Set in a Newark neighborhood during a terrifying polio outbreak, Nemesis is a wrenching examination of the forces of circumstance on our lives. Bucky Cantor is a vigorous, dutiful twenty-three-year-old playground director during the summer of 1944. A javelin thrower and weightlifter, he is disappointed with himself because his weak eyes have excluded him from serving in the war alongside his contemporaries. As the devastating disease begins to ravage Bucky's playground, Roth leads us through every inch of emotion such a pestilence can breed: fear, panic, anger, bewilderment, suffering, and pain. Moving between the streets of Newark and a pristine summer camp high in the Poconos, Nemesis tenderly and startlingly depicts Cantor's passage into personal disaster, the condition of childhood, and the painful effect that the wartime polio epidemic has on a closely-knit, family-oriented Newark community and its children.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2011Die schwarze Ader unseres Schicksals
Hinter dem Rücken seines Erzählers gibt der amerikanische Großmeister Philip Roth in seinem neuen Roman "Nemesis" auf die Frage nach Gott und dem Leiden des Menschen seine entsetzlichste und tröstlichste Antwort zugleich.
Ohne ihn gäbe es keinen Impfstoff, und ganz Europa spräche Deutsch: Als der von Kinderlähmung versehrte Franklin Delano Roosevelt, Hitlers künftige Nemesis auf Krücken und in Beinschienen aus Stahl, 1924 die Heilquelle Warm Springs in Georgia für sich entdeckte und als Poliokranke aus allen Teilen der Vereinigten Staaten nach Georgia pilgerten und die gesunden Kurgäste sich bei der Verwaltung über "die unbekömmlichen Krüppel" um sich her beschwerten, kaufte Roosevelt in heiligem Zorn die gesamte Anlage auf und baute sie zu einem Rehabilitationszentrum für Opfer der Kinderlähmung aus. Von solchen Millionärsmanövern, die Rettung und Rache in einem sind, kann ein Durchschnittsmensch wie Philip Roths Held Eugene "Bucky" Cantor nur träumen.
Und doch ist FDRs Amtsantrittsmaxime "Wir haben nichts zu fürchten außer der Furcht" auch das Credo des dreiundzwanzigjährigen Sportlehrers und Speerwerfers Bucky Cantor in "Nemesis": Weichherzig wie FDR, geduldig, robust, tapfer und frei von Selbstmitleid, ist Cantor wohl die bislang bewegendste Schöpfung in Philip Roths Werk, und wäre er nicht der zutiefst bescheiden begüterte Sohn eines straffällig gewordenen Vaters, hätte er sein ganzes Vermögen in eine solche Stiftung investiert: Im mückendurchschwärmt schwülen Sommer des Jahres 1944 in Newark, New Jersey, fällt die Polio auf dem Sportplatz Bucky Cantors über die Jugendlichen her, und an der Verbreitung sind zunächst streunende Katzen, dann die Italiener, die Juden und zuletzt - eine Verneigung Roths vor William Faulkners Benjy aus "Schall und Wahn" - der arme Wirrkopf Horace schuld, der den Menschen um sich her nur die Hand schütteln will zum Zeichen, dass er einer von ihnen ist.
Cantor beschwichtigt; Cantor beschützt; Cantor trauert um einen Toten nach dem andern in ihren Särgen, diesen Kisten, in denen "ein Zwölfjähriger für immer zwölf Jahre alt blieb. Wir anderen leben und werden jeden Tag älter, er aber bleibt für immer zwölf. Millionen Jahre vergehen, doch er ist noch immer zwölf."
Und Cantor schämt sich, seiner Kurzsichtigkeit wegen nicht im "Großen Krieg" gegen die Nationalsozialisten kämpfen zu können. Obwohl ein Ausbund an Pflichtbewusstsein, lässt er sich dennoch von seiner Verlobten Marcia in einem schwachen Moment dazu verleiten, Newark zu verlassen, und es bleibt ungewiss, ob er im Sommercamp Indian Hill Polio verbreitet oder dort selbst erst infiziert wird davon. Aus einem Schuldgefühl, das er gleich einer Gestalt Shakespeares zu einem universellen Schauspiel weitet, verwandelt sich Cantor in seine eigene Nemesis: Er rächt sich an sich selbst, einem menschenopfergierigen Gott und unbewusst auch an Marcia, indem er ihr seine Liebe versagt. Verstümmelt schleppt er sich als minderer Postbeamter durch die Stadt, ein Schuldloser, der die gesamte Menschheit auf Knien um Vergebung bittet: Sein Alltag ist ein Tagebuch des Schmerzes und Bucky Cantor der liebenswerteste Held, den Philip Roth bisher ersonnen hat.
Ein Held also: nichtsdestotrotz - und darum auch taugt Cantor nicht als Roosevelts "Gegenteil", zu dem der herrschsüchtig meinungsvernarrte Erzähler des Romans, einer der ehemaligen Schüler Cantors, Arnold Mesnikoff, ihn so plakativ herabzusetzen sucht. Mesnikoff tarnt seine grimme Resignation als lebensernüchterten Realismus und vermag zuletzt nur kläglich selbstentlarvend jenen Vorwurf zu wiederholen, an dem Cantor längst selbst seelisch zugrunde gegangen ist: dass er Newark niemals hätte verlassen dürfen. Mesnikoff hat die alles überwältigende Autorität des Todes anerkannt, kündigt damit unwissentlich die existentielle Solidarität der Menschen untereinander auf und hadert auch mit keinem Gott mehr, den Cantor hasst, weil dieser große Unbekannte solches Leid zuließ, wenn nicht selbst geschaffen hat, und den er damit, kraft Negation, doch noch respektiert.
