Produktdetails
- Verlag: Meettok
- Seitenzahl: 256
- Erscheinungstermin: April 2011
- Englisch
- Abmessung: 210mm x 140mm
- ISBN-13: 9788493761943
- ISBN-10: 849376194X
- Artikelnr.: 40469868
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
- Herstellerkennzeichnung
- AGAPEA FACTORY
- c/ Bodegueros, 43nave5
- 29006 Malaga / SPANIEN, ES
- 0034 902195236
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2011Die schwarze Ader unseres Schicksals
Hinter dem Rücken seines Erzählers gibt der amerikanische Großmeister Philip Roth in seinem neuen Roman "Nemesis" auf die Frage nach Gott und dem Leiden des Menschen seine entsetzlichste und tröstlichste Antwort zugleich.
Ohne ihn gäbe es keinen Impfstoff, und ganz Europa spräche Deutsch: Als der von Kinderlähmung versehrte Franklin Delano Roosevelt, Hitlers künftige Nemesis auf Krücken und in Beinschienen aus Stahl, 1924 die Heilquelle Warm Springs in Georgia für sich entdeckte und als Poliokranke aus allen Teilen der Vereinigten Staaten nach Georgia pilgerten und die gesunden Kurgäste sich bei der Verwaltung über "die unbekömmlichen Krüppel" um sich her beschwerten, kaufte Roosevelt in heiligem Zorn die gesamte Anlage auf und baute sie zu einem Rehabilitationszentrum für Opfer der Kinderlähmung aus. Von solchen Millionärsmanövern, die Rettung und Rache in einem sind, kann ein Durchschnittsmensch wie Philip Roths Held Eugene "Bucky" Cantor nur träumen.
Und doch ist FDRs Amtsantrittsmaxime "Wir haben nichts zu fürchten außer der Furcht" auch das Credo des dreiundzwanzigjährigen Sportlehrers und Speerwerfers Bucky Cantor in "Nemesis": Weichherzig wie FDR, geduldig, robust, tapfer und frei von Selbstmitleid, ist Cantor wohl die bislang bewegendste Schöpfung in Philip Roths Werk, und wäre er nicht der zutiefst bescheiden begüterte Sohn eines straffällig gewordenen Vaters, hätte er sein ganzes Vermögen in eine solche Stiftung investiert: Im mückendurchschwärmt schwülen Sommer des Jahres 1944 in Newark, New Jersey, fällt die Polio auf dem Sportplatz Bucky Cantors über die Jugendlichen her, und an der Verbreitung sind zunächst streunende Katzen, dann die Italiener, die Juden und zuletzt - eine Verneigung Roths vor William Faulkners Benjy aus "Schall und Wahn" - der arme Wirrkopf Horace schuld, der den Menschen um sich her nur die Hand schütteln will zum Zeichen, dass er einer von ihnen ist.
Cantor beschwichtigt; Cantor beschützt; Cantor trauert um einen Toten nach dem andern in ihren Särgen, diesen Kisten, in denen "ein Zwölfjähriger für immer zwölf Jahre alt blieb. Wir anderen leben und werden jeden Tag älter, er aber bleibt für immer zwölf. Millionen Jahre vergehen, doch er ist noch immer zwölf."
Und Cantor schämt sich, seiner Kurzsichtigkeit wegen nicht im "Großen Krieg" gegen die Nationalsozialisten kämpfen zu können. Obwohl ein Ausbund an Pflichtbewusstsein, lässt er sich dennoch von seiner Verlobten Marcia in einem schwachen Moment dazu verleiten, Newark zu verlassen, und es bleibt ungewiss, ob er im Sommercamp Indian Hill Polio verbreitet oder dort selbst erst infiziert wird davon. Aus einem Schuldgefühl, das er gleich einer Gestalt Shakespeares zu einem universellen Schauspiel weitet, verwandelt sich Cantor in seine eigene Nemesis: Er rächt sich an sich selbst, einem menschenopfergierigen Gott und unbewusst auch an Marcia, indem er ihr seine Liebe versagt. Verstümmelt schleppt er sich als minderer Postbeamter durch die Stadt, ein Schuldloser, der die gesamte Menschheit auf Knien um Vergebung bittet: Sein Alltag ist ein Tagebuch des Schmerzes und Bucky Cantor der liebenswerteste Held, den Philip Roth bisher ersonnen hat.
