Der Roman spielt an der Schwelle zu einer neuen Epoche, 1888 in Amsterdam. Der Aufschwung ist überall spürbar, an allen Ecken wird gebaut. Walter Vedder, dessen Häuschen dem Neubau eines Grandhotels im Weg steht, wittert seine Chance: Er fordert für sein Grundstück eine viel zu hohe Summe von den Bauunternehmern, und einer seiner Verwandten tut es ihm gleich. Doch ganz so einfach, wie die beiden es sich vorgestellt haben, kommt man nicht zu Geld und Wohlstand
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2004Und an den Küsten, liest man, steigt die Flut
Holländer in Not: Thomas Rosenbooms wunderbarer Roman „Neue Zeiten”
Durchaus möglich, dass man in den Niederlanden sensibler als anderswo in Europa das Nahen eines großen Umbruchs, gewaltiger sozialer Veränderungen verspürt, als deren apokalyptische Boten Neoliberalismus und Globalisierung zu identifizieren wären. Möglich aber auch, dass man dort allzu lange allzu selbstgewiss einige tiefreichende Veränderungen erfolgreich verdrängt hat, die erst mit dem Erfolg des rechtspopulistischen Politikers Pim Fortuyn manifest wurden. Vielleicht entdeckte man hier aber auch nur früher als anderswo, dass die Zeit der Väter, der Groß- und Urgroßväter eine Fülle an Stoffen zu bieten hat, die sich, wenn man sie narrativ geschickt aufarbeitet, der Gegenwart als Exempel andienen lassen.
Geert Maks wunderbares Buch „Das Jahrhundert meines Vaters”, eine geglückte Mischung aus Familiengeschichte, Biographie und politisch-historischer Aufklärung, das im vergangenen Jahr auf Deutsch erschien, lieferte für alle diese Vermutungen einen ersten Hinweis. Dass es sich dabei geradezu um einen literarischen Trend zu handeln scheint, dafür spricht das jetzt vorliegende Buch von Thomas Rosenboom „Neue Zeiten”.
Die Handlung des Romans spielt vor gut einhundert Jahren in Amsterdam und auf dem Land. Hier wie dort kündigen sich große Veränderungen an, die das Leben der drei Protagonisten existentiell verändern werden. Das Buch ist als eine in drei Stimmen vorgetragene Chronik angelegt, die genau registriert, wie die im Wortsinne Betroffenen auf die Veränderungen ihrer überkommenen, vermeintlich überschaubaren Lebensweise reagieren, die mit jenem Prozess unaufhaltsam heraufgeführt werden, den man als technisch-zivilisatorischen Fortschritt zugleich objektiviert und verharmlost.
Der erste Handlungsträger ist eine arme jüdische Kätnerfamilie, die sich am Rande der dörflichen Gesellschaft mehr schlecht als recht vom Torfabbau ernährt. Die drohende Erschöpfung des Torfstichs zwingt sie dazu, bei Nacht und Nebel die primitive Kate zu verlassen, um in einer anderen, reichere Vorkommen verheißenden Gegend erneut Fuß zu fassen. Das muss in aller Heimlichkeit und sehr schnell geschehen, denn dieser Ortswechsel ist auch eine Landnahme, die nur dann von den neuen Nachbarn und Konkurrenten im endemischen Elend toleriert wird, wenn es gelingt, bis zum Morgengrauen eine neue Kate zu errichten und aus trockenem Torfmull ein Herdfeuer zu entfachen.
Der zweite Protagonist ist der eingesessene Apotheker des Dorfes, in dessen Feldflur die Torfstecherfamilie sich niederlässt. Anijs, so sein Name ( wohl ein diskreter Hinweis auf die wichtigste Substanz der Salben und Tinkturen ist, die er in seiner Offizin zubereitet), ist ein Quacksalber, der den Mangel fachlich-pharmazeutischer Ausbildung durch lateinische Redeweisen zu überspielen sucht. Selbstbewusst rechnet er sich den Honoratioren des Dorfes zu, sucht den Umgang mit Bürgermeister und Amtsarzt, die ihm beide mit umso mehr Herablassung begegnen, als er ein Freund und Helfer der „Feldler” ist, der von der übrigen Dorfgemeinschaft gemiedenen Torfstecher, die jenseits der Abzugsgräben, von dichtem Weidengebüsch verborgen, ihre elende Existenz fristen.