So trägt Bucky den Namen "Kantor", eines Chorleiters im Gottesdienst, nicht von ungefähr: Auch wenn Selbstachtung und Würde des Menschen ihm gebieten mögen, an Gott nicht mehr zu glauben, birgt Mesnikoffs träge indifferentes Weltbild die Gefahr, in uns nurmehr banale Kreaturen erblicken zu können, die zum Sterben gerade gut genug sind. Und dagegen protestiert Philip Roths gesamtes Werk.
Was für Cantor "Gott" und böse, der Herr der Polio übertragenden Fliegen, das ist für Mesnikoff die "Macht des Zufalls", die "Kontingenz" oder eine zu "bösen Streichen" aufgelegte "Natur" - nebulöse Begriffe, für die man ebenso gut gleich wieder "Gott" einsetzen könnte. Und "Gott" ist, gerade auch als der Widerpart, der er schon immer war, in unser kulturelles Gedächtnis so unauslöschlich eingefügt, dass ihn daraus zu verbannen dem Versuch gleichkäme, einen Sturmregen in Brand zu setzen.
Das ist die Pointe Roths und Mesnikoffs Schwäche: Er denkt nicht weit. Auch ist 1971, da Mesnikoff Cantor wiederbegegnet, das zwanzigste längst zu jenem Jahrhundert verkommen, da die Frage "Wo war Gott in Auschwitz?" längst von der Frage "Wo war der Mensch?" verdrängt worden ist: Sollte ein Glaube an Gott keiner Sinnsuche mehr gefällig sein, so ist die pathetische Idee des Menschen und das Grundvertrauen, das wir einmal in uns hegten, unwiderruflicher zunichte als der Glaube an die etwaige Null namens Gott. Umgekehrt ließe sich fragen: Glaubt Gott noch an uns?
Mit Alexander Portnoy, Peter Tarnopol und Mickey Sabbath wurde Philip Roth zur Literaturikone eines herausfordernd unnachgiebigen Freiheitswillens und zu einem derart mächtigen Inbild westlicher Zivilisation, dass sich selbst beleidigt, wer ihn heute noch ob seiner angeblich pornokratischen Widerwärtigkeiten schmäht. Seit dem Tod seines Kollegen Saul Bellow aber ist der fast Achtzigjährige trauriger und einsilbiger geworden, zorniger auch und hart gegen sich selbst: Jahr um Jahr sterben ihm Freunde und Verwandte weg, und er würde - mittlerweile Experte in Grabreden - nun nicht mehr den Beruf des Schriftstellers ergreifen wollen, wie er verbittert versichert, sondern den zulänglicheren des Arztes, um nicht immer nur das Leid von Menschen in Büchern zu proben, es dabei ohnehin nicht fassen und keine Linderung bringen zu können.
Und so rundet Roth mit einer neuen Meisterleistung in Sachen Daseinsdüsternis, "Nemesis", seinen Zyklus an Kurzromanen um unsere Todesverfallenheit und Gottverlassenheit - "Jedermann", "Empörung", "Demütigung" - zu einer Tetralogie von altgriechischer Tragödienschwere. Mit diesen vier Romanen hat man in nuce den gesamten späten Roth vor sich: in einer unzähmbaren Traurigkeit, die wie die schwarze Ader unseres Schicksals, zum Sterben geboren zu sein, seine Alterswelt durchzieht und doch schon immer die Unterseite seiner raubtierwilden Komik war. Das sah Roth einst beklommen voraus: So glücklich, wie er es während der Niederschrift von "Sabbaths Theater" war in seiner Wut und prunkenden sprachlichen Brillanz, die er auch gegen seine Gegner, die "Anti-Roth-Leser", in Anschlag brachte, würde er niemals mehr sein.
Doch die Größe eines Autors bemisst sich, wie wir von Jane Austen bis Leo Tolstoi wissen, zuletzt immer daran, ob wir uns an ihn halten können, wenn wir uns selbst zu erklären abmühen, was uns, wie in der "Demütigung", bis zum Freitod quält - und es ist Roths Geheimnis, dass er über die unerfindliche Schönheit seines Stils und struktureller Spannungsfinessen dem Leser jenen Trost gewährt, den er seinen Geschöpfen versagt. Roth ist ein Stück Heimat, jede Lektüre ein privates Erlebnis, so, als läse man den sehr persönlich gehaltenen Brief eines guten alten Freundes, auf dem als Wasserzeichen sich der Satz eingeprägt findet: "Versuche, keine Angst zu haben, nichts ist es wert." Darin auch bleibt Philip Roth, der mitleidvollste Schriftsteller der Welt, unerreicht: Von "Nemesis" werden sich selbst diejenigen getröstet und gestärkt finden, die noch gar nicht wussten, wie traurig sie im Innersten sind.
MARKUS GASSER
Philip Roth: "Nemesis". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2011. 221 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hinter dem Rücken seines Erzählers gibt der amerikanische Großmeister Philip Roth in seinem neuen Roman "Nemesis" auf die Frage nach Gott und dem Leiden des Menschen seine entsetzlichste und tröstlichste Antwort zugleich.
