»Es ist ein bißchen, als hätte man gerade einen spektakulären Fund antiker Papyri gemacht und entdeckt, daß Homer nicht nur die Ilias und die Odyssee, sondern auch noch eine Orestie und einen Argonautenzyklus geschrieben hat. Die literarische Hinterlassenschaft des griechischen Urepikers wäre dann plötzlich doppelt so groß. Genau dies ist nun annähernd mit dem Kinderbuchklassiker Der kleine Nick geschehen. Ein editorisches Großereignis, das man auf keinen Fall verpassen sollte. Entweder man ist mit dem Kleinen Nick aufgewachsen, und dann stellt man mit Verblüffung fest, daß die Weltsicht des kleinen Anarchisten immer noch so zwingend und amüsant ist wie bei der ersten Lektüre; oder man hat da eine fatale Lücke, die man auffüllen muß.« Daniel Binswanger / Die Weltwoche, Zürich
»Das ist das größte Glück des Bücherforschers: plötzlich, in irgendeinem verstaubten Archiv, auf einem vergessenen Dachboden findet er einen bislang unbekannten Brief Thomas Manns, ein Zettelchen von Goethe, einen Romanentwurf von Koeppen. Ein scheinbar für immer festgefügtes, abgeschlossenes Werk öffnet sich, und der tote Autor spricht zu ihm, dem Bücherfreund. Was für ein erhebender Moment. Dies allerdings hat es wohl selten zuvor gegeben, daß ein ganzes Werk, dazu noch eines der schönsten der Kinderweltliteratur, auf einen Schlag verdopppelt wird.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Eine großartige Gelegenheit für jung und alt, mit dem kleinen Nick und seinen Freunden zu lachen. 80 neu entdeckte Geschichten, aber mit demselben Humor wie die früheren, demselben Charme und dieser ganz eigenen >Sprache<, die Goscinny für seinen Nick und dessen Freunde erfunden hat, und alle wunderbar illustriert von Sempé.
»Das ist das größte Glück des Bücherforschers: plötzlich, in irgendeinem verstaubten Archiv, auf einem vergessenen Dachboden findet er einen bislang unbekannten Brief Thomas Manns, ein Zettelchen von Goethe, einen Romanentwurf von Koeppen. Ein scheinbar für immer festgefügtes, abgeschlossenes Werk öffnet sich, und der tote Autor spricht zu ihm, dem Bücherfreund. Was für ein erhebender Moment. Dies allerdings hat es wohl selten zuvor gegeben, daß ein ganzes Werk, dazu noch eines der schönsten der Kinderweltliteratur, auf einen Schlag verdopppelt wird.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Eine großartige Gelegenheit für jung und alt, mit dem kleinen Nick und seinen Freunden zu lachen. 80 neu entdeckte Geschichten, aber mit demselben Humor wie die früheren, demselben Charme und dieser ganz eigenen >Sprache<, die Goscinny für seinen Nick und dessen Freunde erfunden hat, und alle wunderbar illustriert von Sempé.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2005Der haltlose Apfel
Doppelmeisterwerk: Achtzig neue Geschichten vom kleinen Nick
Hätte René Goscinny auch die Geschichte vom kleinen René aufgeschrieben und hätte Jean-Jacques Sempé sie wiederum illustriert, dann sähe man auf einem Blatt einen kleinen Kerl mit drolligen Gesichtszügen - Sempé hätte sie in seiner Manier eleganter Diskretion ein wenig idealisiert, aber wir haben Goscinnys Wort dafür, daß die Natur ihm keine Wahl gelassen hatte, als den Klassenclown zu spielen - vor einem Schreibtisch, über sich eine Denkblase. In der Denkblase säße wiederum der kleine Kerl, über sich eine Sprechblase, in der vor lauter Text kein Platz wäre für ein weiteres Bild im Bild, und ihn umlagerte die ganze Welt, Papa und Mama, Jungen und Mädchen und auch der Hilfslehrer, der immer sagt "Seht mir in die Augen!", der diesmal dem kleinen René in die Augen sehen müßte, dem geborenen Erzähler.