Die dritte Figur schließlich, ein Vetter des Quacksalbers namens Vedder, ein Schreiner, der sich aber als Geigenbauer betätigt, ohne dieses Handwerk ordentlich erlernt zu haben, geht seinem Gewerbe in Amsterdam nach, wo er in seinem kleinen, mehrstöckigen Haus in der Nähe des Hafens und des neuen Hauptbahnhofs lebt. Der Bahnhof ist die Chiffre für die großen Veränderungen. Er steht ein für die Transportrevolution, für die Schnellzüge, die die Metropolen verbinden, und die Dampfschiffe, die Meere in kürzester Zeit durchpflügen, die Distanz zwischen den Kontinenten erheblich verringern und den Umschlag von Gütern und Personen erheblich steigern.
In großartigen Bildern, mit einer narrativen, detailverliebten Opulenz, einer Prosa, die den Formen- und Farbenreichtum der holländischen Malerei in Sprache übersetzt, zeigt Thomas Rosenboom, wie diese Veränderungen, der Fortschritt eben, das vermeintlich auf Dauer und prekäre Sicherheit gegründete Leben der Figuren verändert, zerstört, ihnen die Grundlage ihrer Existenz raubt, sie aus der Bahn wirft oder sie in eine neue, ungewisse Zukunft schleudert.
Das Haus des Geigenbauers Vedder in der Amsterdamer Altstadt soll einem Hotelneubau weichen, einem in allerhand historisierenden Baustilen prunkenden Kasten. Vedder schlägt das ihm gemachte Kaufangebot aus, fordert den doppelten Preis und scheitert damit, denn der Hotelunternehmer baut einfach um dieses Haus herum, das nun wie ein einsamer, hässlicher Zahn die von allen Mitbürgern bejubelte und als Ausdruck der neuen Zeit begrüßte imposante Hotelfassade verunstaltet. Vedder, der auf den Zug der Zeit aufspringen wollte und lustvoll mit dem Gedanken spielte, den Kapitalgewinn, auf den er mit dem Hausverkauf rechnete, in Erdölaktien lukrativ anzulegen, kommt so unter dessen Räder.
Anijs, der Dorfquacksalber, wird jäh aus seinem Honoratiorentraum geweckt, als ein anderer, ein studierter und approbierter Apotheker sich im Ort niederlässt und ihm damit zwar nicht die Existenz, wohl aber den bürgerlichen Anspruch, den er damit verband, zunichte macht. Vor dieser Bedrohung sucht er sich dadurch zu retten, dass er seine Fürsorge für die von den anderen gemiedenen „Feldlern” noch intensiviert, die ihrerseits durch die erneute Erschöpfung des Torfabbaus, vor allem aber durch die Konkurrenz der Steinkohle, die von den Zügen kostengünstig herangeschafft werden kann, sich mit dem blanken Elend konfrontiert sehen.
Nun wohnt, in einem Roman zumal, jedem Ende ein neuer Anfang inne. Die Vettern Anijs und Vedder, die sich beide in ihrem Anspruch auf bürgerliche Sicherheit durch die neuen Zeiten in Frage gestellt sehen, tun sich zusammen, um die „Feldler” vor ihrem gewissen Verderben zu retten. Vedder handelt aus spekulativem Eigennutz. Er will die Summe, die er aus dem Verkauf seines Hauses zu erlösen hofft, gegen gute Verzinsung den „Feldlern” als Kredit vorschießen, um deren Auswanderung nach Amerika zu finanzieren.
Anijs hatte ihn auf diesen Einfall gebracht, weil ihn das Gewissen plagte, hatte er sich doch den Torfstechern gegenüber in einer dramatischen Situation in menschenfreundlichen Überschwang hineingesteigert, als er sich seines gefährdeten Anspruchs auf bürgerliche Respektabilität dadurch zu versichern suchte, dass er sich diesen viel Schwächeren gegenüber als Retter in der Not aufspielte.
