Der Roman spielt an der Schwelle zu einer neuen Epoche, 1888 in Amsterdam. Der Aufschwung ist überall spürbar, an allen Ecken wird gebaut. Walter Vedder, dessen Häuschen dem Neubau eines Grandhotels im Weg steht, wittert seine Chance: Er fordert für sein Grundstück eine viel zu hohe Summe von den Bauunternehmern, und einer seiner Verwandten tut es ihm gleich. Doch ganz so einfach, wie die beiden es sich vorgestellt haben, kommt man nicht zu Geld und Wohlstand
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2004Violine mit Wurmton
Thomas Rosenbooms niederländisches Tafelbild
Die Niederlande im Jahr 1888: In Amsterdam wird der Bahnhof gebaut, Grandhotels folgen, die Stadterweiterung ist in vollem Gang. Auf dem platten Land dagegen, im Drenther Moorgebiet, herrschen urzeitliche Zustände. Die Torfstecher, die als illegale Landbesetzer in ärmlichsten Hütten leben, sind ein Elendsproletariat, das nicht weiß, wohin mit seiner Not. Thomas Rosenboom, Jahrgang 1956, Verfasser von Erzählungen und Romanen, macht sich zum Chronisten des Auf- und Umbruchs. "Publieke Werken", so der Originaltitel des 1999 veröffentlichten Romans, schildert Menschen, die von der neuen Zeit begeistert, beängstigt, hinweggeschwemmt werden. Eine Parabel, in der wir Heutigen, ebenfalls rasantem Wechsel ausgesetzt, uns wiedererkennen sollen.
Als Hauptfiguren wählt Rosenboom zwei gutsituierte Männer in mittleren Jahren: vom Schreiner zum Geigenbauer aufgestiegener Stadtbewohner der eine, Landapotheker der andere. Ein Projekt, in das sich beide verbeißen, bringt sie in gegenseitige Abhängigkeit. Den Torfarbeitern gilt die ganze philanthropische Zuwendung des Apothekers Anijs. Vom Gehilfen hat er sich hochgearbeitet, die Tochter seines Vorgängers geheiratet, ist geschätztes Mitglied in jedem Verein, ein gesuchter Redner. Das einzige Ungenügen: Das Paar hat keine Kinder. Als buchstäblichen Schlag ins Kontor empfindet es Anijs, der sich auch gern mal "Doktor" titulieren läßt, als ein zweiter, jüngerer Apotheker ins Dorf kommt, der ein studierter Mann ist und seine Aufgeschlossenheit gegenüber der neuen Zeit durch Eröffnung eines Fotoateliers bekundet.
Anijs, von den übrigen Honoratioren allmählich geschnitten, widmet sich immer mehr der Armenfürsorge - aus christlicher Nächstenliebe. Er versorgt die Landarbeiter kostenlos mit Medizin, verarztet sie und führt gelegentlich auch kleinere Operationen aus. Das bringt den Amtsarzt gegen ihn auf, dem die Moorbewohner sonst herzlich gleichgültig sind. Da kommt Cousin Vedder aus Amsterdam ins Spiel. Wie Anijs ist auch er kinderlos; seine Frau hat ihn deswegen verlassen. Vedders ganze Zuneigung gilt dem einstigen, nun fast erwachsenen Findelkind Theo, das ihn für seinen Vater hält und schamlos ausnimmt. Die Liebe macht den sonst mißtrauischen Mann blind. Die überschüssige Energie des Geigenbauers, der als kraftstrotzender Mann geschildert wird, gilt der neuzeitlichen Stadt- und Verkehrsplanung. In anonymen Leserbriefen von querulantischer Besserwisserei zeichnet sich Vedders Weg ins Unglück ab. Der Sonderling gerät immer mehr ins Abseits. Den Preis für sein Häuschen, das einem neuen Hotel weichen soll, treibt er in astronomische Höhen. "Er lebte", heißt es, "in Erwartung des Geldes wie ein Chiliast in Erwartung des Jüngsten Gerichts." Selbst als die Klitsche schon fast vom Neubau zugemauert ist, glaubt er noch an den Eingang riesiger Summen. Für Vedders zerstörerischen Realitätsverlust findet Rosenboom ein überzeugendes Bild. Endlos sucht der Geigenbauer in einer alten Violine nach einem ihren Ton beeinträchtigenden winzigen Splitter, einem Staub- oder Holzwurmkörnchen. Über dem ewigen Auseinandernehmen und Zusammenbauen zerstört er das kostbare Instrument.