Er glaube, hat Sempé über seinen 1977 verstorbenen Freund gesagt, "daß es Goscinnys Traum war, ohne Zeichnung, ohne Bebilderung zu schreiben". Die Bescheidenheit des Gedankens, die zauberhaft hingeworfenen Zeichnungen zum "Kleinen Nick" hätten eigentlich den Sinn gehabt, den Autor Goscinny seinem Ideal näherzubringen, von aller gezeichneten Verdeutlichung absehen zu dürfen, ehrt den Meister. In der Schule kann der Künstler diese Tugend nicht gelernt haben. Wie es dort im Bordeaux der dreißiger Jahre zuging, können wir nämlich aus den Geschichten vom kleinen Nick erschließen. Sie könnten, das ist ein Effekt der republikanischen Einheitsschule, in jeder französischen Stadt mit Flic und Präfekt spielen. Goscinny, der in Paris geboren wurde, aber seine Kindheit in Argentinien verbrachte, entnahm das universelle Lokalkolorit den Schwänken, die ihm Sempé aus seiner Jugend erzählte.
Was ist nun vom Zeichenunterricht zu sagen? "Zeichenunterricht ist schön, denn da müssen wir keine Lektionen lernen und keine Hausaufgaben machen, und man darf sich dabei unterhalten, und es ist ein bißchen so wie eine Pause." Kunst ist schön, macht nämlich scheinbar nicht viel Arbeit. Man muß nichts wissen, schon gar nichts Auswendiggelerntes - Pech für Adalbert -, nur sehen. Die Lehrerin legt einen Apfel auf den Tisch. Das pädagogische Konzept scheint transparent. Es soll durchaus eine Art von Bescheidenheit beigebracht werden: Andacht zum Unbedeutenden. Alle die Farben, die Georg mit in die Klasse gebracht hat, sind unnütz, wenn nicht jeder Eindruck von Prunk und Protz verwischt wird. Auch im wurstfingrigen Otto steckt ein kleiner Chardin. Doch naturgemäß wird das Klassenziel nicht erreicht. Als der Rektor die Übungsstücke inspiziert, fällt die Apfelernte äußerst dürftig aus. "Er ist zwischen den Bänken durchgegangen, und er hat meine Burg gesehen, den Kuchen von Otto, die Landkarte von Adalbert, die Flugzeuge von Joachim, das rosa Blatt von Chlodwig und die roten Blätter von Max und Georg und die Seeschlacht von Franz und Roland." Der Rektor denkt nicht daran, Chlodwig, Max und Georg wegen ihrer abstrakten Etüden in ihrer Kreativität zu ermutigen; im französischen Schulsystem bricht sich das Genie aufhaltsam Bahn.
"Der Apfel" ist eine der achtzig wiedergefundenen Nick-Episoden, deren Sammlung ein Bestseller in Frankreich war und nun von Diogenes in deutscher Sprache vorgelegt wird - in der Sprache Hans Georg Lenzens, der schon die klassischen fünf Bände übersetzt hat und mittlerweile vierundachtzig Jahre alt ist. Für die scheinbar formlose epische Redeweise Nicks, pur sprudelnde Prosa, mußte Lenzen eine Entsprechung finden, die den Gesetzen der deutschen Syntax im Bruch Respekt bezeugt. Die Wortstellung ist im Deutschen freier, die Abweichung von der Diktatsprache muß daher, so Lenzens Entscheidung, noch deutlicher markiert werden. Daher der mit "weil" eingeleitete Hauptsatz, daher "nämlich" als Konjunktion. Die literarische Kunstsprache griff der jugendlichen Umgangssprache vor, und man möchte hoffen, daß das Falsche, das sonst einfach dahingesprochen wird, schwarz auf weiß sogar für unsichere junge Leser Anlaß zum Nachdenken über die Sprache sein kann. Hier verliert nämlich die Routine der Flüchtigkeitsfehler ihr Selbstverständliches: Die Grammatikbrüche sind Zeichen dafür, daß Gesagtes und Gemeintes bei Nick auseinandergehen, die Kette der Ereignisse, wie Nick sie abspult, und die tatsächliche Verkettung der Dinge, die sich hinterrücks über die Sprache in Erinnerung bringt.
