Ein großes K - wie groß muss das sein? Und wer garantiert eigentlich, dass rechts wirklich da ist, wo der Daumen links ist? In der ersten Schulklasse werden die Grundlagen des Lebens einer kritischen Prüfung unterzogen. Literatur, Religion, merkwürdige abendländische Bräuche: Das internationale Gremium bewertet mit seiner ganzen Erfahrung von sechseinhalb Lebensjahren neu, was andere Leute für selbstverständlich halten. Wo die Pisa-Studien über deutsche Schüler oberflächlich bleiben, geht dieses Buch drei Käse tiefer - der Erzähler ist selbst Erstklässler, berichtet live aus dem Alltag und gibt Eltern Tipps, wie sie das aufregende erste Schuljahr gemeinsam mit den Zöglingen überstehen.
Vom ersten Schultag an saß er in ihrer Mitte, um mit ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Er war etwa einen Meter größer als sie, mußte sich täglich rasieren und ging einem seltsamen Beruf nach: Er notierte, was sie taten. Ob beim Rechnen drei plus vier fälschlicherweise acht ergab oder im Satz "Der Ball gehört mich" der Akkusativ zu Unrecht über den Dativ triumphierte - Thomas Stillbauer schilderte die ersten Schritte der Klasse 1 b an der Frankfurter Schwarzburgschule hinein in die Welt der Bildung. Vor drei Jahren begann der Journalist sein Experiment. Zunächst schrieb der Neununddreißigjährige seine Beobachtungen in der "Frankfurter Rundschau" nieder, dann veröffentlichte er ein Buch: den Abenteuerbericht über die Zeit nach dem Zuckertütenanfang aus der Schülerperspektive.
Erich Kästner schrieb: "Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch." Das hat Stillbauer beherzigt. Angesichts von Pisa-Krise und Bildungsnotstand wäre es bestimmt der bequemere Weg gewesen, nüchtern Zahlen zusammenzurecherchieren (soundsoviel Sitzenbleiber, Legastheniker und Hyperaktive) oder durch eine zynische Reportage von überforderten Lehrern zu ergänzen. Beifall wäre Stillbauer sicher gewesen. Doch auf Augenhöhe mit den Kindern zu gehen, sich in die engen Bänke zu zwängen, dazu gehört Mut. Jeder Psychologe wird bestätigen, daß Kinder spüren, ob sie jemand ernst nimmt oder veralbert. Der Autor versucht sich nicht anzubiedern, aber dennoch mit den Kindern in ihrer Sprache zu sprechen, und vor allem auf diese Weise über sie zu schreiben, nicht simplifizierend, ohne überlegenes Lächeln und ohne gehobenen Zeigefinger.
Jahrelang zeichneten Veröffentlichungen über deutsche Schulkinder ein Bild von kommunikativen Autisten, übergewichtig und bewegungsgehemmt, ausschließlich von gewaltverherrlichenden Videospielen begeistert und am Lernen so stark interessiert wie an einer Grippe. Die Jungen und Mädchen in der 1b von Stillbauer aber sind kleine Abenteurer und Entdecker, Individualisten und trotzdem hilfsbereit, neugierig und sehr selten mal ein bißchen faul.
Ihnen zu folgen ist spannend wie eine "Terra-X"-Reportage zu sehen. Und das Kinder durchaus in der Lage sind, die oft grausame Realität der Welt zu verarbeiten, wenn man sie ihnen nur erklärt, beweist das Kapitel "Mutmaßen: Elfter September und andere Katastrophen". Die Klarheit und innere Logik der Gedanken von Kindern ist beeindruckend und erschütternd zugleich. Lehrerin Frau Mußmann: "Was meint ihr, warum ist der Mann aus dem Fenster gesprungen?" David (sechs Jahre alt): "Die Menschen wollten ohne Schmerzen sterben. Nämlich, wenn sie runterfliegen, werden sie ohnmächtig, weil man dabei so große Angst hat."
ANDRÉ PAUL.
Thomas Stillbauer: "Neues aus der 1b - Was machen eigentlich unsere Erstklässler?". Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, ISBN 3-596-15873-7, 8,90 Euro.
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