Ohne ihn gäbe es keinen Impfstoff, und ganz Europa spräche Deutsch: Als der von Kinderlähmung versehrte Franklin Delano Roosevelt, Hitlers künftige Nemesis auf Krücken und in Beinschienen aus Stahl, 1924 die Heilquelle Warm Springs in Georgia für sich entdeckte und als Poliokranke aus allen Teilen der Vereinigten Staaten nach Georgia pilgerten und die gesunden Kurgäste sich bei der Verwaltung über "die unbekömmlichen Krüppel" um sich her beschwerten, kaufte Roosevelt in heiligem Zorn die gesamte Anlage auf und baute sie zu einem Rehabilitationszentrum für Opfer der Kinderlähmung aus. Von solchen Millionärsmanövern, die Rettung und Rache in einem sind, kann ein Durchschnittsmensch wie Philip Roths Held Eugene "Bucky" Cantor nur träumen.
Und doch ist FDRs Amtsantrittsmaxime "Wir haben nichts zu fürchten außer der Furcht" auch das Credo des dreiundzwanzigjährigen Sportlehrers und Speerwerfers Bucky Cantor in "Nemesis": Weichherzig wie FDR, geduldig, robust, tapfer und frei von Selbstmitleid, ist Cantor wohl die bislang bewegendste Schöpfung in Philip Roths Werk, und wäre er nicht der zutiefst bescheiden begüterte Sohn eines straffällig gewordenen Vaters, hätte er sein ganzes Vermögen in eine solche Stiftung investiert: Im mückendurchschwärmt schwülen Sommer des Jahres 1944 in Newark, New Jersey, fällt die Polio auf dem Sportplatz Bucky Cantors über die Jugendlichen her, und an der Verbreitung sind zunächst streunende Katzen, dann die Italiener, die Juden und zuletzt - eine Verneigung Roths vor William Faulkners Benjy aus "Schall und Wahn" - der arme Wirrkopf Horace schuld, der den Menschen um sich her nur die Hand schütteln will zum Zeichen, dass er einer von ihnen ist.
Cantor beschwichtigt; Cantor beschützt; Cantor trauert um einen Toten nach dem andern in ihren Särgen, diesen Kisten, in denen "ein Zwölfjähriger für immer zwölf Jahre alt blieb. Wir anderen leben und werden jeden Tag älter, er aber bleibt für immer zwölf. Millionen Jahre vergehen, doch er ist noch immer zwölf."
Und Cantor schämt sich, seiner Kurzsichtigkeit wegen nicht im "Großen Krieg" gegen die Nationalsozialisten kämpfen zu können. Obwohl ein Ausbund an Pflichtbewusstsein, lässt er sich dennoch von seiner Verlobten Marcia in einem schwachen Moment dazu verleiten, Newark zu verlassen, und es bleibt ungewiss, ob er im Sommercamp Indian Hill Polio verbreitet oder dort selbst erst infiziert wird davon. Aus einem Schuldgefühl, das er gleich einer Gestalt Shakespeares zu einem universellen Schauspiel weitet, verwandelt sich Cantor in seine eigene Nemesis: Er rächt sich an sich selbst, einem menschenopfergierigen Gott und unbewusst auch an Marcia, indem er ihr seine Liebe versagt. Verstümmelt schleppt er sich als minderer Postbeamter durch die Stadt, ein Schuldloser, der die gesamte Menschheit auf Knien um Vergebung bittet: Sein Alltag ist ein Tagebuch des Schmerzes und Bucky Cantor der liebenswerteste Held, den Philip Roth bisher ersonnen hat.
Ein Held also: nichtsdestotrotz - und darum auch taugt Cantor nicht als Roosevelts "Gegenteil", zu dem der herrschsüchtig meinungsvernarrte Erzähler des Romans, einer der ehemaligen Schüler Cantors, Arnold Mesnikoff, ihn so plakativ herabzusetzen sucht. Mesnikoff tarnt seine grimme Resignation als lebensernüchterten Realismus und vermag zuletzt nur kläglich selbstentlarvend jenen Vorwurf zu wiederholen, an dem Cantor längst selbst seelisch zugrunde gegangen ist: dass er Newark niemals hätte verlassen dürfen. Mesnikoff hat die alles überwältigende Autorität des Todes anerkannt, kündigt damit unwissentlich die existentielle Solidarität der Menschen untereinander auf und hadert auch mit keinem Gott mehr, den Cantor hasst, weil dieser große Unbekannte solches Leid zuließ, wenn nicht selbst geschaffen hat, und den er damit, kraft Negation, doch noch respektiert.
So trägt Bucky den Namen "Kantor", eines Chorleiters im Gottesdienst, nicht von ungefähr: Auch wenn Selbstachtung und Würde des Menschen ihm gebieten mögen, an Gott nicht mehr zu glauben, birgt Mesnikoffs träge indifferentes Weltbild die Gefahr, in uns nurmehr banale Kreaturen erblicken zu können, die zum Sterben gerade gut genug sind. Und dagegen protestiert Philip Roths gesamtes Werk.
Was für Cantor "Gott" und böse, der Herr der Polio übertragenden Fliegen, das ist für Mesnikoff die "Macht des Zufalls", die "Kontingenz" oder eine zu "bösen Streichen" aufgelegte "Natur" - nebulöse Begriffe, für die man ebenso gut gleich wieder "Gott" einsetzen könnte. Und "Gott" ist, gerade auch als der Widerpart, der er schon immer war, in unser kulturelles Gedächtnis so unauslöschlich eingefügt, dass ihn daraus zu verbannen dem Versuch gleichkäme, einen Sturmregen in Brand zu setzen.