Goscinny war ein selbstloser Mechaniker der Pointe, den man in Metaphern aus dem Uhrmacherhandwerk preisen müßte. Indem er nichts als Worte machte, hielt er ein Collegium logicum. Anders als Übersetzung und Druckbild läßt die editorische Einrichtung des Bandes zu wünschen übrig. Die Verdopplung des Textcorpus eines Klassikers wird gefeiert - aber die Angaben zur Publikationsgeschichte sind unvollständig. Anne Goscinny, die Tochter des Autors, gibt in ihrem knappen Vorwort an, zwischen 1959 und 1965 hätten Goscinny und Sempé wöchentlich eine Geschichte für die Sonntagszeitung "Sud-Ouest-Dimanche" angefertigt - danach käme man auf etwa dreihundert Geschichten, deutlich mehr als die hundertsechsundsechzig nun in sechs Bänden gesammelten. Seltsamerweise erwähnt sie nicht, daß Nick auch in der von ihrem Vater gegründeten Comic-Zeitschrift "Pilote" zu finden war - im ersten Heft 1959 trat er neben Asterix auf, einem anderen von Goscinny geschaffenen kleinen Helden mit einem gefräßigen Freund. Goscinnys Witwe, so ist nur in der deutschen Version des Vorworts zu lesen, soll bei einem Umzug "achtzig unpublizierte Geschichten" auf dem Dachboden entdeckt haben. Gemeint sind nicht in Buchform nachgedruckte Geschichten. Enthielt die Kiste Manuskripte oder Zeitungsausrisse?
Für die Würdigung des Gemeinschaftswerks ist interessant, daß es zunächst gar nicht die Form hatte, die uns heute alternativlos, schlechthin klassisch erscheint: eine Kurzgeschichte von Goscinny, dazu zwei oder drei Zeichnungen von Sempé. Schon vier Jahre vor der Osterausgabe 1959 von "Sud-Ouest-Dimanche" hatte es, wovon im Vorwort ebenfalls nichts steht, Nick-Geschichten von Sempé und Goscinny (unter dem Pseudonym Agostini) gegeben. Sie erschienen im belgischen Wochenmagazin "Le Moustique", einer Radioprogrammzeitschrift - und zwar als Comicstrip. Eine Folge, vier Reihen mit je drei Bildern, erzählt davon, wie Papa Nick eine Spielzeugeisenbahn schenkt. Das Ende ist ein von Papa verursachter Stromausfall. Ein Kapitel des neuen Bandes, "Tuuuuut!", hat dasselbe Thema - Otto bringt seine Bahn mit - und dieselbe Pointe. In der Comicversion soll man über die Widerlegung des Mustersohnes lachen, der, auch als es finster im Zimmer geworden ist, den Satz wiederholt: "Papa weiß alles!" In der illustrierten Geschichte liegt der ganze Witz in der seligen Unwissenheit des Sohnes, der die Niederlage des Vaters gar nicht erkennt. "Mama und ich, wir haben zu Abend gegessen mit Kerzen auf dem Tisch, das war klasse! Was schade war: Papa ist nicht zum Abendessen runtergekommen - er hat in meinem Zimmer gesessen und war schlechter Laune. Ich hätte nicht gedacht, daß ihm das so viel ausmacht, daß Ottos elektrische Eisenbahn nicht funktioniert hat." Der Vater bleibt der Held. Wenn er sich seltsam benimmt, deutet der Sohn sich das im Bild seines eigenen Verhaltens: Papa schmollt.
Goscinny, der geniale Comictexter, fügte sich im Hauptberuf den Vorgaben einer eckigen Welt, in der nicht seine Textkästen und Sprechblasen den narrativen Fluß speisten, sondern die Tusche des Kollegen. In den Monologen des kleinen Nick kam er seinem Traum eines reinen Erzählens nahe. Gleichwohl wird auch der Leser, der am innigsten mit Nick empfindet, der so viel zu erzählen hat, wenn er aus der Schule kommt, und bei seinen Eltern so wenig Gehör findet, nicht verzichten wollen auf Sempés Panorama des Kinderzimmers: über Nicks Bett die Poster vom Westernhelden und von der Mondrakete, auf dem Schrank die Spielzeugkartons mit dem gefährlich weit über den Rand ragenden Flugzeug, auf dem Boden die unverbundenen Schienenstränge, im Vordergrund Nick und Otto (mit Keks vor dem Mund) streitend, in der Tür Papa, noch die Zeitung in der Hand, aber schon die Freude an der technischen Herausforderung in den Augen.
