Aufgewachsen in dem trostlosen, spießbürgerlichen Neubauviertel Neue Vahr Süd - mit Anschluss an die Autobahn -, steht Frank Lehmann zum ersten Mal in seinem Leben vor einem echten Problem: Er hat schlicht und einfach vergessen, den Wehrdienst zu verweigern. Und während er nun in der Kaserne Strammstehen und bedingungslosen Gehorsam lernen soll, proben seine Freunde schon einmal die proletarische Weltrevolution. Und es kommt noch schlimmer, denn der Auszug von Zuhause in eine chaotische Wohngemeinschaft stellt Frank vor existenzielle Fragen wie: Wer macht den Abwasch? Und: Wer darf eigentlich Sibille küssen?
"So schön hat noch keiner über die Absurditäten in diesem Leben geschrieben." Elke Heidenreich
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "Coming-of-Age-Roman im Gewand einer Schwejkiade" hat Rezensent Richard Kämmerlings Sven Regeners neues Herr-Lehmann-Buch ausgesprochen erfreuen können. Ihm gefällt die Grundidee, den notorisch anpassungsunfähigen Anti-Helden nun zur Bundeswehr zu schicken, und er feiert die Gewissensprüfung als satirisches Glanzstück des Romans. Zu seinem Leidwesen muss er allerdings auch ein paar Schwächen zu Protokoll geben. Denn aus seiner Sicht verlieren die Bundeswehrkapitel bald an komischem Schwung. Auch die Passagen über Subkultur und Pseudoengagement findet der Rezensent nicht wirklich überragend. Doch irgendwann gewinnt der Roman für ihn endgültig Fahrt und hinter dem proletarischen Charme Lehmanns treten die Schwächen des Romans wieder zurück, findet der Rezensent, der beeindruckt ist, wie Regener seinen Helden mit autodidaktischer Intelligenz jeden Angriff parieren lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004Ich geh' dann schon mal, Herr Hauptfeld
Bei den Lehmann-Pionieren: Sven Regener schickt seinen Helden des Rückzugs zum Bund / Von Richard Kämmerlings
Es versteht sich, daß der leichtsinnige und gewissenlose Selbstverkauf hier wie überall die Entfremdung von der Heimat, die Gewöhnung an Gewalttätigkeit und Soldatenunfug und die Gleichgültigkeit gegen den Treubruch im Gefolge hatte." Was zu beweisen war: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Theodor Mommsen wußte schon, daß die Gesetze der Truppenmoral, die für die um 280 vor Christus in Syrakus herumlungernden kampanischen Landsknechte galten, allgemeinen Charakter haben. Und wenn Frank Lehmann in seiner Lieblingslektüre, Mommsens "Römischer Geschichte", schon bis zu den Punischen Kriegen gekommen wäre, hätte er alles vorher wissen können.
Doch so hat Lehmann einen Fehler gemacht, besser gesagt: Er hat gar nichts gemacht. Nach seiner Lehre als Speditionskaufmann lebt er immer noch bei seinen Eltern im Bremer Neubauviertel "Neue Vahr Süd", und während sein bester - und einziger - Freund Martin Klapp bereits Germanistik studiert, erhält Lehmann den Einberufungsbescheid zur Bundeswehr. Denn das wichtigste Buch für Männer in seinem Alter hat er nicht gelesen: "Verweigern leichtgemacht". Also rückt er in die Niedersachsen-Kaserne in Dörfelden/Barme ein, was niemand versteht: seine linksliberalen Eltern nicht, auch nicht Sibille, die er kurz vor dem Einrücken kennenlernt, noch nicht einmal der gefürchtete Schläger Harry, ein früherer Klassenkamerad: "Du bist doch mehr so der Hippietyp". Am wenigsten aber versteht es Frank selbst.
