Johannes V. Jensen (1873-1950) schloss mit seinem dritten Band Himmerlandsgeschichten 1910 die große Geschichts- und Geschichtenschreibung seiner Heimatregion ab. »Neue Himmerlandsgeschichten« versammelt 18 Erzählungen und Essays, in denen Johannes V. Jensen diesmal auch als Sammler der Geschichten in Erscheinung tritt. Wie ein Ethnologe reflektiert er über den Wandel der Zeit und die gesellschaftlichen Entwicklungen, sammelt Volkslieder und mythische Erzählungen. Die technische Moderne bricht ins ländliche Himmerland ein und drängt mit ihren Zerstörungen und auch Versprechungen die vertrauten Sagen und Traditionen. Die neue Eisenbahnlinie verändert nicht nur den Alltag, sondern auch den Blick auf die Welt außerhalb der unmittelbaren Umgebung. Das führt zu Emigrationswellen und zur Erweiterung der Welt um das verheißungsvolle Land jenseits des Ozeans, das nun erreichbar geworden ist.Die Risse in der Gesellschaft und in den einzelnen Menschen, die durch den Eintritt in die Moderneentstehen, kennt niemand so genau wie Jensen. Zweifel an der Erzählbarkeit äußern sich in essayistischen Formen, in eingeschobenen Erläuterungen und Reflexionen. Und doch zelebriert Jensen in grandiosen Geschichten über Figuren wie Jørgine, Schleifstein-Ajes oder den Pferdehändler Kresten die menschliche Würde der unverwüstlich eigenwilligen Himmerländer. Ulrich Sonnenberg spürt in seiner präzisen Übersetzung der Beschreibungskunst Jensens nach und verschafft den fast urtümlichen Erzählungen einen auch für unsere Ohren zeitlosen, aber doch betörenden Klang.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2022Ein Leben für das Himmerland
Er machte Provinz zum Weltphänomen: Der Nobelpreisträger
Johannes Vilhelm Jensen erzählt von
den Käuzen seiner
norddänischen Heimat.
Hinter Bergen und Sümpfen leben auf der ganzen Welt irgendwelche Leute, die für rechte Hillbillys gehalten werden, dergestalt gern und leicht verachtet werden und dennoch eine Geschicklichkeit und Lebensklugheit an den Tag legen können, die so beispielhaft sind, dass davon erzählt werden muss. Man kennt diese Menschen aus Seldwyla, aus Suleyken, Dithmarschen und von sonst woher. Und sogenannte Kalendergeschichten kommen ohne diese Typen auch nicht aus.
Nun liegt - in absolut untadeliger, vorzüglicher Übersetzung von Ulrich Sonnenberg - der dritte Band der "Himmerlandsgeschichten" des dänischen Nobelpreisträgers Johannes Vilhelm Jensen (1873 bis 1950) vor. Die Geschichten aus seiner Heimat, der abgelegenen Himmerlandsregion am Limfjord, gehören zu den schon früh begonnenen Werken des (nie den Beruf des Arztes ausgeübt habenden) Mediziners und erfolgreichen Journalisten und Schriftstellers. Der, wenn man ihn so verstehen will, sein Leben lang über Himmerland schrieb. Aber dazu weiter unten.
Der Band versammelt zu Beginn Geschichten von Käuzen und komischen Typen, zum Beispiel von Kresten, der mit einer Karriere wie Hans im Glück dann den Beinamen "Der Pferdehändler" bekam. Oder von der Postlerin An'Selgin, die mit ihrem Sohn Klein-Selgin in der Heidekrauthütte wohnte. Klein-Selgin konnte sich mit dem Reichtum auf dem Hof, wo er sich verdingt hatte, nicht anfreunden und legte sich in die Heide, um zu sterben.