Die Illustrationen sind nicht Beigabe, viel weniger noch als selbst bei E. H. Shepards Zeichnungen zu "Pu dem Bären", sondern erzählen dieselbe Geschichte von der anderen Seite. Der parataktische Rechenschaftsbericht, der gar nicht merkt, wie er immer wieder über die eigenen Konjunktionen stolpert, ist ausradiert. Die ewige Komödie des Menschlichen bietet sich einem Betrachter dar, der über den Dingen schwebt, aber hineingezogen wird. ",Macht ein Viereck', hat die Lehrerin gesagt, ,und in das Viereck könnt ihr einen Apfel ganz leicht hineinzeichnen.'" So hat Sempé es zuerst auch gemacht, aber es kam ihm falsch vor. In den Comic-Vierecken bewegte sich Nick noch nicht wie ein freier Mensch. Um die freien Blätter kann man keine Rahmen zeichnen. Sogar das Karree des Schulhofs fällt aus der geometrischen Ordnung heraus. Diese Bilder erzählen ohne Worte die pädagogische Moral der Geschichten vom kleinen Nick: Es ist unmenschlich, vom Subjekt zu verlangen, daß es sich selbst objektiv betrachtet.
PATRICK BAHNERS
René Goscinny, Jean-Jacques Sempé: "Neues vom kleinen Nick". Achtzig prima Geschichten vom kleinen Nick und seinen Freunden. Aus dem Französischen übersetzt von Hans Georg Lenzen. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 640 S., br., 24,90 [Euro].
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Doppelmeisterwerk: Achtzig neue Geschichten vom kleinen Nick
Hätte René Goscinny auch die Geschichte vom kleinen René aufgeschrieben und hätte Jean-Jacques Sempé sie wiederum illustriert, dann sähe man auf einem Blatt einen kleinen Kerl mit drolligen Gesichtszügen - Sempé hätte sie in seiner Manier eleganter Diskretion ein wenig idealisiert, aber wir haben Goscinnys Wort dafür, daß die Natur ihm keine Wahl gelassen hatte, als den Klassenclown zu spielen - vor einem Schreibtisch, über sich eine Denkblase. In der Denkblase säße wiederum der kleine Kerl, über sich eine Sprechblase, in der vor lauter Text kein Platz wäre für ein weiteres Bild im Bild, und ihn umlagerte die ganze Welt, Papa und Mama, Jungen und Mädchen und auch der Hilfslehrer, der immer sagt "Seht mir in die Augen!", der diesmal dem kleinen René in die Augen sehen müßte, dem geborenen Erzähler.
Er glaube, hat Sempé über seinen 1977 verstorbenen Freund gesagt, "daß es Goscinnys Traum war, ohne Zeichnung, ohne Bebilderung zu schreiben". Die Bescheidenheit des Gedankens, die zauberhaft hingeworfenen Zeichnungen zum "Kleinen Nick" hätten eigentlich den Sinn gehabt, den Autor Goscinny seinem Ideal näherzubringen, von aller gezeichneten Verdeutlichung absehen zu dürfen, ehrt den Meister. In der Schule kann der Künstler diese Tugend nicht gelernt haben. Wie es dort im Bordeaux der dreißiger Jahre zuging, können wir nämlich aus den Geschichten vom kleinen Nick erschließen. Sie könnten, das ist ein Effekt der republikanischen Einheitsschule, in jeder französischen Stadt mit Flic und Präfekt spielen. Goscinny, der in Paris geboren wurde, aber seine Kindheit in Argentinien verbrachte, entnahm das universelle Lokalkolorit den Schwänken, die ihm Sempé aus seiner Jugend erzählte.
Was ist nun vom Zeichenunterricht zu sagen? "Zeichenunterricht ist schön, denn da müssen wir keine Lektionen lernen und keine Hausaufgaben machen, und man darf sich dabei unterhalten, und es ist ein bißchen so wie eine Pause." Kunst ist schön, macht nämlich scheinbar nicht viel Arbeit. Man muß nichts wissen, schon gar nichts Auswendiggelerntes - Pech für Adalbert -, nur sehen. Die Lehrerin legt einen Apfel auf den Tisch. Das pädagogische Konzept scheint transparent. Es soll durchaus eine Art von Bescheidenheit beigebracht werden: Andacht zum Unbedeutenden. Alle die Farben, die Georg mit in die Klasse gebracht hat, sind unnütz, wenn nicht jeder Eindruck von Prunk und Protz verwischt wird. Auch im wurstfingrigen Otto steckt ein kleiner Chardin. Doch naturgemäß wird das Klassenziel nicht erreicht. Als der Rektor die Übungsstücke inspiziert, fällt die Apfelernte äußerst dürftig aus. "Er ist zwischen den Bänken durchgegangen, und er hat meine Burg gesehen, den Kuchen von Otto, die Landkarte von Adalbert, die Flugzeuge von Joachim, das rosa Blatt von Chlodwig und die roten Blätter von Max und Georg und die Seeschlacht von Franz und Roland." Der Rektor denkt nicht daran, Chlodwig, Max und Georg wegen ihrer abstrakten Etüden in ihrer Kreativität zu ermutigen; im französischen Schulsystem bricht sich das Genie aufhaltsam Bahn.