Das ist die Pointe Roths und Mesnikoffs Schwäche: Er denkt nicht weit. Auch ist 1971, da Mesnikoff Cantor wiederbegegnet, das zwanzigste längst zu jenem Jahrhundert verkommen, da die Frage "Wo war Gott in Auschwitz?" längst von der Frage "Wo war der Mensch?" verdrängt worden ist: Sollte ein Glaube an Gott keiner Sinnsuche mehr gefällig sein, so ist die pathetische Idee des Menschen und das Grundvertrauen, das wir einmal in uns hegten, unwiderruflicher zunichte als der Glaube an die etwaige Null namens Gott. Umgekehrt ließe sich fragen: Glaubt Gott noch an uns?
Mit Alexander Portnoy, Peter Tarnopol und Mickey Sabbath wurde Philip Roth zur Literaturikone eines herausfordernd unnachgiebigen Freiheitswillens und zu einem derart mächtigen Inbild westlicher Zivilisation, dass sich selbst beleidigt, wer ihn heute noch ob seiner angeblich pornokratischen Widerwärtigkeiten schmäht. Seit dem Tod seines Kollegen Saul Bellow aber ist der fast Achtzigjährige trauriger und einsilbiger geworden, zorniger auch und hart gegen sich selbst: Jahr um Jahr sterben ihm Freunde und Verwandte weg, und er würde - mittlerweile Experte in Grabreden - nun nicht mehr den Beruf des Schriftstellers ergreifen wollen, wie er verbittert versichert, sondern den zulänglicheren des Arztes, um nicht immer nur das Leid von Menschen in Büchern zu proben, es dabei ohnehin nicht fassen und keine Linderung bringen zu können.
Und so rundet Roth mit einer neuen Meisterleistung in Sachen Daseinsdüsternis, "Nemesis", seinen Zyklus an Kurzromanen um unsere Todesverfallenheit und Gottverlassenheit - "Jedermann", "Empörung", "Demütigung" - zu einer Tetralogie von altgriechischer Tragödienschwere. Mit diesen vier Romanen hat man in nuce den gesamten späten Roth vor sich: in einer unzähmbaren Traurigkeit, die wie die schwarze Ader unseres Schicksals, zum Sterben geboren zu sein, seine Alterswelt durchzieht und doch schon immer die Unterseite seiner raubtierwilden Komik war. Das sah Roth einst beklommen voraus: So glücklich, wie er es während der Niederschrift von "Sabbaths Theater" war in seiner Wut und prunkenden sprachlichen Brillanz, die er auch gegen seine Gegner, die "Anti-Roth-Leser", in Anschlag brachte, würde er niemals mehr sein.
Doch die Größe eines Autors bemisst sich, wie wir von Jane Austen bis Leo Tolstoi wissen, zuletzt immer daran, ob wir uns an ihn halten können, wenn wir uns selbst zu erklären abmühen, was uns, wie in der "Demütigung", bis zum Freitod quält - und es ist Roths Geheimnis, dass er über die unerfindliche Schönheit seines Stils und struktureller Spannungsfinessen dem Leser jenen Trost gewährt, den er seinen Geschöpfen versagt. Roth ist ein Stück Heimat, jede Lektüre ein privates Erlebnis, so, als läse man den sehr persönlich gehaltenen Brief eines guten alten Freundes, auf dem als Wasserzeichen sich der Satz eingeprägt findet: "Versuche, keine Angst zu haben, nichts ist es wert." Darin auch bleibt Philip Roth, der mitleidvollste Schriftsteller der Welt, unerreicht: Von "Nemesis" werden sich selbst diejenigen getröstet und gestärkt finden, die noch gar nicht wussten, wie traurig sie im Innersten sind.
MARKUS GASSER
Philip Roth: "Nemesis". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2011. 221 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2011Krieg gegen Gott
In „Nemesis“ verknüpft Philip Roth abermals die Geschichte eines jungen Mannes mit einer politischen Parabel
Bucky Cantor glaubt eigentlich nicht an Gott, doch das hindert ihn nicht daran, wie Hiob zu hadern. Denn das, was Menschen zu ertragen haben, ist so grausam, dass es nicht einfach nur Zufall sein kann. Es muss ein Plan dahinter stecken, ein Plan, den sich ein allmächtiges Wesen ausgedacht hat, um ihn, Bucky Cantor zu prüfen. Und dieses Wesen stellt er sich nicht als heilige Dreifaltigkeit vor wie im Christentum, sondern als „eine Zweifaltigkeit – die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie“, schreibt Philip Roth in seinem neuen Roman „Nemesis“.
Als eine Polio-Epidemie in seiner Heimatstadt Newark ausbricht, sieht der 23-jährige Sportlehrer Bucky Cantor darin eine Heimsuchung. Tatenlos muss er mitansehen, wie die Kinderlähmung immer mehr Opfer fordert. Auch zwei der ihm anvertrauten Jungen sterben, und deren Eltern geben ihm die Schuld an ihrem Tod. Vollends greift die Paranoia um sich, als die Infektion von den ärmeren Vierteln in das bessere Weequahic vordringt, wo Bucky an den glutheißen Nachmittagen des letzten Kriegssommers 1944 die Aufsicht auf dem Sportplatz hat. Und diese Paranoia ist das zweite und noch verheerendere Virus, das in der Stadt wütet, und dasjenige, um das es Philip Roth in „Nemesis“ geht.
