Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2007Die Lust am Erschaffen
Abgründig autobiographisch: Tomi Ungerers neuestes Bilderbuch
Von den Mellops bis zu den Bamokos und Sings sind es fünfzig Jahre. 1957 brachte Tomi Ungerer sein erstes Buch heraus: "The Mellops Go Flying". Es wurde sofort ein Erfolg, verschaffte dem elsässischen Zeichner einen Traumeinstieg in seine amerikanischen Jahre und begründete ein Kinderbuchwerk, das zu den großartigsten überhaupt zählt. Für die insgesamt fünf Bücher um die Schweinefamilie Mellops, die im vergangenen Herbst anlässlich Ungerers fünfundsiebzigstem Geburtstag erstmals zusammengefasst wurden, benötigte der Zeichner seinerzeit nur sechs Jahre, und dazwischen reichte es noch für weitere Meisterwerke des Genres wie "Crictor, die gute Schlange", "Emile" oder "Die drei Räuber"; Ungerers jüngstes Bilderbuch "Neue Freunde" dagegen ist das erste nach sieben langen Jahren Pause.
In diesen sieben Jahren ist Ungerer einiges widerfahren, was ihm die Laune aufs lustige Erzählen hätte verschlagen können: Schlaganfälle, Koma, Krebs, ein blindes Auge. Doch nun ist er wieder da, und das mit einem Buch, dessen Bilder vor Lust am Detail überzusprudeln scheinen. Die zugrundeliegende Geschichte wird denkbar lapidar und effizient erzählt: Der neunjährige Rafi Bamoko, Sohn eines schwarzen Elternpaars, und die gleich alte chinesischstämmige Ki Sing finden als sonst isolierte Kinder zusammen, weil sich ihre Talente so grandios ergänzen. Rafi ist ein Zauberer mit dem Werkzeugkasten, Ki eine Meisterin der Nähnadel. Gemeinsam schaffen sie so aus allerlei Hausrat und Abfall gewaltige Figuren, die ihnen die fehlende Gesellschaft anderer Kinder ersetzen sollen. Doch sobald erst die anderen Kinder diese Bastelarbeiten sehen, fehlt es gar nicht mehr an Gesellschaft. Und Rafi und Ki machen aus ihren spezifischen Befähigungen dann jeweils auch noch ihren Beruf.
So weit, so schlicht und erfreulich. Man könnte "Neue Freunde" als banal abtun, ja, sogar als klischeebehaftet - die nähende Asiatin, der handwerklich begabte Schwarze -, aber dann wäre man an der Oberfläche geblieben. Dort spielt sich eine erfolgreiche Integrationsgeschichte ab. Darunter erzählt Ungerer von etwas anderem: von den eigenen Leidenschaften. Der ewige Grenzgänger wird häufig erlebt haben, wie schwierig es ist, als Außenseiter zu reüssieren. Und wie es Rafi und Ki mittels ihrer skurrilen Figuren gelingt, Erfolg zu haben, so hat es auch Ungerer gemacht. Denn diese Figuren sind Abbilder seiner Phantasie, wie wir sie aus den Plakaten, Erwachsenenbüchern, Skulpturen und Filmen kennen - aus all den Werken Ungerers also, die keine Rücksicht auf Kinder nehmen mussten.
Auf dem Höhepunkt des Buches, einer doppelseitig inszenierten Museumsausstellung von Rafis und Kis Skulpturen, wälzt sich eine unübersehbare Besuchermasse durch den Saal, und in ihr finden wir den Mann mit vermauerten Augen, den rothaarigen Vamp, die Männer mit einem Augapfel als Kopf, die Zyklopenfrau, die Vampyrin, den Tod, den Mann mit leeren Augenhöhlen und manche Figur mehr, die wir aus den fünf Jahrzehnten des Ungererschen Schaffens kennen. Keine davon wirkt hier schrecklich oder gar obszön, alles dient der reinen Schaufreude der Betrachter. Denn Ungerer weiß viel zu genau, dass Kinder Spaß am Makabren und Absonderlichen haben. Und er kennt auch die Grenzen in dessen Darstellung, weil er selbst sie alle schon in anderen Büchern überschritten hat. Hier aber wahrt er sie perfekt.
