschreibungen. Etwa die: Wenn Afrika morgen im Meer versänke, würde das niemand bemerken, es würde niemandem fehlen. Diese Diagnose - wie immer überspitzt - ist in gewisser Weise noch radikaler, noch härter als die Ausbeutungsdiagnose. Wenn und insoweit sie zutrifft, braucht der reiche Norden den armen Süden nicht einmal mehr, lohnt es sich nicht einmal, ihn auszubeuten. Vermutlich ist an beiden Sichtweisen etwas dran - wie viel, müsste diskutiert werden.
Auch bei der Frage der globalen Vermögensverteilung kann man weiterdenken. Lessenich zitiert die Oxfam-Studie, derzufolge die zweiundsechzig reichsten Personen der Erde so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Das ist sicher eine skandalöse Zahl. Aber was folgt daraus, insbesondere für die Frage nach einem eventuellen Systemwechsel? Was würde passieren, wenn man diesen Reichsten ihr Vermögen jenseits einer Deckelungsgrenze wegnehmen und an die fünfzig Prozent der Ärmsten umverteilen würde? Wäre das Anstoß zu einer nachhaltigen Umverteilung, Initialzündung für ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum im globalen Süden? Oder würde es wirkungslos verpuffen, Einmalmaßnahme ohne Langzeitwirkung angesichts eingefahrener Strukturen weltweiter Arbeitsteilung? Auch hier ist vermutlich an beiden Szenarien etwas dran, und es wäre schön, informierte Mutmaßungen dazu zu lesen.
Schließlich bleibt die Frage offen, wie das hartnäckige Nicht-wissen-Wollen des hiesigen Wohlstandsbürgers genau zu verstehen ist. Lessenich spricht von einem etablierten und allzu bequemen Habitus und verweist auf das psychologische Prinzip der Verdrängung und der Abspaltung. Soziologisch ist indes das Prinzip der Rollentrennung zentral - etwa entlang der Unterscheidung von politischen und wirtschaftlichen Rollen. In unserer Eigenschaft als Inhaber einer politischen Meinung sind wir alle gegen Klimaerwärmung und gegen elende Arbeitsbedingungen in indischen Textilfabriken. Aber in unserer Rolle als Konsument können wir uns sofort danach wieder freuen, dass das T-Shirt nur zehn Euro kostet und dass es gerade einen so günstigen Flug auf die Malediven gibt.
Rollentrennung ist ein sehr wirksames Prinzip, und zwar oft im Guten: Ihm verdanken wir so schöne Dinge wie den Rechtsstaat und die Liebesheirat. Gerade für einen Soziologen müsste die Hoffnung, gegen ein so grundlegendes Bauprinzip der modernen Gesellschaft mit Bewusstseinsbildung ankommen zu können, trügerisch sein. Die Testfrage hierfür wäre, wie viele Tassen Kaffee aus Kaffeepads zur Lektüre von Lessenichs Buch getrunken werden. Immerhin sind es dieselben Lifestyle-Mittelschichtler, die modische Kaffeemaschinen besitzen und die die Zielgruppe des Buches bilden. Ein Pessimist könnte vermuten, dass das noch lange nebeneinander bestehen kann.
Stephan Lessenich: "Neben uns die Sintflut". Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2016. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Lessenich spricht aus, was viele nicht hören wollen. ... Fair einkaufen ist nicht genug, das wird einmal mehr deutlich durch das Buch 'Neben uns die Sintflut'. Doch statt zu entmutigen, versetzt Stephan Lessenich den Leser und die Leserin in eine Art Aufbruchstimmung." Barbara Streidl, taz, 28.02.17
"Dieses Buch würde man manchmal am liebsten in die Ecke feuern, denn der Soziologe Stephan Lessenich konfrontiert einen mit Tatsachen, die man gern verdrängt, weil man sein Leben ändern oder wenigstens ein schlechtes Gewissen haben müsste, wenn man es nicht täte." Susanne Lenz, Frankfurter Rundschau, 14.12.16
"Eine verstörende Analyse weltweiter Ungleichheit. ... 'Neben uns die Sintflut' ist soziologische Analyse und moralischer Appell zugleich. Das Buch legt den Finger in die Wunde, indem es daran erinnert, dass der Reichtum einer Minderheit nicht allein ihrem Fleiß oder einer produktiven Wirtschaft zuzuschreiben ist, sondern maßgeblich, wie Lessenich sagt, der strategischen Position in der Weltwirtschaft." Isabell Fannrich, Deutschlandfunk, 21.11.16