Der Plot löst sich als Paraphrase auf die einschlägige biblische Überlieferung auf: Anijs und Vedder teilen sich in die Rolle des Moses und führen das erwählte Volk der „Feldler” aus seiner Gefangenschaft im Torfmoor in die Neue Welt, nach Amerika, wohin sie beide nicht gelangen, sondern nur, wie Moses, brechenden Auges und aus weiter Ferne einen Blick werfen können: Vedder sieht, bevor er von seinem Dach in eine johlende Menge zu Tode stürzt, hinter dem neuen Amsterdamer Hauptbahnhof die rauchenden Schlote des Auswandererdampfers aufragen, während der am Bienengift unheilbar erkrankte Anijs einen Brief von einer der glücklich nach Amerika gelangten „Feldler”-Familien erhält, der ihn von deren nach mancherlei Fährnissen glücklichen Ankunft in der Neuen Welt unterrichtet.
Thomas Rosenbooms wunderbar erzählter, von Marlene Müller-Haas vorzüglich übersetzter Roman ist ein raffiniertes Märchen, ein faszinierender Lesestoff, der die conditio humana in Umständen eines grundstürzenden Wandels aller Seinsgewissheiten erhellt. So erfahren wir alle irgendwann einmal das Neue, dessen Folgen und Kosten für die eigene Existenz sich aber erst überschauen lassen, wenn dessen Veränderungen dem Einzelnen unvermeid- und unumkehrbar die Lebensperspektive verheert haben.
JOHANNES WILLMS
THOMAS ROSENBOOM: Neue Zeiten. Roman. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Deutsche Verlagsanstalt, München 2004. 491 Seiten, 24,90 Euro.
Amsterdam 1928.
Foto: Scherl
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Holländer in Not: Thomas Rosenbooms wunderbarer Roman „Neue Zeiten”
Durchaus möglich, dass man in den Niederlanden sensibler als anderswo in Europa das Nahen eines großen Umbruchs, gewaltiger sozialer Veränderungen verspürt, als deren apokalyptische Boten Neoliberalismus und Globalisierung zu identifizieren wären. Möglich aber auch, dass man dort allzu lange allzu selbstgewiss einige tiefreichende Veränderungen erfolgreich verdrängt hat, die erst mit dem Erfolg des rechtspopulistischen Politikers Pim Fortuyn manifest wurden. Vielleicht entdeckte man hier aber auch nur früher als anderswo, dass die Zeit der Väter, der Groß- und Urgroßväter eine Fülle an Stoffen zu bieten hat, die sich, wenn man sie narrativ geschickt aufarbeitet, der Gegenwart als Exempel andienen lassen.
Geert Maks wunderbares Buch „Das Jahrhundert meines Vaters”, eine geglückte Mischung aus Familiengeschichte, Biographie und politisch-historischer Aufklärung, das im vergangenen Jahr auf Deutsch erschien, lieferte für alle diese Vermutungen einen ersten Hinweis. Dass es sich dabei geradezu um einen literarischen Trend zu handeln scheint, dafür spricht das jetzt vorliegende Buch von Thomas Rosenboom „Neue Zeiten”.
Die Handlung des Romans spielt vor gut einhundert Jahren in Amsterdam und auf dem Land. Hier wie dort kündigen sich große Veränderungen an, die das Leben der drei Protagonisten existentiell verändern werden. Das Buch ist als eine in drei Stimmen vorgetragene Chronik angelegt, die genau registriert, wie die im Wortsinne Betroffenen auf die Veränderungen ihrer überkommenen, vermeintlich überschaubaren Lebensweise reagieren, die mit jenem Prozess unaufhaltsam heraufgeführt werden, den man als technisch-zivilisatorischen Fortschritt zugleich objektiviert und verharmlost.
Der erste Handlungsträger ist eine arme jüdische Kätnerfamilie, die sich am Rande der dörflichen Gesellschaft mehr schlecht als recht vom Torfabbau ernährt. Die drohende Erschöpfung des Torfstichs zwingt sie dazu, bei Nacht und Nebel die primitive Kate zu verlassen, um in einer anderen, reichere Vorkommen verheißenden Gegend erneut Fuß zu fassen. Das muss in aller Heimlichkeit und sehr schnell geschehen, denn dieser Ortswechsel ist auch eine Landnahme, die nur dann von den neuen Nachbarn und Konkurrenten im endemischen Elend toleriert wird, wenn es gelingt, bis zum Morgengrauen eine neue Kate zu errichten und aus trockenem Torfmull ein Herdfeuer zu entfachen.