"Der Apfel" ist eine der achtzig wiedergefundenen Nick-Episoden, deren Sammlung ein Bestseller in Frankreich war und nun von Diogenes in deutscher Sprache vorgelegt wird - in der Sprache Hans Georg Lenzens, der schon die klassischen fünf Bände übersetzt hat und mittlerweile vierundachtzig Jahre alt ist. Für die scheinbar formlose epische Redeweise Nicks, pur sprudelnde Prosa, mußte Lenzen eine Entsprechung finden, die den Gesetzen der deutschen Syntax im Bruch Respekt bezeugt. Die Wortstellung ist im Deutschen freier, die Abweichung von der Diktatsprache muß daher, so Lenzens Entscheidung, noch deutlicher markiert werden. Daher der mit "weil" eingeleitete Hauptsatz, daher "nämlich" als Konjunktion. Die literarische Kunstsprache griff der jugendlichen Umgangssprache vor, und man möchte hoffen, daß das Falsche, das sonst einfach dahingesprochen wird, schwarz auf weiß sogar für unsichere junge Leser Anlaß zum Nachdenken über die Sprache sein kann. Hier verliert nämlich die Routine der Flüchtigkeitsfehler ihr Selbstverständliches: Die Grammatikbrüche sind Zeichen dafür, daß Gesagtes und Gemeintes bei Nick auseinandergehen, die Kette der Ereignisse, wie Nick sie abspult, und die tatsächliche Verkettung der Dinge, die sich hinterrücks über die Sprache in Erinnerung bringt.
Goscinny war ein selbstloser Mechaniker der Pointe, den man in Metaphern aus dem Uhrmacherhandwerk preisen müßte. Indem er nichts als Worte machte, hielt er ein Collegium logicum. Anders als Übersetzung und Druckbild läßt die editorische Einrichtung des Bandes zu wünschen übrig. Die Verdopplung des Textcorpus eines Klassikers wird gefeiert - aber die Angaben zur Publikationsgeschichte sind unvollständig. Anne Goscinny, die Tochter des Autors, gibt in ihrem knappen Vorwort an, zwischen 1959 und 1965 hätten Goscinny und Sempé wöchentlich eine Geschichte für die Sonntagszeitung "Sud-Ouest-Dimanche" angefertigt - danach käme man auf etwa dreihundert Geschichten, deutlich mehr als die hundertsechsundsechzig nun in sechs Bänden gesammelten. Seltsamerweise erwähnt sie nicht, daß Nick auch in der von ihrem Vater gegründeten Comic-Zeitschrift "Pilote" zu finden war - im ersten Heft 1959 trat er neben Asterix auf, einem anderen von Goscinny geschaffenen kleinen Helden mit einem gefräßigen Freund. Goscinnys Witwe, so ist nur in der deutschen Version des Vorworts zu lesen, soll bei einem Umzug "achtzig unpublizierte Geschichten" auf dem Dachboden entdeckt haben. Gemeint sind nicht in Buchform nachgedruckte Geschichten. Enthielt die Kiste Manuskripte oder Zeitungsausrisse?
Für die Würdigung des Gemeinschaftswerks ist interessant, daß es zunächst gar nicht die Form hatte, die uns heute alternativlos, schlechthin klassisch erscheint: eine Kurzgeschichte von Goscinny, dazu zwei oder drei Zeichnungen von Sempé. Schon vier Jahre vor der Osterausgabe 1959 von "Sud-Ouest-Dimanche" hatte es, wovon im Vorwort ebenfalls nichts steht, Nick-Geschichten von Sempé und Goscinny (unter dem Pseudonym Agostini) gegeben. Sie erschienen im belgischen Wochenmagazin "Le Moustique", einer Radioprogrammzeitschrift - und zwar als Comicstrip. Eine Folge, vier Reihen mit je drei Bildern, erzählt davon, wie Papa Nick eine Spielzeugeisenbahn schenkt. Das Ende ist ein von Papa verursachter Stromausfall. Ein Kapitel des neuen Bandes, "Tuuuuut!", hat dasselbe Thema - Otto bringt seine Bahn mit - und dieselbe Pointe. In der Comicversion soll man über die Widerlegung des Mustersohnes lachen, der, auch als es finster im Zimmer geworden ist, den Satz wiederholt: "Papa weiß alles!" In der illustrierten Geschichte liegt der ganze Witz in der seligen Unwissenheit des Sohnes, der die Niederlage des Vaters gar nicht erkennt. "Mama und ich, wir haben zu Abend gegessen mit Kerzen auf dem Tisch, das war klasse! Was schade war: Papa ist nicht zum Abendessen runtergekommen - er hat in meinem Zimmer gesessen und war schlechter Laune. Ich hätte nicht gedacht, daß ihm das so viel ausmacht, daß Ottos elektrische Eisenbahn nicht funktioniert hat." Der Vater bleibt der Held. Wenn er sich seltsam benimmt, deutet der Sohn sich das im Bild seines eigenen Verhaltens: Papa schmollt.