Die Geschichte erfährt eine Zuspitzung, als Vedder dem Cousin Anijs von seinem erträumten Geldsegen berichtet. Diessetzt ein Großprojekt in Gang, das auf Sand gebaut ist: die Auswanderung der Feldler nach Amerika. Einzig dem Zufall ist es zu verdanken, daß den Landarbeitern, deren Anbaugebiete kurz vor der Erschöpfung stehen, die Einwanderung gelingt. Doch Rosenboom huldigt keinem banalen Optimismus. Er ist ein moderner Skeptiker, der seinen beiden philanthropischen Käuzen ein schlimmes Ende bereitet. Den Apotheker überraschen seine Gegner in einer peinlichen Situation, als der verhinderte Chirurg gerade dabei ist, sich selber zu beschneiden. Schließlich sticht ihn ein Bienenschwarm, den er vor dem Verhungern retten will, fast tot. Und Vedder, bei der Einweihung des Grandhotels als "Stadtverhunzer" beschimpft, verliert buchstäblich den Boden unter den Füßen; er stürzt vom Dach seines Häuschens in den Tod. Die bittere Botschaft ist deutlich: Das Leben belohnt die Wohltäter nicht, jedenfalls nicht so, wie der Mensch es gern hätte.
Rosenboom fesselt mit starken, symbolkräftigen Bildern. Er erzählt mit großem epischen Atem eine spannende, lebenspralle Geschichte, in die stupende Kenntnisse etwa des Geigenbaus, des Apothekerwesens oder der Geschichte Amsterdams eingestreut sind. Jedes Kapitel ist ausgeleuchtet wie eine Filmszene. Vieles in dem Roman mag typisch niederländisch scheinen: eine sympathische, geradezu naive Menschenliebe, eine liberale, christlich grundierte Moral, Optimismus, Lebenslust. Die überschäumende Erzählfreude hat allerdings manch unnötige Aufblähung zur Folge, zu der auch eine gewisse Adjektivseligkeit gehört. Andrerseits läßt der Autor manchen Faden fallen, führt Motive nicht aus, verliert das Interesse an Figuren. Von der "Glossolalie", dem Zungenreden der Feldler, hätte man gern eine Kostprobe gehabt, gern erfahren, was es mit den Geld verschlingenden Lebensumständen des Tunichtguts Theo auf sich hat. Das sind indessen kleine Mäkeleien, die diesem glänzend erzählten Geschichtspanorama nur wenig anhaben können.
Thomas Rosenboom: "Neue Zeiten". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004. 493 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Rosenbooms niederländisches Tafelbild
Die Niederlande im Jahr 1888: In Amsterdam wird der Bahnhof gebaut, Grandhotels folgen, die Stadterweiterung ist in vollem Gang. Auf dem platten Land dagegen, im Drenther Moorgebiet, herrschen urzeitliche Zustände. Die Torfstecher, die als illegale Landbesetzer in ärmlichsten Hütten leben, sind ein Elendsproletariat, das nicht weiß, wohin mit seiner Not. Thomas Rosenboom, Jahrgang 1956, Verfasser von Erzählungen und Romanen, macht sich zum Chronisten des Auf- und Umbruchs. "Publieke Werken", so der Originaltitel des 1999 veröffentlichten Romans, schildert Menschen, die von der neuen Zeit begeistert, beängstigt, hinweggeschwemmt werden. Eine Parabel, in der wir Heutigen, ebenfalls rasantem Wechsel ausgesetzt, uns wiedererkennen sollen.
Als Hauptfiguren wählt Rosenboom zwei gutsituierte Männer in mittleren Jahren: vom Schreiner zum Geigenbauer aufgestiegener Stadtbewohner der eine, Landapotheker der andere. Ein Projekt, in das sich beide verbeißen, bringt sie in gegenseitige Abhängigkeit. Den Torfarbeitern gilt die ganze philanthropische Zuwendung des Apothekers Anijs. Vom Gehilfen hat er sich hochgearbeitet, die Tochter seines Vorgängers geheiratet, ist geschätztes Mitglied in jedem Verein, ein gesuchter Redner. Das einzige Ungenügen: Das Paar hat keine Kinder. Als buchstäblichen Schlag ins Kontor empfindet es Anijs, der sich auch gern mal "Doktor" titulieren läßt, als ein zweiter, jüngerer Apotheker ins Dorf kommt, der ein studierter Mann ist und seine Aufgeschlossenheit gegenüber der neuen Zeit durch Eröffnung eines Fotoateliers bekundet.
Anijs, von den übrigen Honoratioren allmählich geschnitten, widmet sich immer mehr der Armenfürsorge - aus christlicher Nächstenliebe. Er versorgt die Landarbeiter kostenlos mit Medizin, verarztet sie und führt gelegentlich auch kleinere Operationen aus. Das bringt den Amtsarzt gegen ihn auf, dem die Moorbewohner sonst herzlich gleichgültig sind. Da kommt Cousin Vedder aus Amsterdam ins Spiel. Wie Anijs ist auch er kinderlos; seine Frau hat ihn deswegen verlassen. Vedders ganze Zuneigung gilt dem einstigen, nun fast erwachsenen Findelkind Theo, das ihn für seinen Vater hält und schamlos ausnimmt. Die Liebe macht den sonst mißtrauischen Mann blind. Die überschüssige Energie des Geigenbauers, der als kraftstrotzender Mann geschildert wird, gilt der neuzeitlichen Stadt- und Verkehrsplanung. In anonymen Leserbriefen von querulantischer Besserwisserei zeichnet sich Vedders Weg ins Unglück ab. Der Sonderling gerät immer mehr ins Abseits. Den Preis für sein Häuschen, das einem neuen Hotel weichen soll, treibt er in astronomische Höhen. "Er lebte", heißt es, "in Erwartung des Geldes wie ein Chiliast in Erwartung des Jüngsten Gerichts." Selbst als die Klitsche schon fast vom Neubau zugemauert ist, glaubt er noch an den Eingang riesiger Summen. Für Vedders zerstörerischen Realitätsverlust findet Rosenboom ein überzeugendes Bild. Endlos sucht der Geigenbauer in einer alten Violine nach einem ihren Ton beeinträchtigenden winzigen Splitter, einem Staub- oder Holzwurmkörnchen. Über dem ewigen Auseinandernehmen und Zusammenbauen zerstört er das kostbare Instrument.