Das allergrößte Vergnügen bereiten die Produkte von Rafis und Kis Zusammenarbeit. Wie Ungerer diese künstlichen Gefährten aus Klodeckeln und Teekannen, aus Caféhausstühlen und Stiefeln, aus Fahrradlenkern und Töpfen arrangiert, das bietet dutzendfach Gelegenheit zum Absuchen der Bilder nach wiederkehrenden Details und ist das Abbild von Ungerers Assemblagetechnik, die im Zufallsfund die Ähnlichkeit zu etwas Lebendem erkennt und dieses Leben plastisch nachbildet. Dabei spielt Schönheit keine Rolle, Brauchbarkeit auch nicht, sondern die Lust am Erschaffen. Es ist diese Freude, die aus allen Werken Ungerers spricht - auch aus diesem, das hoffentlich wieder Auftakt ist für eine ganze Reihe weiterer Meisterwerke.
ANDREAS PLATTHAUS
Tomi Ungerer: "Neue Freunde". Aus dem Englischen übersetzt von Anna Cramer-Klett. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 35 S., Abb., geb., 14,90 [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abgründig autobiographisch: Tomi Ungerers neuestes Bilderbuch
Von den Mellops bis zu den Bamokos und Sings sind es fünfzig Jahre. 1957 brachte Tomi Ungerer sein erstes Buch heraus: "The Mellops Go Flying". Es wurde sofort ein Erfolg, verschaffte dem elsässischen Zeichner einen Traumeinstieg in seine amerikanischen Jahre und begründete ein Kinderbuchwerk, das zu den großartigsten überhaupt zählt. Für die insgesamt fünf Bücher um die Schweinefamilie Mellops, die im vergangenen Herbst anlässlich Ungerers fünfundsiebzigstem Geburtstag erstmals zusammengefasst wurden, benötigte der Zeichner seinerzeit nur sechs Jahre, und dazwischen reichte es noch für weitere Meisterwerke des Genres wie "Crictor, die gute Schlange", "Emile" oder "Die drei Räuber"; Ungerers jüngstes Bilderbuch "Neue Freunde" dagegen ist das erste nach sieben langen Jahren Pause.
In diesen sieben Jahren ist Ungerer einiges widerfahren, was ihm die Laune aufs lustige Erzählen hätte verschlagen können: Schlaganfälle, Koma, Krebs, ein blindes Auge. Doch nun ist er wieder da, und das mit einem Buch, dessen Bilder vor Lust am Detail überzusprudeln scheinen. Die zugrundeliegende Geschichte wird denkbar lapidar und effizient erzählt: Der neunjährige Rafi Bamoko, Sohn eines schwarzen Elternpaars, und die gleich alte chinesischstämmige Ki Sing finden als sonst isolierte Kinder zusammen, weil sich ihre Talente so grandios ergänzen. Rafi ist ein Zauberer mit dem Werkzeugkasten, Ki eine Meisterin der Nähnadel. Gemeinsam schaffen sie so aus allerlei Hausrat und Abfall gewaltige Figuren, die ihnen die fehlende Gesellschaft anderer Kinder ersetzen sollen. Doch sobald erst die anderen Kinder diese Bastelarbeiten sehen, fehlt es gar nicht mehr an Gesellschaft. Und Rafi und Ki machen aus ihren spezifischen Befähigungen dann jeweils auch noch ihren Beruf.