Der zweite Protagonist ist der eingesessene Apotheker des Dorfes, in dessen Feldflur die Torfstecherfamilie sich niederlässt. Anijs, so sein Name ( wohl ein diskreter Hinweis auf die wichtigste Substanz der Salben und Tinkturen ist, die er in seiner Offizin zubereitet), ist ein Quacksalber, der den Mangel fachlich-pharmazeutischer Ausbildung durch lateinische Redeweisen zu überspielen sucht. Selbstbewusst rechnet er sich den Honoratioren des Dorfes zu, sucht den Umgang mit Bürgermeister und Amtsarzt, die ihm beide mit umso mehr Herablassung begegnen, als er ein Freund und Helfer der „Feldler” ist, der von der übrigen Dorfgemeinschaft gemiedenen Torfstecher, die jenseits der Abzugsgräben, von dichtem Weidengebüsch verborgen, ihre elende Existenz fristen.
Die dritte Figur schließlich, ein Vetter des Quacksalbers namens Vedder, ein Schreiner, der sich aber als Geigenbauer betätigt, ohne dieses Handwerk ordentlich erlernt zu haben, geht seinem Gewerbe in Amsterdam nach, wo er in seinem kleinen, mehrstöckigen Haus in der Nähe des Hafens und des neuen Hauptbahnhofs lebt. Der Bahnhof ist die Chiffre für die großen Veränderungen. Er steht ein für die Transportrevolution, für die Schnellzüge, die die Metropolen verbinden, und die Dampfschiffe, die Meere in kürzester Zeit durchpflügen, die Distanz zwischen den Kontinenten erheblich verringern und den Umschlag von Gütern und Personen erheblich steigern.
In großartigen Bildern, mit einer narrativen, detailverliebten Opulenz, einer Prosa, die den Formen- und Farbenreichtum der holländischen Malerei in Sprache übersetzt, zeigt Thomas Rosenboom, wie diese Veränderungen, der Fortschritt eben, das vermeintlich auf Dauer und prekäre Sicherheit gegründete Leben der Figuren verändert, zerstört, ihnen die Grundlage ihrer Existenz raubt, sie aus der Bahn wirft oder sie in eine neue, ungewisse Zukunft schleudert.
Das Haus des Geigenbauers Vedder in der Amsterdamer Altstadt soll einem Hotelneubau weichen, einem in allerhand historisierenden Baustilen prunkenden Kasten. Vedder schlägt das ihm gemachte Kaufangebot aus, fordert den doppelten Preis und scheitert damit, denn der Hotelunternehmer baut einfach um dieses Haus herum, das nun wie ein einsamer, hässlicher Zahn die von allen Mitbürgern bejubelte und als Ausdruck der neuen Zeit begrüßte imposante Hotelfassade verunstaltet. Vedder, der auf den Zug der Zeit aufspringen wollte und lustvoll mit dem Gedanken spielte, den Kapitalgewinn, auf den er mit dem Hausverkauf rechnete, in Erdölaktien lukrativ anzulegen, kommt so unter dessen Räder.
Anijs, der Dorfquacksalber, wird jäh aus seinem Honoratiorentraum geweckt, als ein anderer, ein studierter und approbierter Apotheker sich im Ort niederlässt und ihm damit zwar nicht die Existenz, wohl aber den bürgerlichen Anspruch, den er damit verband, zunichte macht. Vor dieser Bedrohung sucht er sich dadurch zu retten, dass er seine Fürsorge für die von den anderen gemiedenen „Feldlern” noch intensiviert, die ihrerseits durch die erneute Erschöpfung des Torfabbaus, vor allem aber durch die Konkurrenz der Steinkohle, die von den Zügen kostengünstig herangeschafft werden kann, sich mit dem blanken Elend konfrontiert sehen.
Nun wohnt, in einem Roman zumal, jedem Ende ein neuer Anfang inne. Die Vettern Anijs und Vedder, die sich beide in ihrem Anspruch auf bürgerliche Sicherheit durch die neuen Zeiten in Frage gestellt sehen, tun sich zusammen, um die „Feldler” vor ihrem gewissen Verderben zu retten. Vedder handelt aus spekulativem Eigennutz. Er will die Summe, die er aus dem Verkauf seines Hauses zu erlösen hofft, gegen gute Verzinsung den „Feldlern” als Kredit vorschießen, um deren Auswanderung nach Amerika zu finanzieren.