Es ist ein origineller Einfall von Sven Regener, ausgerechnet seinen notorisch anpassungsunfähigen Anti-Helden zum Bund zu schicken, als Verweigerungsverweigerer sozusagen. Erst jetzt versteht man wirklich, warum ihn die Anrede "Herr Lehmann" immer so gewurmt hat. Das erste, was man in der Grundausbildung lernt, ist das Meldungmachen: ",Sie sind jetzt Pionier, das ist Ihr Dienstgrad, das ist Ihr neuer Vorname, das ist alles, was Sie hier haben. Also nochmal: Wie heißen Sie?' - ,Lehmann, Herr Fahnenjunker' - ,Pionier Lehmann. Also nochmal: Wie heißen Sie?' - ,Pionier Lehmann.' - , Na? Na?' - ,Herr Fahnenjunker.' - ,Na, also.'" Der Großteil der Komik dieses Buches entsteht aus der Kollision zweier Sprachspiele. Melde gehorsamst, zu Vorgesetzten sagt man weder "Was gibt's denn?" noch "Ich geh dann mal" und erst recht nicht "Na dann ist ja gut".
Man hätte es wissen können. Denn schon in Regeners kurz vor der Wende in West-Berlin spielendem Erstling konnte Lehmann nur bedingt stolz darauf sein, nicht wie andere wegen der Bundeswehr hergekommen zu sein: "So schlau war ich nicht." Tatsächlich ahnt er insgeheim, daß ihm der Bund vor allem als Druckkessel dient, um seinem richtungslosen Leben ein bißchen Dampf zu machen. Gleich am ersten Urlaubswochenende machen ihm die passiv-aggressiven Eltern klar, daß es Zeit zum Ausziehen ist. "Neue Vahr Süd" ist ein Coming-of-Age-Roman im Gewand einer Schwejkiade. Man unterschätzt ihn leicht, denn erzähltechnisch wird hier das Rad nicht gerade neu erfunden.
Für neueinsteigende Leser sind die ersten Kapitel eine Grundausbildung bei den Lehmann-Pionieren: Eine junge Frau und drei Studenten werden in Lehmanns altem Opel Kadett zur Mensa mitgenommen und die harmlos-höfliche Frage, was er denn als Nichtstudent da wolle, setzt die Inquisitionsmaschine in Gang, die wir schon aus dem Debüt - etwa in Sachen Schweinebraten zum Frühstück - lebhaft im Ohr haben: "Was jetzt? Eben hast du noch gesagt, du meinst ja nur, jetzt sagst du, du hast das nicht so gemeint." Und wie die West-Berliner Köchin Katrin, so lernt die kleine und zarte Germanistikstudentin Sibille Frank Lehmann gleich von der richtigen Seite kennen. Die sanfte Tour ist nicht seine Sache; er ist doch nicht so der Hippietyp.
Das "Grünzeug", das Lehmann beim Bund trägt, erinnert nur noch ironisch an die Kluft von Gottfried Kellers "Grünem Heinrich", dem wohl schönsten Bildungsroman der deutschen Literatur: Denn Illusionen hat schon der junge Lehmann keine zu verlieren; die Hörner, die er sich abzustoßen hätte, müßte ihm erst einmal jemand aufsetzen. Er zieht in die von früheren Genossen und Punks bevölkerte Wohngemeinschaft seines Freunds Martin Klapp, der sich allerdings als Schnorrer und Intrigant entpuppt und überdies verzweifelt Sibille den Hof macht. Trotz der ein oder anderen schönen Episode sind diese Subkultur-Passagen des Romans nicht wirklich überraschend. Die Satire auf Politgeschwafel, Pseudoengagement und Vollversammlungsirrsinn - "Geschäftsordnungsanträge werden vorgezogen" - mag ja treffend sein, ist aber inzwischen selbst auf Freiburger Kabarettbühnen nicht mehr im Programm.
Die Bundeswehrhandlung dagegen wird vor allem vorangetrieben durch Lehmanns Eignung zum sophistischen Rhetor und seine Unfähigkeit, einmal keinen Kommentar abzugeben. Reichlich Gelegenheit zum Haarespalten hat er zunächst als unfreiwilliger "Vertrauensmann" seiner Kompanie und später bei seiner nachträglichen Verweigerung: Die Gewissensprüfung ist ein satirisches Glanzstück des Buchs. Aber auf Dauer verlieren auch die Bundeswehrkapitel an Schwung; nach der Versetzung zum öden Nachschubdienst breitet sich auch im Erzählen etwas Langeweile aus. Erst als es gegen Ende bei den Krawallen rund um das öffentlichen Gelöbnis im Weserstadion zur bewaffneten Konfrontation beider Handlungsstränge kommt und Lehmanns innerer Konflikt als blutige Straßenschlacht ausgetragen wird, gewinnt der Roman Fahrt.
Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die auf Generationenerfahrung spezialisierte deutsche Gegenwartsliteratur auch die Bundeswehrzeit als Stoff entdecken würde. Beim Zivildienst hat das etwa Marcus Braun vor einem Jahr mit "Hochzeitsvorbereitungen" amüsant vorgemacht. Die offenen Schwächen des Romans - das Chargieren der Nebenfiguren, seien es Militärs oder Punks, und die durch allerlei Zufälle vorangetriebene Handlung - treten zurück hinter dem proletarischen Charme Lehmanns, der mit autodidaktischer Intelligenz jeden Angriff pariert. Which side are you on? Der Gretchenfrage jener ideologisierten Jahre weicht Lehmann ebenso geschickt aus. Als er einmal ausgerechnet von der No-future-Fraktion gefragt wird, was ihm wirklich wichtig sei im Leben, fallen ihm nur die "Essensmarken" ein: "Irgendwie wollen doch alle Essensmarken, dachte er, auch Wolli, auch Mike, auch die Punks, dachte er, irgendwelche Essensmarken, von irgendwem, für irgendwas."
Zwischendurch taucht an der Seite von Franks älterem Bruder schon jener Künstler Karl auf, der später in Kreuzberg sein bester Freund werden wird und zu Franks Ärger in höchsten Tönen vom Metropolenleben schwärmt. ",Was soll das heißen, Provinz?' fragte Frank. ,Kannst du das mal erklären? Das würde ich ganz gern mal wissen, was du damit meinst.'" Die Frage, die Theodor Mommsen sofort hätte beantworten können, treibt Karl in die Defensive. Doch Franks vehemente Verteidigung der Randlage läßt sich nicht lange durchhalten. Ob Via Appia oder Transitautobahn - am Ende führen doch alle Wege nach Berlin.
Sven Regener: "Neue Vahr Süd". Roman. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2004. 586 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei den Lehmann-Pionieren: Sven Regener schickt seinen Helden des Rückzugs zum Bund / Von Richard Kämmerlings
Es versteht sich, daß der leichtsinnige und gewissenlose Selbstverkauf hier wie überall die Entfremdung von der Heimat, die Gewöhnung an Gewalttätigkeit und Soldatenunfug und die Gleichgültigkeit gegen den Treubruch im Gefolge hatte." Was zu beweisen war: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Theodor Mommsen wußte schon, daß die Gesetze der Truppenmoral, die für die um 280 vor Christus in Syrakus herumlungernden kampanischen Landsknechte galten, allgemeinen Charakter haben. Und wenn Frank Lehmann in seiner Lieblingslektüre, Mommsens "Römischer Geschichte", schon bis zu den Punischen Kriegen gekommen wäre, hätte er alles vorher wissen können.
Doch so hat Lehmann einen Fehler gemacht, besser gesagt: Er hat gar nichts gemacht. Nach seiner Lehre als Speditionskaufmann lebt er immer noch bei seinen Eltern im Bremer Neubauviertel "Neue Vahr Süd", und während sein bester - und einziger - Freund Martin Klapp bereits Germanistik studiert, erhält Lehmann den Einberufungsbescheid zur Bundeswehr. Denn das wichtigste Buch für Männer in seinem Alter hat er nicht gelesen: "Verweigern leichtgemacht". Also rückt er in die Niedersachsen-Kaserne in Dörfelden/Barme ein, was niemand versteht: seine linksliberalen Eltern nicht, auch nicht Sibille, die er kurz vor dem Einrücken kennenlernt, noch nicht einmal der gefürchtete Schläger Harry, ein früherer Klassenkamerad: "Du bist doch mehr so der Hippietyp". Am wenigsten aber versteht es Frank selbst.
Es ist ein origineller Einfall von Sven Regener, ausgerechnet seinen notorisch anpassungsunfähigen Anti-Helden zum Bund zu schicken, als Verweigerungsverweigerer sozusagen. Erst jetzt versteht man wirklich, warum ihn die Anrede "Herr Lehmann" immer so gewurmt hat. Das erste, was man in der Grundausbildung lernt, ist das Meldungmachen: ",Sie sind jetzt Pionier, das ist Ihr Dienstgrad, das ist Ihr neuer Vorname, das ist alles, was Sie hier haben. Also nochmal: Wie heißen Sie?' - ,Lehmann, Herr Fahnenjunker' - ,Pionier Lehmann. Also nochmal: Wie heißen Sie?' - ,Pionier Lehmann.' - , Na? Na?' - ,Herr Fahnenjunker.' - ,Na, also.'" Der Großteil der Komik dieses Buches entsteht aus der Kollision zweier Sprachspiele. Melde gehorsamst, zu Vorgesetzten sagt man weder "Was gibt's denn?" noch "Ich geh dann mal" und erst recht nicht "Na dann ist ja gut".