So weit, so schlicht und erfreulich. Man könnte "Neue Freunde" als banal abtun, ja, sogar als klischeebehaftet - die nähende Asiatin, der handwerklich begabte Schwarze -, aber dann wäre man an der Oberfläche geblieben. Dort spielt sich eine erfolgreiche Integrationsgeschichte ab. Darunter erzählt Ungerer von etwas anderem: von den eigenen Leidenschaften. Der ewige Grenzgänger wird häufig erlebt haben, wie schwierig es ist, als Außenseiter zu reüssieren. Und wie es Rafi und Ki mittels ihrer skurrilen Figuren gelingt, Erfolg zu haben, so hat es auch Ungerer gemacht. Denn diese Figuren sind Abbilder seiner Phantasie, wie wir sie aus den Plakaten, Erwachsenenbüchern, Skulpturen und Filmen kennen - aus all den Werken Ungerers also, die keine Rücksicht auf Kinder nehmen mussten.
Auf dem Höhepunkt des Buches, einer doppelseitig inszenierten Museumsausstellung von Rafis und Kis Skulpturen, wälzt sich eine unübersehbare Besuchermasse durch den Saal, und in ihr finden wir den Mann mit vermauerten Augen, den rothaarigen Vamp, die Männer mit einem Augapfel als Kopf, die Zyklopenfrau, die Vampyrin, den Tod, den Mann mit leeren Augenhöhlen und manche Figur mehr, die wir aus den fünf Jahrzehnten des Ungererschen Schaffens kennen. Keine davon wirkt hier schrecklich oder gar obszön, alles dient der reinen Schaufreude der Betrachter. Denn Ungerer weiß viel zu genau, dass Kinder Spaß am Makabren und Absonderlichen haben. Und er kennt auch die Grenzen in dessen Darstellung, weil er selbst sie alle schon in anderen Büchern überschritten hat. Hier aber wahrt er sie perfekt.
Das allergrößte Vergnügen bereiten die Produkte von Rafis und Kis Zusammenarbeit. Wie Ungerer diese künstlichen Gefährten aus Klodeckeln und Teekannen, aus Caféhausstühlen und Stiefeln, aus Fahrradlenkern und Töpfen arrangiert, das bietet dutzendfach Gelegenheit zum Absuchen der Bilder nach wiederkehrenden Details und ist das Abbild von Ungerers Assemblagetechnik, die im Zufallsfund die Ähnlichkeit zu etwas Lebendem erkennt und dieses Leben plastisch nachbildet. Dabei spielt Schönheit keine Rolle, Brauchbarkeit auch nicht, sondern die Lust am Erschaffen. Es ist diese Freude, die aus allen Werken Ungerers spricht - auch aus diesem, das hoffentlich wieder Auftakt ist für eine ganze Reihe weiterer Meisterwerke.
ANDREAS PLATTHAUS
Tomi Ungerer: "Neue Freunde". Aus dem Englischen übersetzt von Anna Cramer-Klett. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 35 S., Abb., geb., 14,90 [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Hingerissen ist Rezensent Thomas David vom neuen Bilderbuch Tomi Ungerers, der damit unter Beweis gestellt habe, "dass er auch als einer der Großväter seines Metiers" noch immer zaubern könne. Vor allem freut sich Rezensent David darüber, dass es dem Autor ein weiteres Mal gelungen ist, mit seinen Büchern nicht nur Kinder zu begeistern: "Auf nie gesehene Weise" verbinde er Kinder- und Erwachsenenbuch, so dass auch durchaus "die ein oder andere Scheußlichkeit" auftauchen kann. So gefällt dem Rezensenten insbesondere Ungerers ironische und selbstreflexive Malart, die es ihm beispielsweise ermöglicht, ganz ohne erhobenen Zeigefinger die Verwertungsideologie des "Kunstbetriebs" aufs Korn zu nehmen. Nicht zuletzt deshalb ist dieses Buch für David "so aufregend und romantisch, so voller Überraschungen wie ein Schrottplatz bei Mondschein".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ach, was sind die putzigen Strölchlein der durchschnittlichen Krimis und Thriller für blasse Kerlchen gegen die absurde, böse Komik und Aussagekraft Ungererscher Gestalten.« Thomas Wörtche / Titel Magazin Titel Magazin