Ein Held also: nichtsdestotrotz - und darum auch taugt Cantor nicht als Roosevelts "Gegenteil", zu dem der herrschsüchtig meinungsvernarrte Erzähler des Romans, einer der ehemaligen Schüler Cantors, Arnold Mesnikoff, ihn so plakativ herabzusetzen sucht. Mesnikoff tarnt seine grimme Resignation als lebensernüchterten Realismus und vermag zuletzt nur kläglich selbstentlarvend jenen Vorwurf zu wiederholen, an dem Cantor längst selbst seelisch zugrunde gegangen ist: dass er Newark niemals hätte verlassen dürfen. Mesnikoff hat die alles überwältigende Autorität des Todes anerkannt, kündigt damit unwissentlich die existentielle Solidarität der Menschen untereinander auf und hadert auch mit keinem Gott mehr, den Cantor hasst, weil dieser große Unbekannte solches Leid zuließ, wenn nicht selbst geschaffen hat, und den er damit, kraft Negation, doch noch respektiert.
So trägt Bucky den Namen "Kantor", eines Chorleiters im Gottesdienst, nicht von ungefähr: Auch wenn Selbstachtung und Würde des Menschen ihm gebieten mögen, an Gott nicht mehr zu glauben, birgt Mesnikoffs träge indifferentes Weltbild die Gefahr, in uns nurmehr banale Kreaturen erblicken zu können, die zum Sterben gerade gut genug sind. Und dagegen protestiert Philip Roths gesamtes Werk.
Was für Cantor "Gott" und böse, der Herr der Polio übertragenden Fliegen, das ist für Mesnikoff die "Macht des Zufalls", die "Kontingenz" oder eine zu "bösen Streichen" aufgelegte "Natur" - nebulöse Begriffe, für die man ebenso gut gleich wieder "Gott" einsetzen könnte. Und "Gott" ist, gerade auch als der Widerpart, der er schon immer war, in unser kulturelles Gedächtnis so unauslöschlich eingefügt, dass ihn daraus zu verbannen dem Versuch gleichkäme, einen Sturmregen in Brand zu setzen.
Das ist die Pointe Roths und Mesnikoffs Schwäche: Er denkt nicht weit. Auch ist 1971, da Mesnikoff Cantor wiederbegegnet, das zwanzigste längst zu jenem Jahrhundert verkommen, da die Frage "Wo war Gott in Auschwitz?" längst von der Frage "Wo war der Mensch?" verdrängt worden ist: Sollte ein Glaube an Gott keiner Sinnsuche mehr gefällig sein, so ist die pathetische Idee des Menschen und das Grundvertrauen, das wir einmal in uns hegten, unwiderruflicher zunichte als der Glaube an die etwaige Null namens Gott. Umgekehrt ließe sich fragen: Glaubt Gott noch an uns?
Mit Alexander Portnoy, Peter Tarnopol und Mickey Sabbath wurde Philip Roth zur Literaturikone eines herausfordernd unnachgiebigen Freiheitswillens und zu einem derart mächtigen Inbild westlicher Zivilisation, dass sich selbst beleidigt, wer ihn heute noch ob seiner angeblich pornokratischen Widerwärtigkeiten schmäht. Seit dem Tod seines Kollegen Saul Bellow aber ist der fast Achtzigjährige trauriger und einsilbiger geworden, zorniger auch und hart gegen sich selbst: Jahr um Jahr sterben ihm Freunde und Verwandte weg, und er würde - mittlerweile Experte in Grabreden - nun nicht mehr den Beruf des Schriftstellers ergreifen wollen, wie er verbittert versichert, sondern den zulänglicheren des Arztes, um nicht immer nur das Leid von Menschen in Büchern zu proben, es dabei ohnehin nicht fassen und keine Linderung bringen zu können.