Dass im Jahr 1944 noch nichts über die Übertragungswege der Polio-Krankheit bekannt war, ist die Voraussetzung des Buches, der blinde Fleck, der die Erzählung in Gang setzt und die Theodizee auf den Plan ruft, um dem Unbegreiflichen einen Sinn beizulegen. Hysterisch reagieren die Bewohner von Newark auf die immer größere Kreise ziehende Epidemie. Sind es die Mücken im Park? Ist es der Müll auf den Straßen? Die sengende Hitze selbst? Eltern holen ihre Kinder von der Straße, verbieten ihnen, sich der Sonne auszusetzen, die öffentlichen Trinkbrunnen zu benutzen und die Leihbücherei zu besuchen. Wer kann, flüchtet in die Berge oder ans Meer, nur fort aus der verfluchten Stadt. Ein Gammler, der alte, geistesschwache Horace wird attackiert und für die Ansteckung verantwortlich gemacht.
Als ein paar italienische Halbstarke am Sportplatz auftauchen und den Kindern Angst machen, indem sie demonstrativ auf den Boden spucken, um, wie sie sagen, die Seuche in deren bislang noch verschont gebliebene Gegend zu bringen, gelingt es Bucky, durch seine Entschlossenheit die Störenfriede zu vertreiben. Sein mannhafter Einsatz macht ihn zum Helden der Kinder, die ihn bisher schon als Lehrer und Sportskanone bewundern. Aber auch Bucky ist nicht frei von Angst und Panik. Den Eistee, der ihm angeboten wird, als er den Eltern eines der verstorbenen Jungen seinen Kondolenzbesuch abstattet, lässt er unberührt, obwohl seine Kehle ausgedörrt ist von der Hitze. Doch einen saftigen Pfirsich lehnt er nicht ab, denn es ist der Vater von Marcia, der Frau, mit der er sich verloben will, der ihm die Frucht reicht.
Dieser Pfirsich ist zugleich ein Symbol für die Versuchung des Fleisches, die Buckys Zwiespalt noch verstärkt. Marcia arbeitet in einem Ferienlager in den Poconos und bedrängt Bucky sanft, den Job als Bademeister im selben Camp anzunehmen, den sie ihm besorgt hat. Aber Bucky ist entschlossen, in Newark die Stellung zu halten. Die Kinder zu beschützen, betrachtet er als seinen Kriegseinsatz an der Heimatfront. Ihn, der wegen seiner Brille und seiner geringen Körpergröße zurückgestellt wurde, quält es, dass er nicht mit seinen Freunden als Soldat in der Normandie kämpfen darf, gegen jenes noch viel unfassbarere Verhängnis, das Gott ebenfalls nicht verhindert hat: den Massenmord an seinem, dem jüdischen Volk in Europa. Mit wehenden Fahnen wäre er in den Krieg gezogen, denn für den Krieg ist Bucky, dieser Modellathlet, begnadete Turmspringer und Speerwerfer mit seinem wie aus Eisen gegossenen, bis in den letzten Muskel definierten Körper gemacht, schreibt Roth, der seiner Romanfigur alle Züge eines klassischen Helden verleiht, bis hin zu dessen klassischer Waffe, dem Speer. „Unbesiegbar“ lautet das letzte Wort des Romans, denn dafür halten ihn seine Jungen, wenn er den Speer schleudert.
Doch seinen Krieg wird Bucky Cantor, der amerikanische Achill, verlieren. Obwohl er über das Kriegsglück genauso wenig Macht hat wie über die Kinderlähmung, sieht er sich als negative Gegenfigur zu dem prominentesten Polio-Opfer, Präsident Roosevelt, der an den beiden Fronten siegreich war, an denen Bucky versagte, indem er die Wende im Zweiten Weltkrieg herbeiführte und maßgeblich dazu beitrug, einen Impfstoff zu entwickeln. So befreite er die Welt von zwei Übeln seiner Epoche: Hitler und Polio. Das ist der große historische Resonanzraum, den Roth in seinem nur gut zweihundert Seiten umfassenden Roman öffnet und in den er seinen Helden hineinstellt, der sich doppelt schuldig fühlt: weil er Amerika nicht in Europa verteidigt und weil er dessen Kinder verrät, als er plötzlich doch nachgibt und Marcia in die Poconos folgt, wenige Tage, bevor der Sportplatz ohnehin geschlossen wird. Die kurze Pastorale in der ländlichen Idylle samt Kanufahrten und Liebesnächten auf der Insel im See, mit denen Roth einen klassischen Topos zitiert, die Einschiffung nach Kythera, der mythischen Insel der Göttin Aphrodite – dieses zarte Aquarell in der sonst schroff, mit wütenden Strichen gezeichneten Geschichte, geht dem erbarmungslosen Rendezvous Bucky Cantors mit der Rachegöttin voraus.
Die Epidemie erreicht das Camp, und als auch Bucky krank wird, ist er davon überzeugt, er habe das Virus eingeschleppt. Hier bricht die Fabel jäh ab und springt ins Jahr 1971, in dem sich endlich der Erzähler des Romans zu erkennen gibt. Es ist einer von Bucky Cantors ehemaligen Schülern. Selbst von der Kinderlähmung gezeichnet, schildert er, was aus seinem Lehrer wurde: ein verbitterter und vereinsamter Krüppel, der auf Marcia verzichtete und sich als Postbeamter über die Runden bringt.