Man hätte es wissen können. Denn schon in Regeners kurz vor der Wende in West-Berlin spielendem Erstling konnte Lehmann nur bedingt stolz darauf sein, nicht wie andere wegen der Bundeswehr hergekommen zu sein: "So schlau war ich nicht." Tatsächlich ahnt er insgeheim, daß ihm der Bund vor allem als Druckkessel dient, um seinem richtungslosen Leben ein bißchen Dampf zu machen. Gleich am ersten Urlaubswochenende machen ihm die passiv-aggressiven Eltern klar, daß es Zeit zum Ausziehen ist. "Neue Vahr Süd" ist ein Coming-of-Age-Roman im Gewand einer Schwejkiade. Man unterschätzt ihn leicht, denn erzähltechnisch wird hier das Rad nicht gerade neu erfunden.
Für neueinsteigende Leser sind die ersten Kapitel eine Grundausbildung bei den Lehmann-Pionieren: Eine junge Frau und drei Studenten werden in Lehmanns altem Opel Kadett zur Mensa mitgenommen und die harmlos-höfliche Frage, was er denn als Nichtstudent da wolle, setzt die Inquisitionsmaschine in Gang, die wir schon aus dem Debüt - etwa in Sachen Schweinebraten zum Frühstück - lebhaft im Ohr haben: "Was jetzt? Eben hast du noch gesagt, du meinst ja nur, jetzt sagst du, du hast das nicht so gemeint." Und wie die West-Berliner Köchin Katrin, so lernt die kleine und zarte Germanistikstudentin Sibille Frank Lehmann gleich von der richtigen Seite kennen. Die sanfte Tour ist nicht seine Sache; er ist doch nicht so der Hippietyp.
Das "Grünzeug", das Lehmann beim Bund trägt, erinnert nur noch ironisch an die Kluft von Gottfried Kellers "Grünem Heinrich", dem wohl schönsten Bildungsroman der deutschen Literatur: Denn Illusionen hat schon der junge Lehmann keine zu verlieren; die Hörner, die er sich abzustoßen hätte, müßte ihm erst einmal jemand aufsetzen. Er zieht in die von früheren Genossen und Punks bevölkerte Wohngemeinschaft seines Freunds Martin Klapp, der sich allerdings als Schnorrer und Intrigant entpuppt und überdies verzweifelt Sibille den Hof macht. Trotz der ein oder anderen schönen Episode sind diese Subkultur-Passagen des Romans nicht wirklich überraschend. Die Satire auf Politgeschwafel, Pseudoengagement und Vollversammlungsirrsinn - "Geschäftsordnungsanträge werden vorgezogen" - mag ja treffend sein, ist aber inzwischen selbst auf Freiburger Kabarettbühnen nicht mehr im Programm.
Die Bundeswehrhandlung dagegen wird vor allem vorangetrieben durch Lehmanns Eignung zum sophistischen Rhetor und seine Unfähigkeit, einmal keinen Kommentar abzugeben. Reichlich Gelegenheit zum Haarespalten hat er zunächst als unfreiwilliger "Vertrauensmann" seiner Kompanie und später bei seiner nachträglichen Verweigerung: Die Gewissensprüfung ist ein satirisches Glanzstück des Buchs. Aber auf Dauer verlieren auch die Bundeswehrkapitel an Schwung; nach der Versetzung zum öden Nachschubdienst breitet sich auch im Erzählen etwas Langeweile aus. Erst als es gegen Ende bei den Krawallen rund um das öffentlichen Gelöbnis im Weserstadion zur bewaffneten Konfrontation beider Handlungsstränge kommt und Lehmanns innerer Konflikt als blutige Straßenschlacht ausgetragen wird, gewinnt der Roman Fahrt.
Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die auf Generationenerfahrung spezialisierte deutsche Gegenwartsliteratur auch die Bundeswehrzeit als Stoff entdecken würde. Beim Zivildienst hat das etwa Marcus Braun vor einem Jahr mit "Hochzeitsvorbereitungen" amüsant vorgemacht. Die offenen Schwächen des Romans - das Chargieren der Nebenfiguren, seien es Militärs oder Punks, und die durch allerlei Zufälle vorangetriebene Handlung - treten zurück hinter dem proletarischen Charme Lehmanns, der mit autodidaktischer Intelligenz jeden Angriff pariert. Which side are you on? Der Gretchenfrage jener ideologisierten Jahre weicht Lehmann ebenso geschickt aus. Als er einmal ausgerechnet von der No-future-Fraktion gefragt wird, was ihm wirklich wichtig sei im Leben, fallen ihm nur die "Essensmarken" ein: "Irgendwie wollen doch alle Essensmarken, dachte er, auch Wolli, auch Mike, auch die Punks, dachte er, irgendwelche Essensmarken, von irgendwem, für irgendwas."
Zwischendurch taucht an der Seite von Franks älterem Bruder schon jener Künstler Karl auf, der später in Kreuzberg sein bester Freund werden wird und zu Franks Ärger in höchsten Tönen vom Metropolenleben schwärmt. ",Was soll das heißen, Provinz?' fragte Frank. ,Kannst du das mal erklären? Das würde ich ganz gern mal wissen, was du damit meinst.'" Die Frage, die Theodor Mommsen sofort hätte beantworten können, treibt Karl in die Defensive. Doch Franks vehemente Verteidigung der Randlage läßt sich nicht lange durchhalten. Ob Via Appia oder Transitautobahn - am Ende führen doch alle Wege nach Berlin.
Sven Regener: "Neue Vahr Süd". Roman. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2004. 586 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2004Die Lehrjahre des ziellosen Lebens
Nachgetragene Vorgeschichte: Sven Regener erzählt in „Neue Vahr Süd” die Jugend des Herrn Lehmann
Nichtbremer werden mit dem Titel ein Problem haben, denn wie sollen sie wissen, ob man das Wort „Vahr” wie „wahr” oder wie „fahr” ausspricht? Auch hat jemand, der die Geburtsstadt des Autors Sven Regener nicht kennt, keine Vorstellung von den Konnotationen, mit denen der bremische Stadtteil Neue Vahr behaftet ist. Auf 250 Hektar Ackerland, dem seinerzeit größten Wohnungsbaugebiet der Republik, war zwischen 1957 und 1963 eine Reißbrettsiedlung entstanden, die von den Bewohnern älterer, durch glücklichen Zufall den Kriegszerstörungen entgangener Viertel mit kühler Verachtung gestraft wurde, obwohl sie den damaligen Erkenntnisstand der Stadtplanung vorbildlich repräsentierte - Licht und Luft, Bad und Balkon für alle, Trennung von Wohn- und Arbeitswelt - und sogar ein Hochhaus nach Plänen von Alvar Aalto vorweisen konnte. In der Neuen Vahr wohnte „man” nicht, und man dankte seinem Herrgott, dass man nicht zu den Dreißigtausend gehörte, die in den Wirtschaftswunderjahren dort eine neue Heimat suchten und fanden. Die Adresse „Neue Vahr Süd” ist in der Hansestadt bis heute ein Synonym für geschichts- und ereignislose kleinbürgerliche Ödnis, in der noch nicht einmal, wie in so manchem später errichteten Beton-Ghetto, massive soziale Probleme etwas Farbe in den Alltag bringen.
Dort also ist er aufgewachsen, jener nach Berlin emigrierte „Herr Lehmann”, dessen Kreuzberger Kneipen-Kapriolen vor drei Jahren selbst Großkritiker applaudieren ließen. Lehmanns mit Nichtigkeiten vollgestopfte Tage und Nächte im Herbst des Mauerfalls, seine Oblomow-Attitüde und sein freundlich-nöliger Tonfall hatten offenbar einen kollektiven Nerv getroffen; vor allem aber schien die entspannte Kunstferne seines Auftretens, die anspruchslose, doch nie ganz flache Komik seiner Denkfiguren an verschüttete Bedürfnisse auch bei Schwerintellektuellen zu rühren. Dieser retrospektive Westberliner Szeneroman wirkte wie ein von allen literarischen Finessen gereinigtes Epigonenstück zu Henscheids Frankfurter „Vollidioten”.