Die Geschichte erfährt eine Zuspitzung, als Vedder dem Cousin Anijs von seinem erträumten Geldsegen berichtet. Diessetzt ein Großprojekt in Gang, das auf Sand gebaut ist: die Auswanderung der Feldler nach Amerika. Einzig dem Zufall ist es zu verdanken, daß den Landarbeitern, deren Anbaugebiete kurz vor der Erschöpfung stehen, die Einwanderung gelingt. Doch Rosenboom huldigt keinem banalen Optimismus. Er ist ein moderner Skeptiker, der seinen beiden philanthropischen Käuzen ein schlimmes Ende bereitet. Den Apotheker überraschen seine Gegner in einer peinlichen Situation, als der verhinderte Chirurg gerade dabei ist, sich selber zu beschneiden. Schließlich sticht ihn ein Bienenschwarm, den er vor dem Verhungern retten will, fast tot. Und Vedder, bei der Einweihung des Grandhotels als "Stadtverhunzer" beschimpft, verliert buchstäblich den Boden unter den Füßen; er stürzt vom Dach seines Häuschens in den Tod. Die bittere Botschaft ist deutlich: Das Leben belohnt die Wohltäter nicht, jedenfalls nicht so, wie der Mensch es gern hätte.
Rosenboom fesselt mit starken, symbolkräftigen Bildern. Er erzählt mit großem epischen Atem eine spannende, lebenspralle Geschichte, in die stupende Kenntnisse etwa des Geigenbaus, des Apothekerwesens oder der Geschichte Amsterdams eingestreut sind. Jedes Kapitel ist ausgeleuchtet wie eine Filmszene. Vieles in dem Roman mag typisch niederländisch scheinen: eine sympathische, geradezu naive Menschenliebe, eine liberale, christlich grundierte Moral, Optimismus, Lebenslust. Die überschäumende Erzählfreude hat allerdings manch unnötige Aufblähung zur Folge, zu der auch eine gewisse Adjektivseligkeit gehört. Andrerseits läßt der Autor manchen Faden fallen, führt Motive nicht aus, verliert das Interesse an Figuren. Von der "Glossolalie", dem Zungenreden der Feldler, hätte man gern eine Kostprobe gehabt, gern erfahren, was es mit den Geld verschlingenden Lebensumständen des Tunichtguts Theo auf sich hat. Das sind indessen kleine Mäkeleien, die diesem glänzend erzählten Geschichtspanorama nur wenig anhaben können.
Thomas Rosenboom: "Neue Zeiten". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004. 493 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Rezensentin Renate Schostack feiert den Roman des niederländischen Autors als glänzend erzähltes Geschichtspanorama. Jedes Kapitel sei ausgeleuchtet, wie eine Filmszene, das Buch fessele insgesamt mit starken, symbolkräftigen Bildern. Es erzähle überschäumend und mit großem epischem Atem eine spannende, lebenspralle Geschichte aus den Niederlandes des Jahres 1888. Thomas Rosenboom schildert Schostacks Informationen zufolge Menschen, die von der neuen Zeit "begeistert, beängstigt hinweggefegt werden". Eine Parabel, in der Schostack uns Heutige wiedererkennt, die sie ebenfalls einem rasanten Wechsel ausgesetzt sieht. Es geht um die Stadterweiterung Amsterdams, lesen wir, die für eine Reihe von ärmlichen Landbewohnern zur Bedrohung wird. Im Zentrum sieht die Rezensentin zwei philanthropische Käuze stehen, einen Stadtbewohner und gutsituierten Geigenbauer sowie einen Landapotheker, denen Rosenboom ein schlimmes Ende bereite. Am Roman beeindruckt die Rezensentin auch darin eingeflossenes stupendes Wissen über Geigenbau, Apothekenwesen oder die Geschichte von Amsterdam.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Großartige Bilder, mit einer narrativen, detailverliebten Opulenz, eine Prosa, die den Formen- und Farbenreichtum der holländischen Malerei in Sprache übersetzt Ein raffiniertes Märchen, ein faszinierender Lesestoff." (Süddeutsche Zeitung)