Anijs hatte ihn auf diesen Einfall gebracht, weil ihn das Gewissen plagte, hatte er sich doch den Torfstechern gegenüber in einer dramatischen Situation in menschenfreundlichen Überschwang hineingesteigert, als er sich seines gefährdeten Anspruchs auf bürgerliche Respektabilität dadurch zu versichern suchte, dass er sich diesen viel Schwächeren gegenüber als Retter in der Not aufspielte.
Der Plot löst sich als Paraphrase auf die einschlägige biblische Überlieferung auf: Anijs und Vedder teilen sich in die Rolle des Moses und führen das erwählte Volk der „Feldler” aus seiner Gefangenschaft im Torfmoor in die Neue Welt, nach Amerika, wohin sie beide nicht gelangen, sondern nur, wie Moses, brechenden Auges und aus weiter Ferne einen Blick werfen können: Vedder sieht, bevor er von seinem Dach in eine johlende Menge zu Tode stürzt, hinter dem neuen Amsterdamer Hauptbahnhof die rauchenden Schlote des Auswandererdampfers aufragen, während der am Bienengift unheilbar erkrankte Anijs einen Brief von einer der glücklich nach Amerika gelangten „Feldler”-Familien erhält, der ihn von deren nach mancherlei Fährnissen glücklichen Ankunft in der Neuen Welt unterrichtet.
Thomas Rosenbooms wunderbar erzählter, von Marlene Müller-Haas vorzüglich übersetzter Roman ist ein raffiniertes Märchen, ein faszinierender Lesestoff, der die conditio humana in Umständen eines grundstürzenden Wandels aller Seinsgewissheiten erhellt. So erfahren wir alle irgendwann einmal das Neue, dessen Folgen und Kosten für die eigene Existenz sich aber erst überschauen lassen, wenn dessen Veränderungen dem Einzelnen unvermeid- und unumkehrbar die Lebensperspektive verheert haben.
JOHANNES WILLMS
THOMAS ROSENBOOM: Neue Zeiten. Roman. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Deutsche Verlagsanstalt, München 2004. 491 Seiten, 24,90 Euro.
Amsterdam 1928.
Foto: Scherl
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2004Violine mit Wurmton
Thomas Rosenbooms niederländisches Tafelbild
Die Niederlande im Jahr 1888: In Amsterdam wird der Bahnhof gebaut, Grandhotels folgen, die Stadterweiterung ist in vollem Gang. Auf dem platten Land dagegen, im Drenther Moorgebiet, herrschen urzeitliche Zustände. Die Torfstecher, die als illegale Landbesetzer in ärmlichsten Hütten leben, sind ein Elendsproletariat, das nicht weiß, wohin mit seiner Not. Thomas Rosenboom, Jahrgang 1956, Verfasser von Erzählungen und Romanen, macht sich zum Chronisten des Auf- und Umbruchs. "Publieke Werken", so der Originaltitel des 1999 veröffentlichten Romans, schildert Menschen, die von der neuen Zeit begeistert, beängstigt, hinweggeschwemmt werden. Eine Parabel, in der wir Heutigen, ebenfalls rasantem Wechsel ausgesetzt, uns wiedererkennen sollen.
Als Hauptfiguren wählt Rosenboom zwei gutsituierte Männer in mittleren Jahren: vom Schreiner zum Geigenbauer aufgestiegener Stadtbewohner der eine, Landapotheker der andere. Ein Projekt, in das sich beide verbeißen, bringt sie in gegenseitige Abhängigkeit. Den Torfarbeitern gilt die ganze philanthropische Zuwendung des Apothekers Anijs. Vom Gehilfen hat er sich hochgearbeitet, die Tochter seines Vorgängers geheiratet, ist geschätztes Mitglied in jedem Verein, ein gesuchter Redner. Das einzige Ungenügen: Das Paar hat keine Kinder. Als buchstäblichen Schlag ins Kontor empfindet es Anijs, der sich auch gern mal "Doktor" titulieren läßt, als ein zweiter, jüngerer Apotheker ins Dorf kommt, der ein studierter Mann ist und seine Aufgeschlossenheit gegenüber der neuen Zeit durch Eröffnung eines Fotoateliers bekundet.