Schwundstufen-Schlitzohr
Nun legt Sven Regener, vom Sänger und Texter der Band „Element of Crime” zum Erfolgsschriftsteller aufgestiegen, einen veritablen Ziegelstein nach. Sein neuer Roman ist fast doppelt so dick wie der Vorgänger und führt zurück ins Jahr 1980, die Zeit, als Herr Lehmann noch in Bremen wohnte und von seinen Freunden „Frankie” genannt wurde. Dass er über Bundeswehr-Erfahrung verfügte, hatte der Kreuzberger Barkeeper und Bierzapfer Lehmann bei Gelegenheit schon durchblicken lassen. Jetzt erfahren wir, wie er aus reiner Trägheit zu den Streitkräften geriet, wie er sich durchmogelte und schließlich den Absprung in ein sinnfreies, zielloses, doch auf seine Art stimmiges und erfülltes Leben fand.
Wir erleben, wie der junge Frank Lehmann, der nach einer kaufmännischen Lehre noch bei seinen Eltern wohnt und nur widerstrebend flügge wird, allmählich lernt, Entscheidungen zu treffen, Veränderungen anzuschieben, seinem Dasein eine Form zu geben, die seiner inneren Überzeugung entspricht. Er braucht dazu ungefähr ein halbes Jahr, aber als Leser kommt einem diese Zeit viel länger vor, streckenweise sogar quälend langweilig.
Es ist nämlich so, als hätte Regener, um Frankies Frühphase mit größtmöglicher Authentizität wiederzugeben, sich auch erzähltechnisch auf eine Vor- und Schwundstufe zurückversetzt, auf ein Niveau, das von der schlitzohrigen Schlaffheit und träumerischen Trinker-Sophistik des Herrn Lehmann noch meilenweit entfernt ist. Frankie, und mit ihm der Erzähler, nimmt die Welt wahr wie jemand, der aus seinem Jugendzimmer in der Neuen Vahr Süd die allerersten Schritte in fremde Sphären wagt, als da sind: die Bundeswehrkaserne in Dörverden/Barme, später das Äquivalent in der Neuen Vahr, wo damals noch citynah exerziert wurde, sowie eine linksaktivistische Studenten-WG im alternativen Bremer Ostertorviertel.
Was ihm an diesen Orten des Schreckens widerfährt, wird in siebenundvierzig Kapiteln bis ins redundanteste Detail protokolliert, und zwar mit einem Realismus, der so konsequent an der Oberfläche bleibt, wie man es von Jugendbüchern der unbedarfteren Sorte kennt. Bei den Bundeswehr-Episoden funktioniert die Methode bestens, denn das, was sich hinter geschlossenen Kasernentoren abspielt, ist per se so schaurig komisch, dass man es nur gewissenhaft zu dokumentieren braucht, um eine perfekte Militärklamotte vorzulegen. Für jeden jungen Mann, der wie Frank Lehmann das Verweigern des Wehrdienstes „irgendwie verpennt” oder bislang nicht in Erwägung gezogen hat, sollten diese Passagen zur Pflichtlektüre erhoben werden.
Regeners Beobachtungen in der bröckelnden Bremer K-Gruppen-Szene nach dem Deutschen Herbst sind gewiss ebenso nah an der Wirklichkeit, doch leider von sehr lendenlahmem Witz. Spätestens hier wird dem Autor zum Verhängnis, dass er sich als Meister des unzensierten Dialogs hervortun will und dass seine Beschreibungskunst sich auf das Aufzählen von Örtlichkeiten im Namedropping-Verfahren beschränkt: Wer jene Verhältnisse auch nur flüchtig kennen gelernt hat, registriert jede Menge verschenkte Pointen. Denn das ist es doch vermutlich, was Regeners Stammleser sich wünschen: Ablachen können wie über Herrn Lehmann, nur länger. Sie müssen sich insofern umstellen, als der gelungenste Teil des Romans von eher traurigen Dingen handelt und auch keine Anstalten macht, sie ins Lachhafte zu ziehen.