Goscinny, der geniale Comictexter, fügte sich im Hauptberuf den Vorgaben einer eckigen Welt, in der nicht seine Textkästen und Sprechblasen den narrativen Fluß speisten, sondern die Tusche des Kollegen. In den Monologen des kleinen Nick kam er seinem Traum eines reinen Erzählens nahe. Gleichwohl wird auch der Leser, der am innigsten mit Nick empfindet, der so viel zu erzählen hat, wenn er aus der Schule kommt, und bei seinen Eltern so wenig Gehör findet, nicht verzichten wollen auf Sempés Panorama des Kinderzimmers: über Nicks Bett die Poster vom Westernhelden und von der Mondrakete, auf dem Schrank die Spielzeugkartons mit dem gefährlich weit über den Rand ragenden Flugzeug, auf dem Boden die unverbundenen Schienenstränge, im Vordergrund Nick und Otto (mit Keks vor dem Mund) streitend, in der Tür Papa, noch die Zeitung in der Hand, aber schon die Freude an der technischen Herausforderung in den Augen.
Die Illustrationen sind nicht Beigabe, viel weniger noch als selbst bei E. H. Shepards Zeichnungen zu "Pu dem Bären", sondern erzählen dieselbe Geschichte von der anderen Seite. Der parataktische Rechenschaftsbericht, der gar nicht merkt, wie er immer wieder über die eigenen Konjunktionen stolpert, ist ausradiert. Die ewige Komödie des Menschlichen bietet sich einem Betrachter dar, der über den Dingen schwebt, aber hineingezogen wird. ",Macht ein Viereck', hat die Lehrerin gesagt, ,und in das Viereck könnt ihr einen Apfel ganz leicht hineinzeichnen.'" So hat Sempé es zuerst auch gemacht, aber es kam ihm falsch vor. In den Comic-Vierecken bewegte sich Nick noch nicht wie ein freier Mensch. Um die freien Blätter kann man keine Rahmen zeichnen. Sogar das Karree des Schulhofs fällt aus der geometrischen Ordnung heraus. Diese Bilder erzählen ohne Worte die pädagogische Moral der Geschichten vom kleinen Nick: Es ist unmenschlich, vom Subjekt zu verlangen, daß es sich selbst objektiv betrachtet.
PATRICK BAHNERS
René Goscinny, Jean-Jacques Sempé: "Neues vom kleinen Nick". Achtzig prima Geschichten vom kleinen Nick und seinen Freunden. Aus dem Französischen übersetzt von Hans Georg Lenzen. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 640 S., br., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Fritz Göttler gerät angesichts dieser Neuentdeckung richtig ins Schwärmen: "Selten ist die Transparenz der Kindheit so wunderbar eingefangen wie in diesen Geschichten und Bildern, dieser Schwebezustand, da alles Andeutung ist, Versprechen und Spiel." Vierzig Jahre lagen die charmanten Zeichnungen, die in den Sechigern in der französischen Zeitung Sud-Ouest-Dimanche erschienen waren, in einer Kiste, bis sie die Tochter von Rene Goscinny bei einem Umzug entdeckte. Das besondere an diesen schön illustrierten Geschichten ist nach Meinung des Rezensenten ihre Doppelbödigkeit. Es treffen zwei Welten aufeinander, "die der Kinder und die der Erwachsenen, und bei diesem Zusammentreffen verschieben sich beider Perspektiven".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Geschichten vom kleinen Nick sind seit Jahrzehnten Klassiker der Kinderliteratur, die auch viele Erwachsene begeistert.« Georg Patzer / Stuttgarter Zeitung Stuttgarter Zeitung