Der dritte und letzte Teil von „Nemesis“ stürzt den Leser mit größter Wucht, geradezu rasend in den Abgrund einer klassischen Tragödie, als welche auch bereits die vorhergehenden Bücher angelegt waren. Mit diesem Werk vollendet Philip Roth eine Tetralogie kürzerer Romane, in denen er die Summe seiner Themen und seines Könnens zieht, meisterhaft alles, was ihn als Schriftsteller ausmacht, zusammenführt und konzentriert. Auch in die vorhergehenden Romane, „Empörung“ und „Die Demütigung“ hatte Roth seine geballte Lebenswut gelegt und seine Prosa in ein Geschoss verwandelt. Der 77-Jährige wird von Buch zu Buch nicht nur düsterer, sondern auch immer härter, schonungsloser. Dabei hat er die beiden thematischen Stränge in seinem Werk in vollendeter Form miteinander verknüpft, den Stoff der autobiographisch geprägten Romane, die um Herkunft, Familie, Vergänglichkeit, um Frauen und um Künstlerschaft kreisten, und jene Parabeln, in denen er auf die großen historischen und politischen Fragen Amerikas ausgriff.
Jetzt spielt alles ineinander und befeuert sich gegenseitig, und in diesem Zusammenspiel wirkt sein Stil sehnig, ausgezehrt und von einer nachgerade unerbittlichen Erzählökonomie gestählt. Beispielhaft hierfür ist in „Nemesis“ die Plastizität, mit der Roth die sommerliche Atmosphäre des Newarks seiner Kindheit zum Leben zu erwecken versteht, die durch Herkunft beglaubigten Details jedoch als Bruchstücke für den Aufbau einer fiktionalen moralischen Versuchsanordnung verwendet. Exemplarisch ist auch die Hauptfigur, die nur die jüngste in der langen Reihen jüdischer junger Männer ist, strebsam, begabt, aufstiegswillig – und nah an Roth selbst. Man muss die Meisterschaft des Autors um so mehr rühmen, als dieser Bucky Cantor trotz all seiner Kraft als Romanfigur letztlich leider doch zu schwach ist, um die historischen Lasten zu tragen, die sein Erfinder ihm aufbürdet.
Um dessen Schuldkomplex, diese heillose Identifikation mit den dunklen Schicksalsmächten, die als letzte Verzweigung der jüdischen Leidensgeschichte zu verstehen ist, glaubhaft zu machen, muss Roth die Unterlegenheitsgefühle früh in der Kindheit verankern. So lässt er Bucky bei den Großeltern aufwachsen, weil die Mutter bei seiner Geburt starb und sein Vater straffällig wurde. Der Sohn versucht nun unter den Kampfbedingungen der Assimilation, das, was er als Schuld empfindet, wieder gutzumachen. Doch den Gewissensbissen des Helden fehlt eine hinreichend tragfähige objektive Grundlage.
„Er wurde von einem übersteigerten Pflichtgefühl getrieben, besaß aber zu wenig geistige Statur, und dafür hat er einen hohen Preis gezahlt“. Diese lapidaren Worte legt Roth zwar dem Erzähler in den Mund. Doch woher kommt dieses „Pflichtgefühl“? Und warum muss es den Helden in den Untergang treiben? Philip Roth hat das Defizit in der literarischen Motivation seines Protagonisten vielleicht gespürt. Indem er Bucky Cantor in zwei Disziplinen triumphal in Szene setzt, als Turmspringer und als Speerwerfer, versucht er, seinen Helden zu überhöhen, verwandelt ihn in eine trotz ihrer Kleinwüchsigkeit übergroße Gestalt. Das ist eindrucksvoll, mitreißend und entfaltet einige rhetorische Wucht – lässt aber einen Leser zurück, der sich am Ende nicht nur über Bucky, sondern auch über die eigene Begeisterung wundert. CHRISTOPHER SCHMIDT
PHILIP ROTH: Nemesis. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2011. 224 Seiten, 18,90 Euro.
Modellathlet und Speerwerfer
– im Mittelpunkt des Romans
steht ein amerikanischer Achill
Schuldig geboren
unter den Kampfbedingungen
der Assimiliation
Es ist ein glutheißer Sommer in der Stadt Newark 1944, und eine Polio-Epidemie macht den Kindern das Leben zur Hölle. Foto: Orlando/Getty Images
Der beste Erzähler der Welt: Philip Roth. Foto: Chris Maluszynski/Agentur Focus
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In „Nemesis“ verknüpft Philip Roth abermals die Geschichte eines jungen Mannes mit einer politischen Parabel
Bucky Cantor glaubt eigentlich nicht an Gott, doch das hindert ihn nicht daran, wie Hiob zu hadern. Denn das, was Menschen zu ertragen haben, ist so grausam, dass es nicht einfach nur Zufall sein kann. Es muss ein Plan dahinter stecken, ein Plan, den sich ein allmächtiges Wesen ausgedacht hat, um ihn, Bucky Cantor zu prüfen. Und dieses Wesen stellt er sich nicht als heilige Dreifaltigkeit vor wie im Christentum, sondern als „eine Zweifaltigkeit – die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie“, schreibt Philip Roth in seinem neuen Roman „Nemesis“.
