"Mainz liest ein Buch" 2020
Es ist eine einzige Einstellung in einem Film, die ihn aufrüttelt: eine kurze Szene am Mont-Saint-Michel, der berühmten Felseninsel im normannischen Wattenmeer. Der Mann, den dieses Bild an eine längst vergessen geglaubte Postkarte erinnert, ist ein Deutscher, der in London lebt, er ist soeben fünfzig geworden und voller Zweifel an seinem Lebensentwurf. Zwar mangelt es ihm nicht an Erfolg, doch vermisst er das Gefühl, der Nachwelt etwas Sichtbares zu hinter lassen - und Nachkommen, die seine Hinterlassenschaft schätzen und sich an ihn erinnern könnten. So scheint es kein Zufall, dass gerade jetzt die Erinnerungen an seinen Großvater Jakob Flieder - den damaligen Absender der Karte vom Mont-Saint-Michel - wach werden, der als einfacher Pflasterer ein die Jahrzehnte überdauerndes Werk geschaffen und eine Familie ernährt hatte ... Trotzdem entfaltet die Flut der Fragen, die sich dem Enkel plötzlich aufdrängen, eine ungeahnte Wucht.
Getriebenvon der unbestimmten Sehnsucht nach einem Leben voller Bestimmung, begibt sich ein Mann auf die Spuren seiner Familie - und muss sich fragen, wie zuverlässig die Geschichten sind, die man sich über sich selbst erzählt, und wie zufällig die Quellen und Überlieferungen, derer man sich dafür bedient. Und mitten in der biografischen Sinnsuche, die der Autor virtuos mit deutschen Schicksalen vom frühen 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart verknüpft, führt die Begegnung mit einer jungen Frau aus Litauen zu einer ganz neuen Möglichkeit des Glücks im Hier und Jetzt.
Es ist eine einzige Einstellung in einem Film, die ihn aufrüttelt: eine kurze Szene am Mont-Saint-Michel, der berühmten Felseninsel im normannischen Wattenmeer. Der Mann, den dieses Bild an eine längst vergessen geglaubte Postkarte erinnert, ist ein Deutscher, der in London lebt, er ist soeben fünfzig geworden und voller Zweifel an seinem Lebensentwurf. Zwar mangelt es ihm nicht an Erfolg, doch vermisst er das Gefühl, der Nachwelt etwas Sichtbares zu hinter lassen - und Nachkommen, die seine Hinterlassenschaft schätzen und sich an ihn erinnern könnten. So scheint es kein Zufall, dass gerade jetzt die Erinnerungen an seinen Großvater Jakob Flieder - den damaligen Absender der Karte vom Mont-Saint-Michel - wach werden, der als einfacher Pflasterer ein die Jahrzehnte überdauerndes Werk geschaffen und eine Familie ernährt hatte ... Trotzdem entfaltet die Flut der Fragen, die sich dem Enkel plötzlich aufdrängen, eine ungeahnte Wucht.
Getriebenvon der unbestimmten Sehnsucht nach einem Leben voller Bestimmung, begibt sich ein Mann auf die Spuren seiner Familie - und muss sich fragen, wie zuverlässig die Geschichten sind, die man sich über sich selbst erzählt, und wie zufällig die Quellen und Überlieferungen, derer man sich dafür bedient. Und mitten in der biografischen Sinnsuche, die der Autor virtuos mit deutschen Schicksalen vom frühen 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart verknüpft, führt die Begegnung mit einer jungen Frau aus Litauen zu einer ganz neuen Möglichkeit des Glücks im Hier und Jetzt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ulrich Rüdenauer scheint die in Stefan Mosters viertem Roman angeschlagene Problematik gut zu verstehen. Es geht um die Midlife-Crisis eines Normalos, doch darüber hinaus um die Verortung der eigenen Existenz in größeren Zusammenhängen, um Sehnsucht nach Heimat, lässt Rüdenauer uns wissen. Das geht mit Enttäuschungen einher, lernt er bei Moster, der laut Rüdenauer die Liebe als Lösung anbietet in seinem "fast zu beschaulich" erzählten Text.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.03.2016Die Legende von der schönen Meerjungfrau
Ein Enkel auf der Suche nach seinem Großvater und sich selbst: Stefan Mosters Roman „Neringa oder Die andere Art der Heimkehr“
In Terrence Malicks träumerisch-versponnenem Liebesfilm „To The Wonder“ tänzeln die beiden Hauptdarsteller Ben Affleck und Olga Kurylenko während einer Reise durch die Normandie verliebt am Strand. Etwas Schwebendes und Zeitloses tut sich da auf vor der Weite des Atlantiks. Dem bodenständigen Zeitgenossen mag dieses Glücks- und Meeresrauschen ein wenig pathetisch anmuten; die Schaumkronen des Kitsches treiben verdächtig über die Arthouse-Leinwand.
