Produktdetails
  • Verlag: Residenz
  • Seitenzahl: 320
  • Deutsch
  • Abmessung: 30mm x 137mm x 210mm
  • Gewicht: 478g
  • ISBN-13: 9783701712274
  • ISBN-10: 3701712271
  • Artikelnr.: 24653601
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2001

Leben, kunterbuntes Splitterwerk
Kokette Subversion: Zwei Biographien gehen Nestroy in die Falle

Ein Problem von Künstlerbiographien besteht oft darin, daß sie sich mit der schillernden Oberfläche von herzhaft-sperrigen Charakteren begnügen, aber nichts über das Wesen der Figur mitteilen. Das macht auch Walter Schüblers Biographie über Johann Nepomuk Nestroy, dessen zweihundertster Geburtstag gerade zu feiern ist, zu einem lediglich gut gemeinten Unterfangen.

War Nestroy ein Wüstling? 1859 kommt es zu einem Prozeß, in dem seine "notorisch galanten Aventuren" zur Sprache kommen. Eine siebzehnjährige Schauspielerin soll er verführt und geschwängert haben. Er bestreitet die Tat, wird aber zu einer monatlichen Unterhaltszahlung verurteilt. Frauen bedeuteten ihm viel, und er betrieb ein aufwendiges Versteckspiel, seine Liebeleien geheim zu halten. Walter Schübler greift aus den "gerüchteweise unzähligen Liebschaften" einige wenige heraus, um zu beschreiben, zu welcher Kunst der Verstellung Nestroy fähig war. Das ergibt vergnügliche Anekdoten, aber was wissen wir damit vom Menschen Nestroy?

Ein Biograph stellt eine Person in den Rahmen einer Zeit, zeigt, unter welchen allgemeinen Bedingungen er zu leben hat und wie dieses eine Wesen, dem sein ganzes Augenmerk gilt, mit ebendiesen Bedingungen umgeht. Wie wird ein Mensch zu dem, was er geworden ist, und was hält diesen Menschen in seinem Innersten zusammen? Weil ein Mensch nie zu Ende erklärt ist, weil jeder neue Blick auf ihn einen modifizierten Charakter erkennen läßt, ist jede Biographie der vergebliche Versuch, letzte Klarheit über einen Menschen zu schaffen. Walter Schübler gibt vor, eine Biographie Johann Nestroys in dreißig Szenen geschrieben zu haben. Davon kann, bei Lichte besehen, nicht die Rede sein. Bei Schübler wird Nestroy ein Allerweltskerl, über ein eigenes Leben verfügt er nicht.

Schübler unternimmt "keine lückenlose chronologische ,Von-der-Wiege-bis-zur-Bahre'-Darstellung," sondern arrangiert einen "Reigen von rund um zentrale Themen und Ereignisse inszenierten Texten". Was vorerst einleuchtend klingen mag, überzeugt nicht, wenn die Methode zu ihrer Wirkung kommt. Dann bleibt vor allem ein hohes Maß an Unentschiedenheit. Der Verfasser handelt wie ein Regisseur, der fremde Stimmen in einem Chor zusammenführt und selbst stumm bleiben möchte. So erspart er sich die Anstrengung der Wertung. Der Verfasser verrät sich vor allem in der Organisation des Materials und der Auswahl der Stimmen. Nur dann und wann mischt er sich ein, wächst über sich hinaus und meldet sich selbst zu Wort oder spekuliert: "Zu vermuten steht, daß Nestroys Liaison mit Karoline Köfer bei diesem Krach mit im Spiel war..."

Mehr als ein kunterbuntes Splitterwerk des Lebens wird das nicht. Er kommt nicht umhin, das Material, das ihm zur Verfügung steht, in ein ihm gemäßes System zu bringen. Er macht das nicht chronologisch, sondern sucht sich Schwerpunkte, die er für markant für Nestroys Leben hält. Nestroys Spielleidenschaft kommt auf diese Weise der gleiche Stellenwert zu wie seinen Frauengeschichten, seinem Verhältnis zur Zensur, seiner Angst vor dem Tod, seinem komischen Talent auf der Bühne oder dem Theaterautor. In dreißig Kapiteln wird Nestroy vorgestellt, jedes beansprucht, eine Facette der Persönlichkeit zu beleuchten. Alle behaupten sie, gleich wichtig zu sein, alle wollen sie ihren Beitrag leisten, das Phänomen Nestroy zu erklären. Schübler zieht keine Schlüsse, er läßt die Dokumente sprechen. Er zitiert aus Briefen, Akten, Zeitungsartikeln, kommentiert nicht, analysiert nicht, sondern hortet und sammelt und ist mit sich selbst im reinen, wenn er weiß, daß sich der Leser sein Bild schon machen wird. Ein ganzes Bündel von Lebensbedingungen kommt auf diese Weise zusammen, dahinter verschwindet der Mensch.