Als eine Polio-Epidemie in seiner Heimatstadt Newark ausbricht, sieht der 23-jährige Sportlehrer Bucky Cantor darin eine Heimsuchung. Tatenlos muss er mitansehen, wie die Kinderlähmung immer mehr Opfer fordert. Auch zwei der ihm anvertrauten Jungen sterben, und deren Eltern geben ihm die Schuld an ihrem Tod. Vollends greift die Paranoia um sich, als die Infektion von den ärmeren Vierteln in das bessere Weequahic vordringt, wo Bucky an den glutheißen Nachmittagen des letzten Kriegssommers 1944 die Aufsicht auf dem Sportplatz hat. Und diese Paranoia ist das zweite und noch verheerendere Virus, das in der Stadt wütet, und dasjenige, um das es Philip Roth in „Nemesis“ geht.
Dass im Jahr 1944 noch nichts über die Übertragungswege der Polio-Krankheit bekannt war, ist die Voraussetzung des Buches, der blinde Fleck, der die Erzählung in Gang setzt und die Theodizee auf den Plan ruft, um dem Unbegreiflichen einen Sinn beizulegen. Hysterisch reagieren die Bewohner von Newark auf die immer größere Kreise ziehende Epidemie. Sind es die Mücken im Park? Ist es der Müll auf den Straßen? Die sengende Hitze selbst? Eltern holen ihre Kinder von der Straße, verbieten ihnen, sich der Sonne auszusetzen, die öffentlichen Trinkbrunnen zu benutzen und die Leihbücherei zu besuchen. Wer kann, flüchtet in die Berge oder ans Meer, nur fort aus der verfluchten Stadt. Ein Gammler, der alte, geistesschwache Horace wird attackiert und für die Ansteckung verantwortlich gemacht.
Als ein paar italienische Halbstarke am Sportplatz auftauchen und den Kindern Angst machen, indem sie demonstrativ auf den Boden spucken, um, wie sie sagen, die Seuche in deren bislang noch verschont gebliebene Gegend zu bringen, gelingt es Bucky, durch seine Entschlossenheit die Störenfriede zu vertreiben. Sein mannhafter Einsatz macht ihn zum Helden der Kinder, die ihn bisher schon als Lehrer und Sportskanone bewundern. Aber auch Bucky ist nicht frei von Angst und Panik. Den Eistee, der ihm angeboten wird, als er den Eltern eines der verstorbenen Jungen seinen Kondolenzbesuch abstattet, lässt er unberührt, obwohl seine Kehle ausgedörrt ist von der Hitze. Doch einen saftigen Pfirsich lehnt er nicht ab, denn es ist der Vater von Marcia, der Frau, mit der er sich verloben will, der ihm die Frucht reicht.
Dieser Pfirsich ist zugleich ein Symbol für die Versuchung des Fleisches, die Buckys Zwiespalt noch verstärkt. Marcia arbeitet in einem Ferienlager in den Poconos und bedrängt Bucky sanft, den Job als Bademeister im selben Camp anzunehmen, den sie ihm besorgt hat. Aber Bucky ist entschlossen, in Newark die Stellung zu halten. Die Kinder zu beschützen, betrachtet er als seinen Kriegseinsatz an der Heimatfront. Ihn, der wegen seiner Brille und seiner geringen Körpergröße zurückgestellt wurde, quält es, dass er nicht mit seinen Freunden als Soldat in der Normandie kämpfen darf, gegen jenes noch viel unfassbarere Verhängnis, das Gott ebenfalls nicht verhindert hat: den Massenmord an seinem, dem jüdischen Volk in Europa. Mit wehenden Fahnen wäre er in den Krieg gezogen, denn für den Krieg ist Bucky, dieser Modellathlet, begnadete Turmspringer und Speerwerfer mit seinem wie aus Eisen gegossenen, bis in den letzten Muskel definierten Körper gemacht, schreibt Roth, der seiner Romanfigur alle Züge eines klassischen Helden verleiht, bis hin zu dessen klassischer Waffe, dem Speer. „Unbesiegbar“ lautet das letzte Wort des Romans, denn dafür halten ihn seine Jungen, wenn er den Speer schleudert.
Doch seinen Krieg wird Bucky Cantor, der amerikanische Achill, verlieren. Obwohl er über das Kriegsglück genauso wenig Macht hat wie über die Kinderlähmung, sieht er sich als negative Gegenfigur zu dem prominentesten Polio-Opfer, Präsident Roosevelt, der an den beiden Fronten siegreich war, an denen Bucky versagte, indem er die Wende im Zweiten Weltkrieg herbeiführte und maßgeblich dazu beitrug, einen Impfstoff zu entwickeln. So befreite er die Welt von zwei Übeln seiner Epoche: Hitler und Polio. Das ist der große historische Resonanzraum, den Roth in seinem nur gut zweihundert Seiten umfassenden Roman öffnet und in den er seinen Helden hineinstellt, der sich doppelt schuldig fühlt: weil er Amerika nicht in Europa verteidigt und weil er dessen Kinder verrät, als er plötzlich doch nachgibt und Marcia in die Poconos folgt, wenige Tage, bevor der Sportplatz ohnehin geschlossen wird. Die kurze Pastorale in der ländlichen Idylle samt Kanufahrten und Liebesnächten auf der Insel im See, mit denen Roth einen klassischen Topos zitiert, die Einschiffung nach Kythera, der mythischen Insel der Göttin Aphrodite – dieses zarte Aquarell in der sonst schroff, mit wütenden Strichen gezeichneten Geschichte, geht dem erbarmungslosen Rendezvous Bucky Cantors mit der Rachegöttin voraus.