Auch Stefan Mosters Ich-Erzähler, einem eher nüchternen Zeitgenossen und erfolgreichen Geschäftsmann, ergeht es so. Am liebsten würde er das Kino sofort verlassen, fliehen geradezu; aber etwas hält ihn doch zurück, als würden die Bilder nach ihm schnappen, ihm noch ein Geheimnis anvertrauen wollen, etwas „Wesentliches“. Der Mann in mittleren Jahren erfährt eine lupenreine Epiphanie. Mont-Saint-Michel, dem die beiden Filmliebenden zueilen, wird für Mosters Helden zum Auslöser einer mémoire involontaire. Ein Postkartenmotiv der normannischen Felseninsel überlagert schließlich das Kinobild. Die Karte kreiste einstmals am Familientisch. „Erst als sie meinen Großvater erreichte, kam es zur Unterbrechung. Er nahm die Ansichtskarte zur Hand, betrachtete sie ausführlich, las den Text auf der Rückseite, kehrte wieder zur Abbildung zurück und sagte: Da war ich schon. Dann reichte er sie weiter.“ Der wortkarge Großvater übergibt das stumme Bild auf gewisse Weise an den Enkel, der es nun Jahrzehnte später in Händen hält.
Wer war dieser Ahn eigentlich, der zu cholerischen Auftritten neigte? Was hat er in Frankreich während des Krieges als Wehrmachtssoldat getrieben? Welche Spuren hat der Pflasterer hinterlassen? Ist den wenigen verfügbaren Erinnerungen überhaupt zu trauen? Und was hat das eigene krisenanfällige Ich, dem zu Jugendzeiten das „Gift der Niedergeschlagenheit“ injiziert worden ist, mit dieser Herkunft noch zu schaffen? „Am Samstagmorgen nach dem Kinobesuch wachte ich in mindestens drei Zeiten gleichzeitig auf, wie mir schien, doch machte mich das nicht nervös. Ich war neugierig geworden und entschloss mich zu Nachforschungen.“
Das Programm dieses behutsam, fast zu beschaulich erzählten Romans ist damit umrissen: „Neringa oder Die andere Art der Heimkehr“ schildert, wie sich die Vergangenheit in ein geschäftstüchtiges Leben hineinschmuggelt, wie der „Speicher von Erinnerung und Wissen“, der sich eine Zwischengeneration lang nur noch spärlich gefüllt hat und stattdessen mit Gerüchten angereichert wurde, nun endlich ergänzt werden soll. Es ist auch der Roman einer Midlife-Crisis.
Denn der erfolgreiche Geschäftsmann, den es vom provinziellen Mainz ins urbane London verschlagen hat, muss sich in vielen Belangen sein Scheitern eingestehen: Er ist zwar ein hochdotierter Dienstleister für Dienstleister, aber er produziert nichts, hat nie etwas Bleibendes geschaffen. Wenn er zum Schlafen in seine schicke Wohnung kommt, ist das – anders als es der solide Handwerker-Großvater in Mainz empfunden haben muss – keine Heimkehr, sondern mehr eine Art Einkehr in ein Provisorium.
Zum Glück gibt es die Titelheldin Neringa, die zum ersten Mal auf Seite 64 in Erscheinung tritt. Neringa ist die litauische Putzhilfe des Erzählers, eine sich grazil durch die Wohnung bewegende Frau, die man sich vielleicht ein bisschen vorstellen darf wie die tanzende Olga Kurylenko in „To The Wonder“, wenn auch nicht so ätherisch. Ein Wunder ist dieses unverhoffte Hineinstolpern in die Liebe gleichsam auch: Neringa besitzt eine Lebensklugheit, die dem Helden abgeht. Sie erzieht ihn auf gewisse Weise. Die Parameter des Erfolgs und der Karriere zählen für sie nicht; ihr geht es um Leidenschaft und Glück. Geldverdienen ist für sie eine Notwendigkeit, aber keine Erfüllung. Neringa – der Legende nach eine schöne Meerjungfrau und Riesin, die den Fischern im Kampf gegen den Meeresgott Bangputis half – steht dem Ich-Erzähler nun bei seinen Kämpfen zur Seite und begleitet ihn auf seinen Reisen in die Vergangenheit. Und sie scheint ihm einen neuen Weg in die Zukunft zu weisen, die Bewusstseinsströme der Erinnerung zu kanalisieren. Das „Wesentliche“ – durch Neringa scheint es mit aller überwältigenden Macht in sein bislang eher kitschfreies Leben getreten zu sein.