"'Neben uns die Sintflut' erklärt Zusammenhänge einfach und pointiert. ... Es bleibt immer verständlich und spannend zu lesen. Dass man über die Zugespitztheit von Lessenichs Argumenten streiten kann, spricht nicht gegen diese." Wolfgang Seibel, Radio Ö1, 18.11.16
"Lessenich zeigt, dass die Externalisierung kein Unfall ist, auch wenn Politik und Wirtschaft das immer wieer behaupten, sondern dass sie systematisch erfolgt." Roman Herzog, SWR2, 16.11.16
"Der Titel suggeriert es deutlich: Das betrifft uns, eben weil es direkt neben uns passiert - und zwar keineswegs nur moralisch." Gerd Dehnel, rbb Inforadio, 14.11.16
"Lessenich prangert die Schattenseiten unserer auf Konsum und Wachstum basierenden Wirtschaft an." Matthias Hanselmann, Deutschlandradio Kultur, 05.11.16
"Über dieses Buch kann man sich prächtig ärgern, weil es Illusionen zerstört. Aus demselben Grund kann man sich freuen über das Buch, weil man nach der Lektüre einiges klarer sieht. Es ist eines der wichtigsten Debattenbücher dieses Herbstes." Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 22.10.16
"Es gibt Wachstum, aber nicht für alle. Bisher haben die Bewohner armer Länder für unser Wachstum die Zeche bezahlt. ... Lessenichs Buch stellt den Kapitalismus als System in Frage, überzeugend." Franziska Augstein, Süddeutsche Zeitung, 21.10.16
"Stephan Lessenichs Analyse läuft immer wieder auf den Punkt zu, wo er den Leser empfindlich bei der eigenen Lebenswirklichkeit packt." Christian Buß, Spiegel Online, 13.10.16
"Stephan Lessenich legt in 'Neben uns die Sintflut' furios dar, wie sehr unser Wohlstand in der globalisierten Welt darauf basiert, dass wir Armut und Ungerechtigkeit auslagern." Patrick Bauer, Süddeutsche Zeitung Magazin, 29.07.16
"Dieses Buch würde man manchmal am liebsten in die Ecke feuern, denn der Soziologe Stephan Lessenich konfrontiert einen mit Tatsachen, die man gern verdrängt, weil man sein Leben ändern oder wenigstens ein schlechtes Gewissen haben müsste, wenn man es nicht täte." Susanne Lenz, Frankfurter Rundschau, 14.12.16
"Eine verstörende Analyse weltweiter Ungleichheit. ... 'Neben uns die Sintflut' ist soziologische Analyse und moralischer Appell zugleich. Das Buch legt den Finger in die Wunde, indem es daran erinnert, dass der Reichtum einer Minderheit nicht allein ihrem Fleiß oder einer produktiven Wirtschaft zuzuschreiben ist, sondern maßgeblich, wie Lessenich sagt, der strategischen Position in der Weltwirtschaft." Isabell Fannrich, Deutschlandfunk, 21.11.16
"'Neben uns die Sintflut' erklärt Zusammenhänge einfach und pointiert. ... Es bleibt immer verständlich und spannend zu lesen. Dass man über die Zugespitztheit von Lessenichs Argumenten streiten kann, spricht nicht gegen diese." Wolfgang Seibel, Radio Ö1, 18.11.16
"Lessenich zeigt, dass die Externalisierung kein Unfall ist, auch wenn Politik und Wirtschaft das immer wieer behaupten, sondern dass sie systematisch erfolgt." Roman Herzog, SWR2, 16.11.16
"Der Titel suggeriert es deutlich: Das betrifft uns, eben weil es direkt neben uns passiert - und zwar keineswegs nur moralisch." Gerd Dehnel, rbb Inforadio, 14.11.16
"Lessenich prangert die Schattenseiten unserer auf Konsum und Wachstum basierenden Wirtschaft an." Matthias Hanselmann, Deutschlandradio Kultur, 05.11.16
"Über dieses Buch kann man sich prächtig ärgern, weil es Illusionen zerstört. Aus demselben Grund kann man sich freuen über das Buch, weil man nach der Lektüre einiges klarer sieht. Es ist eines der wichtigsten Debattenbücher dieses Herbstes." Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 22.10.16
"Es gibt Wachstum, aber nicht für alle. Bisher haben die Bewohner armer Länder für unser Wachstum die Zeche bezahlt. ... Lessenichs Buch stellt den Kapitalismus als System in Frage, überzeugend." Franziska Augstein, Süddeutsche Zeitung, 21.10.16
"Stephan Lessenichs Analyse läuft immer wieder auf den Punkt zu, wo er den Leser empfindlich bei der eigenen Lebenswirklichkeit packt." Christian Buß, Spiegel Online, 13.10.16
"Stephan Lessenich legt in 'Neben uns die Sintflut' furios dar, wie sehr unser Wohlstand in der globalisierten Welt darauf basiert, dass wir Armut und Ungerechtigkeit auslagern." Patrick Bauer, Süddeutsche Zeitung Magazin, 29.07.16