Mit buchhalterischer Eleganz listet der Verfasser Kommentare von Zeitgenossen zum Fall Nestroy auf. Er zitiert Gegner und Freunde - und manchmal ergreift er heimlich Partei. Eine Biographie, so wie sie Walter Schübler versteht, nimmt nicht in Anspruch, das Leben eines Menschen zu rekonstruieren, sondern zeigt eine Person in ihrer Wirkung auf ihre Umwelt. Sie strebt nicht an zu erkunden, wie das Leben des Menschen beschaffen war, sondern wie sich die Mitmenschen dieses Leben erschaffen haben. Damit erklärt sich die Vielzahl der Dokumente. Jedes Zeugnis, das Eingang in dieses Buch findet, hat den Zweck, Rechenschaft davon abzulegen, wie jemand Nestroy gesehen hat. So wird eine historische Persönlichkeit tatsächlich nicht zu einem Kumpel von heute, weil sie ganz in dieser Vergangenheit belassen wird. Aber auch nicht die Person wird sichtbar, sondern das Bild, das sie in anderen hervorgerufen hat. Aber was sie mit uns zu tun hat und warum wir uns mit ihr beschäftigen sollen, wird nicht klar. Sie schlägt sich in Konflikten von gestern, sie reagiert auf politische Verhältnisse von damals, sie lebt im Kokon der Vergangenheit.

Hier rächt sich, daß das literarische Werk eine derart untergeordnete Rolle spielt. Viel mehr als Stichworte darf es nicht beitragen zu einem Bild von einem Menschen, dessen Leben besessen von der Sprache war. Man erfährt mehr darüber, ob ein Stück Erfolg hatte oder ob es durchfiel, aber nichts von der Substanz des Stückes, wie wir heute mit ihm umgehen sollten und welchen Nutzen wir aus ihm ziehen. Jede Entwicklung wird verhindert, weil der Verfasser mit punktuellen Ereignissen vorlieb nimmt. Dabei ist es nicht gleichgültig, wann ein Stück entstanden ist und in welcher Verfassung sich der Autor damals befand. Und schon gar nicht ist gleichgültig, daß das literarische Werk eine Nebenrolle spielt. Aber hier zerfällt das Leben in Episoden, und Geschichtchen gibt es genug.

In Wendelin Schmidt-Denglers Nestroy-Buch ist das anders. Er konzentriert sich auf das Werk und verliert den gesellschaftlichen Hintergrund nicht aus dem Auge, vor dem sich Nestroys Dramen einer verkorksten Welt abspielen. Schmidt-Dengler zählt zu jenen Germanisten, die sich unermüdlich in den literarischen Betrieb einmischen und nicht im Spezialistentum verkümmern. Und er kann schreiben, so daß er den Leser bei seiner Neugier packt und ihn für den Stoff interessiert. Aber hat er deshalb auch schon in allem recht?

Schmidt-Dengler grenzt sich ab von den anderen. Er lobt Karl Kraus, weil ihm die vehemente Verteidigung und die Wiederentdeckung Nestroys zu verdanken ist, und er verwahrt sich gegen Karl Kraus, weil er Nestroy "gegen jede historische Veränderung gefeit hält". Friedrich Sengle, der Germanist, der mit seinem monumentalen Werk "Biedermeierzeit" Maßstäbe gesetzt hat, kommt schlecht weg, weil er meint, seinen Nestroy "aus dem Lehm formen zu können, aus dem die Träume der Literaturhistoriker sind und der in den Archiven des literarischen Gedächtnisses über die Jahrhunderte abgelagert wurde." Schmidt-Dengler beginnt mit dem Feuer der Leidenschaft, wenn er Positionen abgrenzt, Mängel und Versäumnisse der Wissenschaft in der Beschäftigung mit Nestroy nachweist, aber die Begeisterung kühlt ab, sobald er sich dem Gegenstand der Forschung, nämlich Nestroy selbst, zuwendet. Dann liefert Schmidt-Dengler nicht mehr ab als eine gediegene germanistische Arbeit, die mit Wissen punktet, aber sich kaum eigene Ideen leistet. Es verläuft alles in geregelten Bahnen. Ein Nestroy aus dem Kontext der Zeit wird entwickelt, das Individuum, das rebellisch Querkopfhafte, das verspielt Außenseiterische Nestroys, das kokett Subversive geht unter in der disziplinierten Analyse.