Es ist auffällig, dass sich in der letzten Zeit die Bücher häufen, in denen Enkel den Wegen ihrer Großeltern nachspüren. Das sind oftmals keine allzu radikalen Auseinandersetzungen, sondern eher sanftmütige Annäherungen. Als wollten die Nachgeborenen, um zu sich selbst zu finden, in größeren Zusammenhängen aufgehen, Teil werden eines Kontinuums. Ein direkter Kampf mit dieser Generation ist ja – anders als bei den Eltern – nicht mehr auszufechten. Der inzwischen vierte Roman Stefan Mosters, der ein meisterhafter Übersetzer aus dem Finnischen ist, bildet da keine Ausnahme. „Neringa oder Die andere Art der Heimkehr“ trägt eine mehr oder minder heimliche Sehnsucht nach der Idylle in sich, nach Zugehörigkeit, nach Heimat.
Die Enttäuschung bleibt freilich nicht aus. Wer die Orte der Erinnerung aufsucht, wird „von der Banalität des Gegenwärtigen überschwemmt“ heißt es einmal. Die fantasierte Vergangenheit ist eben meist erfreulicher als die recherchierte. „Das Einzige, womit wir die Toten beschenken können, sind liebevolle Legenden“, sagt die verständnisvolle Neringa. Das hat bei aller Traurigkeit, die darin auch steckt, denn doch etwas allzu Versöhnliches.
ULRICH RÜDENAUER
Der Dienstleister war Dienstleister
und produzierte nichts
Eine heimliche Sehnsucht nach
der Idylle prägt diesen Roman
Davon träumt der Ich-Erzähler in Stefan Mosters Roman: Ben Affleck und Olga Kurylenko in Terrence Malicks Film „To the Wonder“.
Foto: Studiocanal
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Ein Enkel auf der Suche nach seinem Großvater und sich selbst: Stefan Mosters Roman „Neringa oder Die andere Art der Heimkehr“
In Terrence Malicks träumerisch-versponnenem Liebesfilm „To The Wonder“ tänzeln die beiden Hauptdarsteller Ben Affleck und Olga Kurylenko während einer Reise durch die Normandie verliebt am Strand. Etwas Schwebendes und Zeitloses tut sich da auf vor der Weite des Atlantiks. Dem bodenständigen Zeitgenossen mag dieses Glücks- und Meeresrauschen ein wenig pathetisch anmuten; die Schaumkronen des Kitsches treiben verdächtig über die Arthouse-Leinwand.
Auch Stefan Mosters Ich-Erzähler, einem eher nüchternen Zeitgenossen und erfolgreichen Geschäftsmann, ergeht es so. Am liebsten würde er das Kino sofort verlassen, fliehen geradezu; aber etwas hält ihn doch zurück, als würden die Bilder nach ihm schnappen, ihm noch ein Geheimnis anvertrauen wollen, etwas „Wesentliches“. Der Mann in mittleren Jahren erfährt eine lupenreine Epiphanie. Mont-Saint-Michel, dem die beiden Filmliebenden zueilen, wird für Mosters Helden zum Auslöser einer mémoire involontaire. Ein Postkartenmotiv der normannischen Felseninsel überlagert schließlich das Kinobild. Die Karte kreiste einstmals am Familientisch. „Erst als sie meinen Großvater erreichte, kam es zur Unterbrechung. Er nahm die Ansichtskarte zur Hand, betrachtete sie ausführlich, las den Text auf der Rückseite, kehrte wieder zur Abbildung zurück und sagte: Da war ich schon. Dann reichte er sie weiter.“ Der wortkarge Großvater übergibt das stumme Bild auf gewisse Weise an den Enkel, der es nun Jahrzehnte später in Händen hält.