Und so rundet Roth mit einer neuen Meisterleistung in Sachen Daseinsdüsternis, "Nemesis", seinen Zyklus an Kurzromanen um unsere Todesverfallenheit und Gottverlassenheit - "Jedermann", "Empörung", "Demütigung" - zu einer Tetralogie von altgriechischer Tragödienschwere. Mit diesen vier Romanen hat man in nuce den gesamten späten Roth vor sich: in einer unzähmbaren Traurigkeit, die wie die schwarze Ader unseres Schicksals, zum Sterben geboren zu sein, seine Alterswelt durchzieht und doch schon immer die Unterseite seiner raubtierwilden Komik war. Das sah Roth einst beklommen voraus: So glücklich, wie er es während der Niederschrift von "Sabbaths Theater" war in seiner Wut und prunkenden sprachlichen Brillanz, die er auch gegen seine Gegner, die "Anti-Roth-Leser", in Anschlag brachte, würde er niemals mehr sein.
Doch die Größe eines Autors bemisst sich, wie wir von Jane Austen bis Leo Tolstoi wissen, zuletzt immer daran, ob wir uns an ihn halten können, wenn wir uns selbst zu erklären abmühen, was uns, wie in der "Demütigung", bis zum Freitod quält - und es ist Roths Geheimnis, dass er über die unerfindliche Schönheit seines Stils und struktureller Spannungsfinessen dem Leser jenen Trost gewährt, den er seinen Geschöpfen versagt. Roth ist ein Stück Heimat, jede Lektüre ein privates Erlebnis, so, als läse man den sehr persönlich gehaltenen Brief eines guten alten Freundes, auf dem als Wasserzeichen sich der Satz eingeprägt findet: "Versuche, keine Angst zu haben, nichts ist es wert." Darin auch bleibt Philip Roth, der mitleidvollste Schriftsteller der Welt, unerreicht: Von "Nemesis" werden sich selbst diejenigen getröstet und gestärkt finden, die noch gar nicht wussten, wie traurig sie im Innersten sind.
MARKUS GASSER
Philip Roth: "Nemesis". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2011. 221 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hinter dem Rücken seines Erzählers gibt der amerikanische Großmeister Philip Roth in seinem neuen Roman "Nemesis" auf die Frage nach Gott und dem Leiden des Menschen seine entsetzlichste und tröstlichste Antwort zugleich.
Ohne ihn gäbe es keinen Impfstoff, und ganz Europa spräche Deutsch: Als der von Kinderlähmung versehrte Franklin Delano Roosevelt, Hitlers künftige Nemesis auf Krücken und in Beinschienen aus Stahl, 1924 die Heilquelle Warm Springs in Georgia für sich entdeckte und als Poliokranke aus allen Teilen der Vereinigten Staaten nach Georgia pilgerten und die gesunden Kurgäste sich bei der Verwaltung über "die unbekömmlichen Krüppel" um sich her beschwerten, kaufte Roosevelt in heiligem Zorn die gesamte Anlage auf und baute sie zu einem Rehabilitationszentrum für Opfer der Kinderlähmung aus. Von solchen Millionärsmanövern, die Rettung und Rache in einem sind, kann ein Durchschnittsmensch wie Philip Roths Held Eugene "Bucky" Cantor nur träumen.
