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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2013

Die subversiven Idyllen des Eugen Rapp

Hermann Lenz ist der Autor, in dessen Büchern sich der junge Peter Handke geborgen fühlte: Zum Hundertsten von Lenz erscheint noch einmal der Roman "Neue Zeit".

Hermann Lenz, der heute vor hundert Jahren in Stuttgart geboren wurde und am 12. Mai 1998 in München starb, ist einer der subversivsten Schriftsteller unserer Literatur.

Dabei war er ein ganz friedlicher, freundlicher, sanftmütiger Mensch, vollkommen unfähig zu Streit und Polemik, vollkommen ungeeignet zu Hass und Verachtung, absolut desinteressiert an Einfluss, gar Macht. Und er hat in allen Gedichten, Erzählungen und Romanen seines langen, mehr als sechs Jahrzehnte währenden Schreiblebens auch das ihm Mögliche getan, um den äußeren Eindruck, den er, ein so feiner, gebildeter, bescheidener Herr, auf sein Gegenüber machte, durch Stil und Sujet seiner Werke zu beglaubigen und zu bekräftigen.

Bis zum 22. Dezember 1973 hat ihn diese Haltung dann auch zu einem Dichter im stillen Winkel gemacht, zu einem, der Jahr für Jahr in kleinen und kleinsten Verlagen vor sich hin publizierte, ohne im Grunde wahrgenommen zu werden - traditionell gestimmte, oft reimende Lyrik über alltägliche Dinge und die ihn umgebende Natur, mal novellen-, mal romanhafte Geschichten zudem, die er mit Vorliebe im Wien des fin de siècle ansiedelte und mit handlungsmüden Adligen und deren Dienern bevölkerte. Er war schon über fünfzig, als er sich in der Figur des Eugen Rapp einen literarischen Doppelgänger schuf und mit dieser, wie er es nannte, "Volksausgabe meiner selbst" auf Vergangenheitserkundung ging - erst zurück ins neunzehnte Jahrhundert und in die schwäbische Welt seiner Vorfahren ("Verlassene Zimmer", 1966), danach sich vortastend in die Zeit der eigenen Jugend und des aufkommenden Nationalsozialismus ("Andere Tage", 1968).

So hätte es weitergehen können, und so ging es auch weiter: Bis zu seinem Tod erschienen in toto neun Rapp-Romane. Der letzte heißt "Freunde" (1997) und erzählt, maßvoll verschlüsselt, vom Münchner Lebensabend des Ehepaars Hanne und Hermann Lenz. Und doch hatte sich für diesen Autor inzwischen alles geändert. Denn am 22. Dezember 1973 druckte die "Süddeutsche Zeitung" einen Aufsatz mit dem Titel "Tage wie ausgeblasene Eier - Einladung, Hermann Lenz zu lesen". Geschrieben hatte ihn der nahezu dreißig Jahre jüngere, dafür aber bereits hochberühmte Autor Peter Handke. Und von Stund' an war auch Lenz berühmt, erhielt einen wichtigen Literaturpreis nach dem anderen, reiste von einer Ordensverleihung zur nächsten, wurde, wiederum dank Handkes Intervention, Autor in Siegfried Unselds Verlagen Suhrkamp und Insel, erlebte Neuauflagen und Neuausgaben von soeben noch unverkäuflichen Büchern - und war's auf seine zurückhaltende Art zufrieden. "Sapperlot!", sagte er bisweilen, indem er Eugen Rapp zitierte, der das auch immer sagt, wenn er sich wundert. Eine wirkungsmächtigere Empfehlung jedenfalls als jene, die Handke für Lenz gab, wird man in unserer Literatur schwerlich ein weiteres Mal finden.

Was aber hatte ihn so fasziniert? "Ich bekam", notiert Handke, "vom Lesen ein Kindheitsgefühl; ... kaum jemals hatte ich mich so geborgen gefühlt." Aber er spürte naturgemäß auch, dass solche Begütigung vor allem ein Antidot für "die Angst" darstelle, die alle Bücher von Hermann Lenz grundiere. Damit war der Kern des Werks benannt. Es gibt sich an der Oberfläche gerne gefällig, ja bisweilen harmlos - und es wiederholt immer aufs Neue das nie auftrumpfende Außenseitertum der Hauptfiguren, ihr Nicht-Mitmachen, ihren Rückzug ins Private, ihre Lust zur Weltflucht. Aber solcher Quietismus hat einen Preis, denn die Verhältnisse der Zeit und die herrschenden Normen der Gesellschaft verlangen jeweils nach Teilhabe, Dabeisein, Einordnung und, vor allem, Unterordnung. Wer da nicht mitmachen kann, kommt nahezu zwangsläufig unter die Räder,

Nirgendwo hat Hermann Lenz dies genauer und zugleich radikaler dargestellt als in dem 1975 erstmals erschienenen Rapp-Roman "Neue Zeit", dessen Handlung sich von Ende 1937 bis Anfang 1946 erstreckt, also vom Vorabend des Zweiten Weltkriegs bis zu dessen Nachwirren. Rapp, der in München Kunstgeschichte studiert und erste zarte Bande zu der Halbjüdin Hanni Treutlein geknüpft hat, wird zu Beginn des Frankreichfeldzugs zur Wehrmacht eingezogen und im Winter 1941 mit seiner Einheit an die russische Front versetzt: Leningrad soll eingeschlossen und ausgehungert werden. Bis Januar 1944 werden dabei mehr als eine Million Menschen das Leben verlieren.

Im Herbst 1942 wird der Scharfschütze Rapp, der bisher nicht einen einzigen Schuss abgegeben hat, Zeuge einer Exekution. "Da wurde in einen Menschenkopf eine Maschinenpistolensalve hineingejagt", notiert er und fährt dann, weiterhin von sich selbst in der dritten Person redend, sogleich fort: "und trotzdem schrieb er wenig später Verse, in denen nur heller Schein und Schimmer war". Das lyrische Idylle heißt "Rote Schuhe" - und findet sich im Band "Zeitlebens", in dem Lenz 1981 seine ihm wichtigsten Gedichte versammelte. Das Subversive dieses Autors wird an dieser ungeheuerlichen Stelle exemplarisch. Es zeigt sich darin, dass gerade das bloße Beiseitestehen, das schiere Beobachten, das Nicht-Mitmachen Schuld erzeugt - und dass der Versemacher deshalb "vielleicht verachtenswert" ist. So hält Hermann Lenz Gerichtstag über Eugen Rapp, also gegen sich selbst. Das ist die Wahrheit seiner Literatur.

Dass gerade dieser Roman zum hundertsten Geburtstag in einer Neuausgabe veröffentlicht wird, ist sehr angemessen. Dem Band beigefügt sind einige Briefe, die sich Lenz und Hanne Trautwein, das "Fräulein Treutlein" des Romans, in jenen Jahren tatsächlich geschrieben haben: Es ist das erste Mal überhaupt, dass aus der umfangreichen Korrespondenz der beiden Proben an die Öffentlichkeit finden. Ganz beiläufig erfährt man dabei auch, dass es sich bei dem frühen Verehrer der nachmaligen Hanne Lenz um den jungen Franz Josef Strauß gehandelt hat. Im Roman heißt er Hackl und hasst den Helden.

JOCHEN HIEBER

Hermann Lenz: "Neue Zeit". Roman. Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937 - 1945. Ausgewählt von Peter Hamm.

Insel Verlag, Berlin 2013. 431 S., geb., 22,95 [Euro].

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