Jensen kommt im zweiten Teil seines Buchs (der nicht gesondert als solcher ausgewiesen ist) auf grundsätzliche Fragen des Strukturwandels durch Industrialisierung und den damit verbundenen Wandel der Arbeits- und Lebenswelten, nicht zuletzt der sexuellen Verhältnisse, zu sprechen. Beispielhaft sei dafür die in diesem Band nun endlich wieder auf Deutsch vorliegende Erzählung von Jørgine genannt. Das geschieht nicht in essayistischer Form, sondern immer wieder mit der erzählerischen Beschwörung jener Typen aus der alten Zeit, die sich auch anpassten oder eben untergingen. Und mit ihnen der Geschichten, die man über sie hätte erzählen können. Technikphobie und die Nachricht darüber, dass das durch den Wandel plötzlich Vergangene, die Bescheidenheit und Härte, mit der ein Leben zu führen war, hohe Werte sind, ohne die zu leben so hux flux auch nicht geht. Fast wie ein roter Faden durchzieht all diese Geschichten auch die Auswanderung nach Amerika - Dänemark verlor durch Emigration in den Neunzigern des neunzehnten Jahrhunderts zehn Prozent seiner Bevölkerung.
Doch nach Himmerland kamen die Leute auch wieder zurück, nahmen für Sommerferien ihre Autos aus den Vereinigten Staaten mit ins Himmerland, heirateten dort und fuhren wieder heim ins gelobte Land, wo sie zumindest ihr materielles Glück gemacht hatten. Diese engen Beziehungen auch übers große Wasser hinweg, die Bindungen an das Land der Herkunft und den Zusammenhalt, der sie ermöglicht, beschreibt Jensen wie folgt: "Außerdem glaube ich an das Gedächtnis der Sippe, an einen ererbten, vermutlich ganz organischen Drang zur Wiederholung familiärer Erfahrungen, um in die Zeiten einzudringen und gleichsam die Schatten all der Eindrücke zu erleben, die von entscheidendem Einfluss für unsere Ahnen waren." Das klingt nach tiefen kulturidentitären Grunderfahrungen, und Jensen geht so weit, dass er die These vertritt, das Himmerland sei das Kimbernland, also das Land jener Leute, die schon lange vor der zweiten großen Völkerwanderung zusammen mit den Teutonen nach Süden aufgebrochen seien. Mit diesem Wissen seien "früh vermittelte Sehnsuchtsvorstellungen von einem verschwundenen Wald und einem verschwundenen Volk" verbunden.
Man kann das als leicht bizarre Nationalromantik in der dänischen Grundtvig-Tradition verstehen, doch "die generationenalte Erinnerung ist auch verbunden mit Fernweh und Wanderlust. Kann man nicht in die Tiefe gelangen, muss man sich in der Breite bewegen. Ich habe aus beiden Quellen geschöpft, ich habe geträumt und gereist . . . Diese Sehnsucht trieb mich nicht allein hinaus in die Welt, sondern auch zu ungefähr allem Wissenswerten, und mit einer unersättlichen, von all dem Erlernten aufgeblähten Seele bin ich zurückgekehrt . . . Von hier bin ich ausgezogen, und hier, wo ich stehe, habe ich endlich den verschwundenen Wald und das verlorene Volk wieder gefunden. Mein ganzes Leben ist eine Beschreibung des Himmerlands." Reisen führt zwangsläufig immer wieder nach Hause, mehr ist dazu gar nicht zu sagen. Auch wenn der Verfasser immer wieder darauf besteht, dass es hier "mehr gibt, als man unmittelbar sieht". Das direkt auf den Erzähler bezogene Besondere ist im Allgemeinen des Himmerlands zu entdecken.
Man sollte diese Geschichten mit dem sicheren Bewusstsein dafür lesen, dass es überall viel zu beobachten und dann zu erzählen gibt - man muss nur schräg genug an die Dinge rangehen. Und der schräge, erzählerisch jedoch zu hundert Prozent sichere Blick zeichnet Jensen aus. Die für ihn nationalromantisch zu ordnende Welt wird also nicht durch diese anzustrebende Ordnung zugedeckt. Es gibt diese Ordnung nicht - das kann man aus den "Himmerlandsgeschichten" lernen. Das Buch vom "Segen der Erde", das der Norweger Knut Hamsun ein paar Jahre später, 1917, veröffentlichte, hält den Anschein einer solchen Ordnung unbeirrt aufrecht; es ist ein programmatisches Buch aus dem Norden Europas.
Das sind die "Himmerlandsgeschichten", die jetzt vollständig vorliegen, nicht. Heinrich Detering hat dem Band ein außerordentlich kenntnisreiches und kluges Nachwort beigegeben, das insbesondere viel Erhellendes zum Thema der Emigration in die Vereinigten Staaten im Zusammenhang der "Himmerlandsgeschichten" beiträgt und die Position Jensens in der dänischen Literaturgeschichte, sozusagen zwischen Herman Bang und Adam Oehlenschläger, kundig vermisst. STEPHAN OPITZ
Johannes V. Jensen: "Neue Himmerlandsgeschichten".