Der Kraftakt eines Anti-Helden
Das beginnt beim Kapitel Nr. 41, Überschrift „Grillplatte Balkan”, welches einem schicksalhaften Regen-Rendezvous beim Jugoslawen gewidmet ist, und mündet in die Schilderung des Bundeswehr-Gelöbnisses im Bremer Weserstadion, einer legendären Veranstaltung aus der lokalen Demonstrationschronik. Der blutige Zusammenprall der beiden feindlichen Milieus, von denen der Antiheld sich in einem Kraftakt emanzipieren muss, gewinnt durch Regeners quasi unschuldigen Dokumentationston eine beklemmende Eindringlichkeit. Vielleicht liegt die wahre Stärke des Autors gar nicht im Komischen, sondern auf einem anderen Gebiet - aber für solche Prognosen ist es nach dem zwiespältigen Eindruck dieses Zweitlings noch zu früh.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
SVEN REGENER: Neue Vahr Süd. Roman. Eichborn Berlin Verlag, Frankfurt am Main 2004. 582 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Nachgetragene Vorgeschichte: Sven Regener erzählt in „Neue Vahr Süd” die Jugend des Herrn Lehmann
Nichtbremer werden mit dem Titel ein Problem haben, denn wie sollen sie wissen, ob man das Wort „Vahr” wie „wahr” oder wie „fahr” ausspricht? Auch hat jemand, der die Geburtsstadt des Autors Sven Regener nicht kennt, keine Vorstellung von den Konnotationen, mit denen der bremische Stadtteil Neue Vahr behaftet ist. Auf 250 Hektar Ackerland, dem seinerzeit größten Wohnungsbaugebiet der Republik, war zwischen 1957 und 1963 eine Reißbrettsiedlung entstanden, die von den Bewohnern älterer, durch glücklichen Zufall den Kriegszerstörungen entgangener Viertel mit kühler Verachtung gestraft wurde, obwohl sie den damaligen Erkenntnisstand der Stadtplanung vorbildlich repräsentierte - Licht und Luft, Bad und Balkon für alle, Trennung von Wohn- und Arbeitswelt - und sogar ein Hochhaus nach Plänen von Alvar Aalto vorweisen konnte. In der Neuen Vahr wohnte „man” nicht, und man dankte seinem Herrgott, dass man nicht zu den Dreißigtausend gehörte, die in den Wirtschaftswunderjahren dort eine neue Heimat suchten und fanden. Die Adresse „Neue Vahr Süd” ist in der Hansestadt bis heute ein Synonym für geschichts- und ereignislose kleinbürgerliche Ödnis, in der noch nicht einmal, wie in so manchem später errichteten Beton-Ghetto, massive soziale Probleme etwas Farbe in den Alltag bringen.
Dort also ist er aufgewachsen, jener nach Berlin emigrierte „Herr Lehmann”, dessen Kreuzberger Kneipen-Kapriolen vor drei Jahren selbst Großkritiker applaudieren ließen. Lehmanns mit Nichtigkeiten vollgestopfte Tage und Nächte im Herbst des Mauerfalls, seine Oblomow-Attitüde und sein freundlich-nöliger Tonfall hatten offenbar einen kollektiven Nerv getroffen; vor allem aber schien die entspannte Kunstferne seines Auftretens, die anspruchslose, doch nie ganz flache Komik seiner Denkfiguren an verschüttete Bedürfnisse auch bei Schwerintellektuellen zu rühren. Dieser retrospektive Westberliner Szeneroman wirkte wie ein von allen literarischen Finessen gereinigtes Epigonenstück zu Henscheids Frankfurter „Vollidioten”.
Schwundstufen-Schlitzohr
Nun legt Sven Regener, vom Sänger und Texter der Band „Element of Crime” zum Erfolgsschriftsteller aufgestiegen, einen veritablen Ziegelstein nach. Sein neuer Roman ist fast doppelt so dick wie der Vorgänger und führt zurück ins Jahr 1980, die Zeit, als Herr Lehmann noch in Bremen wohnte und von seinen Freunden „Frankie” genannt wurde. Dass er über Bundeswehr-Erfahrung verfügte, hatte der Kreuzberger Barkeeper und Bierzapfer Lehmann bei Gelegenheit schon durchblicken lassen. Jetzt erfahren wir, wie er aus reiner Trägheit zu den Streitkräften geriet, wie er sich durchmogelte und schließlich den Absprung in ein sinnfreies, zielloses, doch auf seine Art stimmiges und erfülltes Leben fand.