Und doch ist FDRs Amtsantrittsmaxime "Wir haben nichts zu fürchten außer der Furcht" auch das Credo des dreiundzwanzigjährigen Sportlehrers und Speerwerfers Bucky Cantor in "Nemesis": Weichherzig wie FDR, geduldig, robust, tapfer und frei von Selbstmitleid, ist Cantor wohl die bislang bewegendste Schöpfung in Philip Roths Werk, und wäre er nicht der zutiefst bescheiden begüterte Sohn eines straffällig gewordenen Vaters, hätte er sein ganzes Vermögen in eine solche Stiftung investiert: Im mückendurchschwärmt schwülen Sommer des Jahres 1944 in Newark, New Jersey, fällt die Polio auf dem Sportplatz Bucky Cantors über die Jugendlichen her, und an der Verbreitung sind zunächst streunende Katzen, dann die Italiener, die Juden und zuletzt - eine Verneigung Roths vor William Faulkners Benjy aus "Schall und Wahn" - der arme Wirrkopf Horace schuld, der den Menschen um sich her nur die Hand schütteln will zum Zeichen, dass er einer von ihnen ist.
Cantor beschwichtigt; Cantor beschützt; Cantor trauert um einen Toten nach dem andern in ihren Särgen, diesen Kisten, in denen "ein Zwölfjähriger für immer zwölf Jahre alt blieb. Wir anderen leben und werden jeden Tag älter, er aber bleibt für immer zwölf. Millionen Jahre vergehen, doch er ist noch immer zwölf."
Und Cantor schämt sich, seiner Kurzsichtigkeit wegen nicht im "Großen Krieg" gegen die Nationalsozialisten kämpfen zu können. Obwohl ein Ausbund an Pflichtbewusstsein, lässt er sich dennoch von seiner Verlobten Marcia in einem schwachen Moment dazu verleiten, Newark zu verlassen, und es bleibt ungewiss, ob er im Sommercamp Indian Hill Polio verbreitet oder dort selbst erst infiziert wird davon. Aus einem Schuldgefühl, das er gleich einer Gestalt Shakespeares zu einem universellen Schauspiel weitet, verwandelt sich Cantor in seine eigene Nemesis: Er rächt sich an sich selbst, einem menschenopfergierigen Gott und unbewusst auch an Marcia, indem er ihr seine Liebe versagt. Verstümmelt schleppt er sich als minderer Postbeamter durch die Stadt, ein Schuldloser, der die gesamte Menschheit auf Knien um Vergebung bittet: Sein Alltag ist ein Tagebuch des Schmerzes und Bucky Cantor der liebenswerteste Held, den Philip Roth bisher ersonnen hat.
Ein Held also: nichtsdestotrotz - und darum auch taugt Cantor nicht als Roosevelts "Gegenteil", zu dem der herrschsüchtig meinungsvernarrte Erzähler des Romans, einer der ehemaligen Schüler Cantors, Arnold Mesnikoff, ihn so plakativ herabzusetzen sucht. Mesnikoff tarnt seine grimme Resignation als lebensernüchterten Realismus und vermag zuletzt nur kläglich selbstentlarvend jenen Vorwurf zu wiederholen, an dem Cantor längst selbst seelisch zugrunde gegangen ist: dass er Newark niemals hätte verlassen dürfen. Mesnikoff hat die alles überwältigende Autorität des Todes anerkannt, kündigt damit unwissentlich die existentielle Solidarität der Menschen untereinander auf und hadert auch mit keinem Gott mehr, den Cantor hasst, weil dieser große Unbekannte solches Leid zuließ, wenn nicht selbst geschaffen hat, und den er damit, kraft Negation, doch noch respektiert.
So trägt Bucky den Namen "Kantor", eines Chorleiters im Gottesdienst, nicht von ungefähr: Auch wenn Selbstachtung und Würde des Menschen ihm gebieten mögen, an Gott nicht mehr zu glauben, birgt Mesnikoffs träge indifferentes Weltbild die Gefahr, in uns nurmehr banale Kreaturen erblicken zu können, die zum Sterben gerade gut genug sind. Und dagegen protestiert Philip Roths gesamtes Werk.
Was für Cantor "Gott" und böse, der Herr der Polio übertragenden Fliegen, das ist für Mesnikoff die "Macht des Zufalls", die "Kontingenz" oder eine zu "bösen Streichen" aufgelegte "Natur" - nebulöse Begriffe, für die man ebenso gut gleich wieder "Gott" einsetzen könnte. Und "Gott" ist, gerade auch als der Widerpart, der er schon immer war, in unser kulturelles Gedächtnis so unauslöschlich eingefügt, dass ihn daraus zu verbannen dem Versuch gleichkäme, einen Sturmregen in Brand zu setzen.