Anijs, von den übrigen Honoratioren allmählich geschnitten, widmet sich immer mehr der Armenfürsorge - aus christlicher Nächstenliebe. Er versorgt die Landarbeiter kostenlos mit Medizin, verarztet sie und führt gelegentlich auch kleinere Operationen aus. Das bringt den Amtsarzt gegen ihn auf, dem die Moorbewohner sonst herzlich gleichgültig sind. Da kommt Cousin Vedder aus Amsterdam ins Spiel. Wie Anijs ist auch er kinderlos; seine Frau hat ihn deswegen verlassen. Vedders ganze Zuneigung gilt dem einstigen, nun fast erwachsenen Findelkind Theo, das ihn für seinen Vater hält und schamlos ausnimmt. Die Liebe macht den sonst mißtrauischen Mann blind. Die überschüssige Energie des Geigenbauers, der als kraftstrotzender Mann geschildert wird, gilt der neuzeitlichen Stadt- und Verkehrsplanung. In anonymen Leserbriefen von querulantischer Besserwisserei zeichnet sich Vedders Weg ins Unglück ab. Der Sonderling gerät immer mehr ins Abseits. Den Preis für sein Häuschen, das einem neuen Hotel weichen soll, treibt er in astronomische Höhen. "Er lebte", heißt es, "in Erwartung des Geldes wie ein Chiliast in Erwartung des Jüngsten Gerichts." Selbst als die Klitsche schon fast vom Neubau zugemauert ist, glaubt er noch an den Eingang riesiger Summen. Für Vedders zerstörerischen Realitätsverlust findet Rosenboom ein überzeugendes Bild. Endlos sucht der Geigenbauer in einer alten Violine nach einem ihren Ton beeinträchtigenden winzigen Splitter, einem Staub- oder Holzwurmkörnchen. Über dem ewigen Auseinandernehmen und Zusammenbauen zerstört er das kostbare Instrument.
Die Geschichte erfährt eine Zuspitzung, als Vedder dem Cousin Anijs von seinem erträumten Geldsegen berichtet. Diessetzt ein Großprojekt in Gang, das auf Sand gebaut ist: die Auswanderung der Feldler nach Amerika. Einzig dem Zufall ist es zu verdanken, daß den Landarbeitern, deren Anbaugebiete kurz vor der Erschöpfung stehen, die Einwanderung gelingt. Doch Rosenboom huldigt keinem banalen Optimismus. Er ist ein moderner Skeptiker, der seinen beiden philanthropischen Käuzen ein schlimmes Ende bereitet. Den Apotheker überraschen seine Gegner in einer peinlichen Situation, als der verhinderte Chirurg gerade dabei ist, sich selber zu beschneiden. Schließlich sticht ihn ein Bienenschwarm, den er vor dem Verhungern retten will, fast tot. Und Vedder, bei der Einweihung des Grandhotels als "Stadtverhunzer" beschimpft, verliert buchstäblich den Boden unter den Füßen; er stürzt vom Dach seines Häuschens in den Tod. Die bittere Botschaft ist deutlich: Das Leben belohnt die Wohltäter nicht, jedenfalls nicht so, wie der Mensch es gern hätte.
Rosenboom fesselt mit starken, symbolkräftigen Bildern. Er erzählt mit großem epischen Atem eine spannende, lebenspralle Geschichte, in die stupende Kenntnisse etwa des Geigenbaus, des Apothekerwesens oder der Geschichte Amsterdams eingestreut sind. Jedes Kapitel ist ausgeleuchtet wie eine Filmszene. Vieles in dem Roman mag typisch niederländisch scheinen: eine sympathische, geradezu naive Menschenliebe, eine liberale, christlich grundierte Moral, Optimismus, Lebenslust. Die überschäumende Erzählfreude hat allerdings manch unnötige Aufblähung zur Folge, zu der auch eine gewisse Adjektivseligkeit gehört. Andrerseits läßt der Autor manchen Faden fallen, führt Motive nicht aus, verliert das Interesse an Figuren. Von der "Glossolalie", dem Zungenreden der Feldler, hätte man gern eine Kostprobe gehabt, gern erfahren, was es mit den Geld verschlingenden Lebensumständen des Tunichtguts Theo auf sich hat. Das sind indessen kleine Mäkeleien, die diesem glänzend erzählten Geschichtspanorama nur wenig anhaben können.