Wer war dieser Ahn eigentlich, der zu cholerischen Auftritten neigte? Was hat er in Frankreich während des Krieges als Wehrmachtssoldat getrieben? Welche Spuren hat der Pflasterer hinterlassen? Ist den wenigen verfügbaren Erinnerungen überhaupt zu trauen? Und was hat das eigene krisenanfällige Ich, dem zu Jugendzeiten das „Gift der Niedergeschlagenheit“ injiziert worden ist, mit dieser Herkunft noch zu schaffen? „Am Samstagmorgen nach dem Kinobesuch wachte ich in mindestens drei Zeiten gleichzeitig auf, wie mir schien, doch machte mich das nicht nervös. Ich war neugierig geworden und entschloss mich zu Nachforschungen.“
Das Programm dieses behutsam, fast zu beschaulich erzählten Romans ist damit umrissen: „Neringa oder Die andere Art der Heimkehr“ schildert, wie sich die Vergangenheit in ein geschäftstüchtiges Leben hineinschmuggelt, wie der „Speicher von Erinnerung und Wissen“, der sich eine Zwischengeneration lang nur noch spärlich gefüllt hat und stattdessen mit Gerüchten angereichert wurde, nun endlich ergänzt werden soll. Es ist auch der Roman einer Midlife-Crisis.
Denn der erfolgreiche Geschäftsmann, den es vom provinziellen Mainz ins urbane London verschlagen hat, muss sich in vielen Belangen sein Scheitern eingestehen: Er ist zwar ein hochdotierter Dienstleister für Dienstleister, aber er produziert nichts, hat nie etwas Bleibendes geschaffen. Wenn er zum Schlafen in seine schicke Wohnung kommt, ist das – anders als es der solide Handwerker-Großvater in Mainz empfunden haben muss – keine Heimkehr, sondern mehr eine Art Einkehr in ein Provisorium.
Zum Glück gibt es die Titelheldin Neringa, die zum ersten Mal auf Seite 64 in Erscheinung tritt. Neringa ist die litauische Putzhilfe des Erzählers, eine sich grazil durch die Wohnung bewegende Frau, die man sich vielleicht ein bisschen vorstellen darf wie die tanzende Olga Kurylenko in „To The Wonder“, wenn auch nicht so ätherisch. Ein Wunder ist dieses unverhoffte Hineinstolpern in die Liebe gleichsam auch: Neringa besitzt eine Lebensklugheit, die dem Helden abgeht. Sie erzieht ihn auf gewisse Weise. Die Parameter des Erfolgs und der Karriere zählen für sie nicht; ihr geht es um Leidenschaft und Glück. Geldverdienen ist für sie eine Notwendigkeit, aber keine Erfüllung. Neringa – der Legende nach eine schöne Meerjungfrau und Riesin, die den Fischern im Kampf gegen den Meeresgott Bangputis half – steht dem Ich-Erzähler nun bei seinen Kämpfen zur Seite und begleitet ihn auf seinen Reisen in die Vergangenheit. Und sie scheint ihm einen neuen Weg in die Zukunft zu weisen, die Bewusstseinsströme der Erinnerung zu kanalisieren. Das „Wesentliche“ – durch Neringa scheint es mit aller überwältigenden Macht in sein bislang eher kitschfreies Leben getreten zu sein.
Es ist auffällig, dass sich in der letzten Zeit die Bücher häufen, in denen Enkel den Wegen ihrer Großeltern nachspüren. Das sind oftmals keine allzu radikalen Auseinandersetzungen, sondern eher sanftmütige Annäherungen. Als wollten die Nachgeborenen, um zu sich selbst zu finden, in größeren Zusammenhängen aufgehen, Teil werden eines Kontinuums. Ein direkter Kampf mit dieser Generation ist ja – anders als bei den Eltern – nicht mehr auszufechten. Der inzwischen vierte Roman Stefan Mosters, der ein meisterhafter Übersetzer aus dem Finnischen ist, bildet da keine Ausnahme. „Neringa oder Die andere Art der Heimkehr“ trägt eine mehr oder minder heimliche Sehnsucht nach der Idylle in sich, nach Zugehörigkeit, nach Heimat.
Die Enttäuschung bleibt freilich nicht aus. Wer die Orte der Erinnerung aufsucht, wird „von der Banalität des Gegenwärtigen überschwemmt“ heißt es einmal. Die fantasierte Vergangenheit ist eben meist erfreulicher als die recherchierte. „Das Einzige, womit wir die Toten beschenken können, sind liebevolle Legenden“, sagt die verständnisvolle Neringa. Das hat bei aller Traurigkeit, die darin auch steckt, denn doch etwas allzu Versöhnliches.
ULRICH RÜDENAUER
Der Dienstleister war Dienstleister
und produzierte nichts
Eine heimliche Sehnsucht nach
der Idylle prägt diesen Roman
Davon träumt der Ich-Erzähler in Stefan Mosters Roman: Ben Affleck und Olga Kurylenko in Terrence Malicks Film „To the Wonder“.
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