Schmidt-Dengler ist gut, wenn er darstellt, welche Nestroy-Bilder bei anderen entstehen, sein eigenes fällt nie aus dem Rahmen. Er kreidet der Forschung an, wenn sie ihn auf die lokalen Wiener Verhältnisse reduziert und ebenso, wenn sie ihn in den großen Zusammenhang weltliterarischer Komödientradition rückt. Schmidt-Dengler vertritt die Position des Dazwischen. Aber es hat ganz den Anschein, als würde Nestroy den Analytiker der Forschungslage austricksen. Der ganze Nestroy ist viel zu widersprüchlich, als daß er in ein kompaktes Porträt gepackt werden könnte. Sein ständiges Ausreißen ist der Schrecken jedes Biographen. Schmidt-Dengler greift einzelne Stücke aus dem gewaltigen Werk heraus. Er referiert es in eigenen Worten, reichert es locker mit Zitaten an, und zieht dann seine Schlüsse. So bekommt er individuelle Ausprängungen eines sprunghaften Geistes zu fassen.

Bei Schmidt-Dengler wird Nestroy zum Demonstrationsobjekt akademischen Ehrgeizes. Weniger einem Autor, der geschrieben hat für jene Bretter, die die Welt eben nicht bedeuten, sondern umdeuten, wird Schmidt-Dengler gerecht als vielmehr einem, der aufgerufen wird, etwas zu beweisen. Einmal zeige Nestroy, "wie wir als Gefangene der Sprache den durch sie erzeugten Mißverständnissen ausgeliefert und dem von ihr produzierten Schein verfallen sind, zum anderen führt er vor, wie viel sich durch die Sprache bewirken und herstellen läßt und wir ihrer nur um den Preis der Selbstaufgabe entraten können." Dann wieder "analysiert" Nestroy "den Zustand der Institution Familie". So wird Nestroy bei Schmidt-Dengler zur kritischen Institution und zum Analytiker von gesellschaftlichen Verhältnissen und Sprachmodellen. Aber Nestroy ist komplizierter, weil er nicht auf einen Fall zu reduzieren ist. Er vergröbert Gegensätze und ebnet sie ein, er bildet nichts ab, er ist der Jongleur und Meister der österreichischen Einbildung. Das geht bei Schmidt-Dengler verloren. Er wird auf Ernsthaftigkeit getrimmt, während Nestroy allen Sachwaltern des Ernstes eins auswischt.

ANTON THUSWALDNER

Wendelin Schmidt-Dengler: "Nestroy". Die Launen des Glückes. Zsolnay Verlag, Wien 2001. 175 S., geb., 32,- DM.

Walter Schübler: "Nestroy." Eine Biographie in 30 Szenen. Residenz Verlag, Salzburg 2001. 316 S., geb., 49,40 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"1. Schübler "Nestroy"
Schüblers Nestroy-Biografie ist in den Augen von Rezensent Anton Thuswalder ein lediglich gut gemeintes Unterfangen. Der Autor gebe vor, Nestroys Leben in dreißig Szenen zu beschreiben, doch davon könne "bei Licht betrachtet" keine Rede sein. Vielmehr hat der Rezensent den Eindruck, dass Schübler "wie ein Regisseur" handele, der "fremde Stimmen zu einem Chor" zusammenführe, aber selber stumm bleibe. Er zitiere "mit buchhalterischer Eleganz" aus Briefen, Akten, Zeitungsartikeln, kommentiere nicht, analysiere nicht sondern horte und sammele. So kommt für Thuswalder zwar ein "ganzes Bündel von Lebensbedingungen zusammen", aber dahinter verschwinde der Mensch Nestroy. Die vom Rezensenten definierte Aufgabe einer Biografie, nämlich eine Person "in den Rahmen einer Zeit" zu stellen, um zu zeigen, unter welchen Bedingungen er zu leben gehabt habe, wird seiner Ansicht nach von Schübler verfehlt. Mehr als ein "Allerweltskerl", der sich im "Kokon der Vergangenheit" mit "den Koflikten von gestern" herumschlug, wird für den Rezensenten nicht erkennbar.
2 Schmidt-Dengler "Nestroy"
Nestroy Biograf Schmidt-Dengler kann nach Ansicht von Anton Thuswalder wenigstens schreiben. Auch konzentriere er sich auf Nestroys Werk, ohne den gesellschaftlichen Kontext aus den Augen zu verlieren. Froh ist der Rezensent mit dieser Lebensdarstellung trotzdem nicht geworden. Der Verfasser beginne "mit dem Feuer der Leidenschaft", wenn er Positionen abgrenze, "Mängel und Versäumnisse der Wissenschaft in der Beschäftigung mit Nestroy" nachweise. Doch die Darstellung kühle ab, sobald er sich Nestroy selber nähern würde. Dann nämlich liefere er kaum mehr als eine "gediegene germanistische Arbeit", die mit Wissen punkte, sich aber keine eigenen Ideen leiste. So werde Nestroy zum "Demonstrationsobjekt akademischen Ehrgeizes". Aber näher kommt Schmidt-Dengler diesem komplexen Autor wohl nicht. Nestroy werde auf "Ernsthaftigkeit getrimmt", während der "allen Sachwaltern des Ernstes" stets eins ausgewischt habe.

© Perlentaucher Medien GmbH"
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