Thomas Rosenboom: "Neue Zeiten". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004. 493 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Rosenbooms niederländisches Tafelbild
Die Niederlande im Jahr 1888: In Amsterdam wird der Bahnhof gebaut, Grandhotels folgen, die Stadterweiterung ist in vollem Gang. Auf dem platten Land dagegen, im Drenther Moorgebiet, herrschen urzeitliche Zustände. Die Torfstecher, die als illegale Landbesetzer in ärmlichsten Hütten leben, sind ein Elendsproletariat, das nicht weiß, wohin mit seiner Not. Thomas Rosenboom, Jahrgang 1956, Verfasser von Erzählungen und Romanen, macht sich zum Chronisten des Auf- und Umbruchs. "Publieke Werken", so der Originaltitel des 1999 veröffentlichten Romans, schildert Menschen, die von der neuen Zeit begeistert, beängstigt, hinweggeschwemmt werden. Eine Parabel, in der wir Heutigen, ebenfalls rasantem Wechsel ausgesetzt, uns wiedererkennen sollen.
Als Hauptfiguren wählt Rosenboom zwei gutsituierte Männer in mittleren Jahren: vom Schreiner zum Geigenbauer aufgestiegener Stadtbewohner der eine, Landapotheker der andere. Ein Projekt, in das sich beide verbeißen, bringt sie in gegenseitige Abhängigkeit. Den Torfarbeitern gilt die ganze philanthropische Zuwendung des Apothekers Anijs. Vom Gehilfen hat er sich hochgearbeitet, die Tochter seines Vorgängers geheiratet, ist geschätztes Mitglied in jedem Verein, ein gesuchter Redner. Das einzige Ungenügen: Das Paar hat keine Kinder. Als buchstäblichen Schlag ins Kontor empfindet es Anijs, der sich auch gern mal "Doktor" titulieren läßt, als ein zweiter, jüngerer Apotheker ins Dorf kommt, der ein studierter Mann ist und seine Aufgeschlossenheit gegenüber der neuen Zeit durch Eröffnung eines Fotoateliers bekundet.
Anijs, von den übrigen Honoratioren allmählich geschnitten, widmet sich immer mehr der Armenfürsorge - aus christlicher Nächstenliebe. Er versorgt die Landarbeiter kostenlos mit Medizin, verarztet sie und führt gelegentlich auch kleinere Operationen aus. Das bringt den Amtsarzt gegen ihn auf, dem die Moorbewohner sonst herzlich gleichgültig sind. Da kommt Cousin Vedder aus Amsterdam ins Spiel. Wie Anijs ist auch er kinderlos; seine Frau hat ihn deswegen verlassen. Vedders ganze Zuneigung gilt dem einstigen, nun fast erwachsenen Findelkind Theo, das ihn für seinen Vater hält und schamlos ausnimmt. Die Liebe macht den sonst mißtrauischen Mann blind. Die überschüssige Energie des Geigenbauers, der als kraftstrotzender Mann geschildert wird, gilt der neuzeitlichen Stadt- und Verkehrsplanung. In anonymen Leserbriefen von querulantischer Besserwisserei zeichnet sich Vedders Weg ins Unglück ab. Der Sonderling gerät immer mehr ins Abseits. Den Preis für sein Häuschen, das einem neuen Hotel weichen soll, treibt er in astronomische Höhen. "Er lebte", heißt es, "in Erwartung des Geldes wie ein Chiliast in Erwartung des Jüngsten Gerichts." Selbst als die Klitsche schon fast vom Neubau zugemauert ist, glaubt er noch an den Eingang riesiger Summen. Für Vedders zerstörerischen Realitätsverlust findet Rosenboom ein überzeugendes Bild. Endlos sucht der Geigenbauer in einer alten Violine nach einem ihren Ton beeinträchtigenden winzigen Splitter, einem Staub- oder Holzwurmkörnchen. Über dem ewigen Auseinandernehmen und Zusammenbauen zerstört er das kostbare Instrument.