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Nachwort von Heinrich Detering. Guggolz-Verlag, Berlin 2022. 340 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er machte Provinz zum Weltphänomen: Der Nobelpreisträger
Johannes Vilhelm Jensen erzählt von
den Käuzen seiner
norddänischen Heimat.
Hinter Bergen und Sümpfen leben auf der ganzen Welt irgendwelche Leute, die für rechte Hillbillys gehalten werden, dergestalt gern und leicht verachtet werden und dennoch eine Geschicklichkeit und Lebensklugheit an den Tag legen können, die so beispielhaft sind, dass davon erzählt werden muss. Man kennt diese Menschen aus Seldwyla, aus Suleyken, Dithmarschen und von sonst woher. Und sogenannte Kalendergeschichten kommen ohne diese Typen auch nicht aus.
Nun liegt - in absolut untadeliger, vorzüglicher Übersetzung von Ulrich Sonnenberg - der dritte Band der "Himmerlandsgeschichten" des dänischen Nobelpreisträgers Johannes Vilhelm Jensen (1873 bis 1950) vor. Die Geschichten aus seiner Heimat, der abgelegenen Himmerlandsregion am Limfjord, gehören zu den schon früh begonnenen Werken des (nie den Beruf des Arztes ausgeübt habenden) Mediziners und erfolgreichen Journalisten und Schriftstellers. Der, wenn man ihn so verstehen will, sein Leben lang über Himmerland schrieb. Aber dazu weiter unten.
Der Band versammelt zu Beginn Geschichten von Käuzen und komischen Typen, zum Beispiel von Kresten, der mit einer Karriere wie Hans im Glück dann den Beinamen "Der Pferdehändler" bekam. Oder von der Postlerin An'Selgin, die mit ihrem Sohn Klein-Selgin in der Heidekrauthütte wohnte. Klein-Selgin konnte sich mit dem Reichtum auf dem Hof, wo er sich verdingt hatte, nicht anfreunden und legte sich in die Heide, um zu sterben.
Jensen kommt im zweiten Teil seines Buchs (der nicht gesondert als solcher ausgewiesen ist) auf grundsätzliche Fragen des Strukturwandels durch Industrialisierung und den damit verbundenen Wandel der Arbeits- und Lebenswelten, nicht zuletzt der sexuellen Verhältnisse, zu sprechen. Beispielhaft sei dafür die in diesem Band nun endlich wieder auf Deutsch vorliegende Erzählung von Jørgine genannt. Das geschieht nicht in essayistischer Form, sondern immer wieder mit der erzählerischen Beschwörung jener Typen aus der alten Zeit, die sich auch anpassten oder eben untergingen. Und mit ihnen der Geschichten, die man über sie hätte erzählen können. Technikphobie und die Nachricht darüber, dass das durch den Wandel plötzlich Vergangene, die Bescheidenheit und Härte, mit der ein Leben zu führen war, hohe Werte sind, ohne die zu leben so hux flux auch nicht geht. Fast wie ein roter Faden durchzieht all diese Geschichten auch die Auswanderung nach Amerika - Dänemark verlor durch Emigration in den Neunzigern des neunzehnten Jahrhunderts zehn Prozent seiner Bevölkerung.
Doch nach Himmerland kamen die Leute auch wieder zurück, nahmen für Sommerferien ihre Autos aus den Vereinigten Staaten mit ins Himmerland, heirateten dort und fuhren wieder heim ins gelobte Land, wo sie zumindest ihr materielles Glück gemacht hatten. Diese engen Beziehungen auch übers große Wasser hinweg, die Bindungen an das Land der Herkunft und den Zusammenhalt, der sie ermöglicht, beschreibt Jensen wie folgt: "Außerdem glaube ich an das Gedächtnis der Sippe, an einen ererbten, vermutlich ganz organischen Drang zur Wiederholung familiärer Erfahrungen, um in die Zeiten einzudringen und gleichsam die Schatten all der Eindrücke zu erleben, die von entscheidendem Einfluss für unsere Ahnen waren." Das klingt nach tiefen kulturidentitären Grunderfahrungen, und Jensen geht so weit, dass er die These vertritt, das Himmerland sei das Kimbernland, also das Land jener Leute, die schon lange vor der zweiten großen Völkerwanderung zusammen mit den Teutonen nach Süden aufgebrochen seien. Mit diesem Wissen seien "früh vermittelte Sehnsuchtsvorstellungen von einem verschwundenen Wald und einem verschwundenen Volk" verbunden.