Die Epidemie erreicht das Camp, und als auch Bucky krank wird, ist er davon überzeugt, er habe das Virus eingeschleppt. Hier bricht die Fabel jäh ab und springt ins Jahr 1971, in dem sich endlich der Erzähler des Romans zu erkennen gibt. Es ist einer von Bucky Cantors ehemaligen Schülern. Selbst von der Kinderlähmung gezeichnet, schildert er, was aus seinem Lehrer wurde: ein verbitterter und vereinsamter Krüppel, der auf Marcia verzichtete und sich als Postbeamter über die Runden bringt.
Der dritte und letzte Teil von „Nemesis“ stürzt den Leser mit größter Wucht, geradezu rasend in den Abgrund einer klassischen Tragödie, als welche auch bereits die vorhergehenden Bücher angelegt waren. Mit diesem Werk vollendet Philip Roth eine Tetralogie kürzerer Romane, in denen er die Summe seiner Themen und seines Könnens zieht, meisterhaft alles, was ihn als Schriftsteller ausmacht, zusammenführt und konzentriert. Auch in die vorhergehenden Romane, „Empörung“ und „Die Demütigung“ hatte Roth seine geballte Lebenswut gelegt und seine Prosa in ein Geschoss verwandelt. Der 77-Jährige wird von Buch zu Buch nicht nur düsterer, sondern auch immer härter, schonungsloser. Dabei hat er die beiden thematischen Stränge in seinem Werk in vollendeter Form miteinander verknüpft, den Stoff der autobiographisch geprägten Romane, die um Herkunft, Familie, Vergänglichkeit, um Frauen und um Künstlerschaft kreisten, und jene Parabeln, in denen er auf die großen historischen und politischen Fragen Amerikas ausgriff.
Jetzt spielt alles ineinander und befeuert sich gegenseitig, und in diesem Zusammenspiel wirkt sein Stil sehnig, ausgezehrt und von einer nachgerade unerbittlichen Erzählökonomie gestählt. Beispielhaft hierfür ist in „Nemesis“ die Plastizität, mit der Roth die sommerliche Atmosphäre des Newarks seiner Kindheit zum Leben zu erwecken versteht, die durch Herkunft beglaubigten Details jedoch als Bruchstücke für den Aufbau einer fiktionalen moralischen Versuchsanordnung verwendet. Exemplarisch ist auch die Hauptfigur, die nur die jüngste in der langen Reihen jüdischer junger Männer ist, strebsam, begabt, aufstiegswillig – und nah an Roth selbst. Man muss die Meisterschaft des Autors um so mehr rühmen, als dieser Bucky Cantor trotz all seiner Kraft als Romanfigur letztlich leider doch zu schwach ist, um die historischen Lasten zu tragen, die sein Erfinder ihm aufbürdet.
Um dessen Schuldkomplex, diese heillose Identifikation mit den dunklen Schicksalsmächten, die als letzte Verzweigung der jüdischen Leidensgeschichte zu verstehen ist, glaubhaft zu machen, muss Roth die Unterlegenheitsgefühle früh in der Kindheit verankern. So lässt er Bucky bei den Großeltern aufwachsen, weil die Mutter bei seiner Geburt starb und sein Vater straffällig wurde. Der Sohn versucht nun unter den Kampfbedingungen der Assimilation, das, was er als Schuld empfindet, wieder gutzumachen. Doch den Gewissensbissen des Helden fehlt eine hinreichend tragfähige objektive Grundlage.
„Er wurde von einem übersteigerten Pflichtgefühl getrieben, besaß aber zu wenig geistige Statur, und dafür hat er einen hohen Preis gezahlt“. Diese lapidaren Worte legt Roth zwar dem Erzähler in den Mund. Doch woher kommt dieses „Pflichtgefühl“? Und warum muss es den Helden in den Untergang treiben? Philip Roth hat das Defizit in der literarischen Motivation seines Protagonisten vielleicht gespürt. Indem er Bucky Cantor in zwei Disziplinen triumphal in Szene setzt, als Turmspringer und als Speerwerfer, versucht er, seinen Helden zu überhöhen, verwandelt ihn in eine trotz ihrer Kleinwüchsigkeit übergroße Gestalt. Das ist eindrucksvoll, mitreißend und entfaltet einige rhetorische Wucht – lässt aber einen Leser zurück, der sich am Ende nicht nur über Bucky, sondern auch über die eigene Begeisterung wundert. CHRISTOPHER SCHMIDT
PHILIP ROTH: Nemesis. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2011. 224 Seiten, 18,90 Euro.
Modellathlet und Speerwerfer
– im Mittelpunkt des Romans
steht ein amerikanischer Achill
Schuldig geboren
unter den Kampfbedingungen
der Assimiliation
Es ist ein glutheißer Sommer in der Stadt Newark 1944, und eine Polio-Epidemie macht den Kindern das Leben zur Hölle. Foto: Orlando/Getty Images
Der beste Erzähler der Welt: Philip Roth. Foto: Chris Maluszynski/Agentur Focus
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