Die Geschichte erfährt eine Zuspitzung, als Vedder dem Cousin Anijs von seinem erträumten Geldsegen berichtet. Diessetzt ein Großprojekt in Gang, das auf Sand gebaut ist: die Auswanderung der Feldler nach Amerika. Einzig dem Zufall ist es zu verdanken, daß den Landarbeitern, deren Anbaugebiete kurz vor der Erschöpfung stehen, die Einwanderung gelingt. Doch Rosenboom huldigt keinem banalen Optimismus. Er ist ein moderner Skeptiker, der seinen beiden philanthropischen Käuzen ein schlimmes Ende bereitet. Den Apotheker überraschen seine Gegner in einer peinlichen Situation, als der verhinderte Chirurg gerade dabei ist, sich selber zu beschneiden. Schließlich sticht ihn ein Bienenschwarm, den er vor dem Verhungern retten will, fast tot. Und Vedder, bei der Einweihung des Grandhotels als "Stadtverhunzer" beschimpft, verliert buchstäblich den Boden unter den Füßen; er stürzt vom Dach seines Häuschens in den Tod. Die bittere Botschaft ist deutlich: Das Leben belohnt die Wohltäter nicht, jedenfalls nicht so, wie der Mensch es gern hätte.
Rosenboom fesselt mit starken, symbolkräftigen Bildern. Er erzählt mit großem epischen Atem eine spannende, lebenspralle Geschichte, in die stupende Kenntnisse etwa des Geigenbaus, des Apothekerwesens oder der Geschichte Amsterdams eingestreut sind. Jedes Kapitel ist ausgeleuchtet wie eine Filmszene. Vieles in dem Roman mag typisch niederländisch scheinen: eine sympathische, geradezu naive Menschenliebe, eine liberale, christlich grundierte Moral, Optimismus, Lebenslust. Die überschäumende Erzählfreude hat allerdings manch unnötige Aufblähung zur Folge, zu der auch eine gewisse Adjektivseligkeit gehört. Andrerseits läßt der Autor manchen Faden fallen, führt Motive nicht aus, verliert das Interesse an Figuren. Von der "Glossolalie", dem Zungenreden der Feldler, hätte man gern eine Kostprobe gehabt, gern erfahren, was es mit den Geld verschlingenden Lebensumständen des Tunichtguts Theo auf sich hat. Das sind indessen kleine Mäkeleien, die diesem glänzend erzählten Geschichtspanorama nur wenig anhaben können.
Thomas Rosenboom: "Neue Zeiten". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004. 493 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Rezensentin Renate Schostack feiert den Roman des niederländischen Autors als glänzend erzähltes Geschichtspanorama. Jedes Kapitel sei ausgeleuchtet, wie eine Filmszene, das Buch fessele insgesamt mit starken, symbolkräftigen Bildern. Es erzähle überschäumend und mit großem epischem Atem eine spannende, lebenspralle Geschichte aus den Niederlandes des Jahres 1888. Thomas Rosenboom schildert Schostacks Informationen zufolge Menschen, die von der neuen Zeit "begeistert, beängstigt hinweggefegt werden". Eine Parabel, in der Schostack uns Heutige wiedererkennt, die sie ebenfalls einem rasanten Wechsel ausgesetzt sieht. Es geht um die Stadterweiterung Amsterdams, lesen wir, die für eine Reihe von ärmlichen Landbewohnern zur Bedrohung wird. Im Zentrum sieht die Rezensentin zwei philanthropische Käuze stehen, einen Stadtbewohner und gutsituierten Geigenbauer sowie einen Landapotheker, denen Rosenboom ein schlimmes Ende bereite. Am Roman beeindruckt die Rezensentin auch darin eingeflossenes stupendes Wissen über Geigenbau, Apothekenwesen oder die Geschichte von Amsterdam.
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"
"Großartige Bilder, mit einer narrativen, detailverliebten Opulenz, eine Prosa, die den Formen- und Farbenreichtum der holländischen Malerei in Sprache übersetzt Ein raffiniertes Märchen, ein faszinierender Lesestoff." (Süddeutsche Zeitung)