Man kann das als leicht bizarre Nationalromantik in der dänischen Grundtvig-Tradition verstehen, doch "die generationenalte Erinnerung ist auch verbunden mit Fernweh und Wanderlust. Kann man nicht in die Tiefe gelangen, muss man sich in der Breite bewegen. Ich habe aus beiden Quellen geschöpft, ich habe geträumt und gereist . . . Diese Sehnsucht trieb mich nicht allein hinaus in die Welt, sondern auch zu ungefähr allem Wissenswerten, und mit einer unersättlichen, von all dem Erlernten aufgeblähten Seele bin ich zurückgekehrt . . . Von hier bin ich ausgezogen, und hier, wo ich stehe, habe ich endlich den verschwundenen Wald und das verlorene Volk wieder gefunden. Mein ganzes Leben ist eine Beschreibung des Himmerlands." Reisen führt zwangsläufig immer wieder nach Hause, mehr ist dazu gar nicht zu sagen. Auch wenn der Verfasser immer wieder darauf besteht, dass es hier "mehr gibt, als man unmittelbar sieht". Das direkt auf den Erzähler bezogene Besondere ist im Allgemeinen des Himmerlands zu entdecken.
Man sollte diese Geschichten mit dem sicheren Bewusstsein dafür lesen, dass es überall viel zu beobachten und dann zu erzählen gibt - man muss nur schräg genug an die Dinge rangehen. Und der schräge, erzählerisch jedoch zu hundert Prozent sichere Blick zeichnet Jensen aus. Die für ihn nationalromantisch zu ordnende Welt wird also nicht durch diese anzustrebende Ordnung zugedeckt. Es gibt diese Ordnung nicht - das kann man aus den "Himmerlandsgeschichten" lernen. Das Buch vom "Segen der Erde", das der Norweger Knut Hamsun ein paar Jahre später, 1917, veröffentlichte, hält den Anschein einer solchen Ordnung unbeirrt aufrecht; es ist ein programmatisches Buch aus dem Norden Europas.
Das sind die "Himmerlandsgeschichten", die jetzt vollständig vorliegen, nicht. Heinrich Detering hat dem Band ein außerordentlich kenntnisreiches und kluges Nachwort beigegeben, das insbesondere viel Erhellendes zum Thema der Emigration in die Vereinigten Staaten im Zusammenhang der "Himmerlandsgeschichten" beiträgt und die Position Jensens in der dänischen Literaturgeschichte, sozusagen zwischen Herman Bang und Adam Oehlenschläger, kundig vermisst. STEPHAN OPITZ
Johannes V. Jensen: "Neue Himmerlandsgeschichten".
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Nachwort von Heinrich Detering. Guggolz-Verlag, Berlin 2022. 340 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kundig weist der rezensierende Germanist und Skandinavist Stephan Opitz in die Bedeutung dieses Buchs und dieses Autors ein. Das entlegene Himmerland im Norden Jütlands wird dem dänischen Mediziner Jensen, der nie praktizierte, sondern als Autor Erfolge feierte, zur Essenz in einer nationalromantischen Sicht auf Dänemark, die dennoch nichts beschönigt. Es handelt sich sozusagen um Kalendergeschichten, erläutert der Rezensent, die am Beispiel oft etwas verschrobener Protagonisten bestimmte Tendenzen der dänischen Geschichte darstellen. Widergespiegelt wird etwa die massive Emigration von Dänen nach Amerika am Ende des 19. Jahrhunderts - Dänemark verlor damals zehn Prozent seiner Bevölkerung, erfahren wir. Widergespiegelt werden auch die Industrialisierung und die Verluste, die sie mit sich brachte. Der Rezensent lobt auch Heinrich Deterings informatives Nachwort zu diesem Band.
© Perlentaucher Medien GmbH
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