Wir erleben, wie der junge Frank Lehmann, der nach einer kaufmännischen Lehre noch bei seinen Eltern wohnt und nur widerstrebend flügge wird, allmählich lernt, Entscheidungen zu treffen, Veränderungen anzuschieben, seinem Dasein eine Form zu geben, die seiner inneren Überzeugung entspricht. Er braucht dazu ungefähr ein halbes Jahr, aber als Leser kommt einem diese Zeit viel länger vor, streckenweise sogar quälend langweilig.
Es ist nämlich so, als hätte Regener, um Frankies Frühphase mit größtmöglicher Authentizität wiederzugeben, sich auch erzähltechnisch auf eine Vor- und Schwundstufe zurückversetzt, auf ein Niveau, das von der schlitzohrigen Schlaffheit und träumerischen Trinker-Sophistik des Herrn Lehmann noch meilenweit entfernt ist. Frankie, und mit ihm der Erzähler, nimmt die Welt wahr wie jemand, der aus seinem Jugendzimmer in der Neuen Vahr Süd die allerersten Schritte in fremde Sphären wagt, als da sind: die Bundeswehrkaserne in Dörverden/Barme, später das Äquivalent in der Neuen Vahr, wo damals noch citynah exerziert wurde, sowie eine linksaktivistische Studenten-WG im alternativen Bremer Ostertorviertel.
Was ihm an diesen Orten des Schreckens widerfährt, wird in siebenundvierzig Kapiteln bis ins redundanteste Detail protokolliert, und zwar mit einem Realismus, der so konsequent an der Oberfläche bleibt, wie man es von Jugendbüchern der unbedarfteren Sorte kennt. Bei den Bundeswehr-Episoden funktioniert die Methode bestens, denn das, was sich hinter geschlossenen Kasernentoren abspielt, ist per se so schaurig komisch, dass man es nur gewissenhaft zu dokumentieren braucht, um eine perfekte Militärklamotte vorzulegen. Für jeden jungen Mann, der wie Frank Lehmann das Verweigern des Wehrdienstes „irgendwie verpennt” oder bislang nicht in Erwägung gezogen hat, sollten diese Passagen zur Pflichtlektüre erhoben werden.
Regeners Beobachtungen in der bröckelnden Bremer K-Gruppen-Szene nach dem Deutschen Herbst sind gewiss ebenso nah an der Wirklichkeit, doch leider von sehr lendenlahmem Witz. Spätestens hier wird dem Autor zum Verhängnis, dass er sich als Meister des unzensierten Dialogs hervortun will und dass seine Beschreibungskunst sich auf das Aufzählen von Örtlichkeiten im Namedropping-Verfahren beschränkt: Wer jene Verhältnisse auch nur flüchtig kennen gelernt hat, registriert jede Menge verschenkte Pointen. Denn das ist es doch vermutlich, was Regeners Stammleser sich wünschen: Ablachen können wie über Herrn Lehmann, nur länger. Sie müssen sich insofern umstellen, als der gelungenste Teil des Romans von eher traurigen Dingen handelt und auch keine Anstalten macht, sie ins Lachhafte zu ziehen.
Der Kraftakt eines Anti-Helden
Das beginnt beim Kapitel Nr. 41, Überschrift „Grillplatte Balkan”, welches einem schicksalhaften Regen-Rendezvous beim Jugoslawen gewidmet ist, und mündet in die Schilderung des Bundeswehr-Gelöbnisses im Bremer Weserstadion, einer legendären Veranstaltung aus der lokalen Demonstrationschronik. Der blutige Zusammenprall der beiden feindlichen Milieus, von denen der Antiheld sich in einem Kraftakt emanzipieren muss, gewinnt durch Regeners quasi unschuldigen Dokumentationston eine beklemmende Eindringlichkeit. Vielleicht liegt die wahre Stärke des Autors gar nicht im Komischen, sondern auf einem anderen Gebiet - aber für solche Prognosen ist es nach dem zwiespältigen Eindruck dieses Zweitlings noch zu früh.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
SVEN REGENER: Neue Vahr Süd. Roman. Eichborn Berlin Verlag, Frankfurt am Main 2004. 582 Seiten, 24,90 Euro.
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