Das ist die Pointe Roths und Mesnikoffs Schwäche: Er denkt nicht weit. Auch ist 1971, da Mesnikoff Cantor wiederbegegnet, das zwanzigste längst zu jenem Jahrhundert verkommen, da die Frage "Wo war Gott in Auschwitz?" längst von der Frage "Wo war der Mensch?" verdrängt worden ist: Sollte ein Glaube an Gott keiner Sinnsuche mehr gefällig sein, so ist die pathetische Idee des Menschen und das Grundvertrauen, das wir einmal in uns hegten, unwiderruflicher zunichte als der Glaube an die etwaige Null namens Gott. Umgekehrt ließe sich fragen: Glaubt Gott noch an uns?
Mit Alexander Portnoy, Peter Tarnopol und Mickey Sabbath wurde Philip Roth zur Literaturikone eines herausfordernd unnachgiebigen Freiheitswillens und zu einem derart mächtigen Inbild westlicher Zivilisation, dass sich selbst beleidigt, wer ihn heute noch ob seiner angeblich pornokratischen Widerwärtigkeiten schmäht. Seit dem Tod seines Kollegen Saul Bellow aber ist der fast Achtzigjährige trauriger und einsilbiger geworden, zorniger auch und hart gegen sich selbst: Jahr um Jahr sterben ihm Freunde und Verwandte weg, und er würde - mittlerweile Experte in Grabreden - nun nicht mehr den Beruf des Schriftstellers ergreifen wollen, wie er verbittert versichert, sondern den zulänglicheren des Arztes, um nicht immer nur das Leid von Menschen in Büchern zu proben, es dabei ohnehin nicht fassen und keine Linderung bringen zu können.
Und so rundet Roth mit einer neuen Meisterleistung in Sachen Daseinsdüsternis, "Nemesis", seinen Zyklus an Kurzromanen um unsere Todesverfallenheit und Gottverlassenheit - "Jedermann", "Empörung", "Demütigung" - zu einer Tetralogie von altgriechischer Tragödienschwere. Mit diesen vier Romanen hat man in nuce den gesamten späten Roth vor sich: in einer unzähmbaren Traurigkeit, die wie die schwarze Ader unseres Schicksals, zum Sterben geboren zu sein, seine Alterswelt durchzieht und doch schon immer die Unterseite seiner raubtierwilden Komik war. Das sah Roth einst beklommen voraus: So glücklich, wie er es während der Niederschrift von "Sabbaths Theater" war in seiner Wut und prunkenden sprachlichen Brillanz, die er auch gegen seine Gegner, die "Anti-Roth-Leser", in Anschlag brachte, würde er niemals mehr sein.
Doch die Größe eines Autors bemisst sich, wie wir von Jane Austen bis Leo Tolstoi wissen, zuletzt immer daran, ob wir uns an ihn halten können, wenn wir uns selbst zu erklären abmühen, was uns, wie in der "Demütigung", bis zum Freitod quält - und es ist Roths Geheimnis, dass er über die unerfindliche Schönheit seines Stils und struktureller Spannungsfinessen dem Leser jenen Trost gewährt, den er seinen Geschöpfen versagt. Roth ist ein Stück Heimat, jede Lektüre ein privates Erlebnis, so, als läse man den sehr persönlich gehaltenen Brief eines guten alten Freundes, auf dem als Wasserzeichen sich der Satz eingeprägt findet: "Versuche, keine Angst zu haben, nichts ist es wert." Darin auch bleibt Philip Roth, der mitleidvollste Schriftsteller der Welt, unerreicht: Von "Nemesis" werden sich selbst diejenigen getröstet und gestärkt finden, die noch gar nicht wussten, wie traurig sie im Innersten sind.
MARKUS GASSER
Philip Roth: "Nemesis". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2011. 221 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main