Produktdetails
- Ethnologische Paperbacks
- Verlag: Reimer
- Seitenzahl: 536
- Abmessung: 205mm
- Gewicht: 604g
- ISBN-13: 9783496008750
- ISBN-10: 349600875X
- Artikelnr.: 02997618
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2000Land der verbrannten Gesichter
Namen sind nicht nur natürlich – Hirschbergs Wörterbuch der Völkerkunde wurde neu ediert
„Volk” war ursprünglich die Bezeichnung für „Viele”, für eine unbestimmte „Menge von Menschen”, und erst als verschiedene Gruppen von „Vielen” zu unterscheiden waren, kamen die verschiedenen Völkernamen auf und das unbestimmte Volk wurde in den einzelnen Völkern zählbar. Im Altgriechischen ist diese Beziehung erkennbar. Hier ist Volk (Ethnos) von dem Ausdruck für Brauchtum, Gewohnheit und Sitte (Ethos) abgeleitet. „Ethnos” bezieht sich also auf die ursprüngliche Bedeutung einer durch die Gewohnheit verbundene Menge von Menschen.
Völkernamen sind häufig das Einzige oder Erste, was von untergegangenen oder noch nicht entdeckten Nationen bekannt ist. In der Völkerkunde haben sie von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. Doch genauso wie die Entstehungsgründe für Völker noch im Dunkeln liegen, ist die Vergabe der Völkernamen ein unbewusst ablaufender Prozess.
Im neuen „Hirschberg”, dem seit 1965 nun zum dritten Mal überarbeiteten Wörterbuch der Völkerkunde, werden Völkernamen als Fremdbezeichnungen (Exonyme) oder Eigenbezeichnungen (Endonyme) vorgestellt. Letztere sind bewusste Unterscheidungs- und Abgrenzungsmittel gegenüber Nachbarn und damit „Ausdrucksformen einer spezifischen Ethnizität”. Die amtlichen und in der ethnologischen Literatur üblichen Bezeichnungen spiegeln dagegen meist Bezeichnungen durch Fremde und sind nicht selten diskriminierend. Um solchen kollektiven Herabsetzungen vorzubeugen, rufen manche Völkerkundler Wissenschaft, Lehre und Politik dazu auf, „stärker die Selbstbezeichnungen” von Völkern zu berücksichtigen. So sollten, gesetzt den Fall, die Deutschen wären gleichfalls eine Ethnie im völkerkundlichen Sinne, die Engländer, die Franzosen und alle slawischen Völker doch endlich die Deutschen mit deren eigenen Namen benennen – und aufhören mit dem alten Firlefanz Germans, Allemands und Njemcy (was ja eigentlich die Stummen bedeutet).
Könnten solche Völkerkundler, die sich um die untergehenden schriftlosen Kulturen dieses Planeten kümmern, wie die Politiker ihre Forderungen auch praktisch verwirklichen, wäre eine internationale Sprachverwirrung nicht zu verhindern. Ein Völkername mag anfangs bedeuten, was er will – wenn er sich erst einmal durchsetzen konnte, hat sich auch seine pejorative Bedeutung verloren. So würden sich die Ukrainer (slawisch für „im Randgebiet Wohnende”) oder Äthiopier (griechisch für „verbrannte Gesichter”) kaum so nennen, wenn ihnen die Ursprungsbedeutung der Namens noch diskriminierend vorkäme.
Dem Reimer-Verlag ist mit dem handlichen Nachschlagewerk eine solide Bestandsaufnahme der ethnografischen Fachbegriffe gelungen. Von den Abelam und Aborigines bis zu den Zwillingen ist nicht nur Allbekanntes im Hirschberg abgehandelt. Der Interessierte profitiert auch von den Ergebnissen jüngster Feldforschung mitsamt Verweisen auf die weiterführende Fachliteratur. Fündig wird auch der, der sich über die zum Teil belastete historische Begriffswelt in der Völkerkunde informieren will. So erfährt er, wann im Bedeutungsfeld für die fremden Völker die „Wilden” von der „Kultur der Kulturlosen”, diese von den „Naturvölkern” und letztere wiederum von den „indigenen Ethnien” abgelöst wurden, um der immer wieder neu entdeckten Diskriminierung zu entgehen.
Die Geschichte der Völkerkunde ist nämlich selber von der Eigengesetzlichkeit der Sprache bestimmt, welche zuerst benennt und sich erst hernach ihrer eingreifenden Rolle bewusst wird. Der Begriff Ethnografie war eine Schöpfung des Staatswissenschaftlers und Publizisten August Ludwig von Schlözer (1735–1809). Dessen Konzept einer Vergleichung der Völker im Rahmen seiner Allgemeinen Welthistorie (1771) hatte den Terminus zum Leben erweckt. Ohne sein Wirken gäbe es möglicherweise keinen Hirschberg – deshalb wäre der nächste Hirschberg ohne Schlözer eigentlich nicht komplett.
MARKUS WOLF
WALTER HIRSCHBERG (Hrsg. und Begr. ): Wörterbuch der Völkerkunde. Grundlegend überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Redaktion Wolfgang Müller. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1999. 427 Seiten, 1550 Stichwörter, 78 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Namen sind nicht nur natürlich – Hirschbergs Wörterbuch der Völkerkunde wurde neu ediert
„Volk” war ursprünglich die Bezeichnung für „Viele”, für eine unbestimmte „Menge von Menschen”, und erst als verschiedene Gruppen von „Vielen” zu unterscheiden waren, kamen die verschiedenen Völkernamen auf und das unbestimmte Volk wurde in den einzelnen Völkern zählbar. Im Altgriechischen ist diese Beziehung erkennbar. Hier ist Volk (Ethnos) von dem Ausdruck für Brauchtum, Gewohnheit und Sitte (Ethos) abgeleitet. „Ethnos” bezieht sich also auf die ursprüngliche Bedeutung einer durch die Gewohnheit verbundene Menge von Menschen.
Völkernamen sind häufig das Einzige oder Erste, was von untergegangenen oder noch nicht entdeckten Nationen bekannt ist. In der Völkerkunde haben sie von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. Doch genauso wie die Entstehungsgründe für Völker noch im Dunkeln liegen, ist die Vergabe der Völkernamen ein unbewusst ablaufender Prozess.
Im neuen „Hirschberg”, dem seit 1965 nun zum dritten Mal überarbeiteten Wörterbuch der Völkerkunde, werden Völkernamen als Fremdbezeichnungen (Exonyme) oder Eigenbezeichnungen (Endonyme) vorgestellt. Letztere sind bewusste Unterscheidungs- und Abgrenzungsmittel gegenüber Nachbarn und damit „Ausdrucksformen einer spezifischen Ethnizität”. Die amtlichen und in der ethnologischen Literatur üblichen Bezeichnungen spiegeln dagegen meist Bezeichnungen durch Fremde und sind nicht selten diskriminierend. Um solchen kollektiven Herabsetzungen vorzubeugen, rufen manche Völkerkundler Wissenschaft, Lehre und Politik dazu auf, „stärker die Selbstbezeichnungen” von Völkern zu berücksichtigen. So sollten, gesetzt den Fall, die Deutschen wären gleichfalls eine Ethnie im völkerkundlichen Sinne, die Engländer, die Franzosen und alle slawischen Völker doch endlich die Deutschen mit deren eigenen Namen benennen – und aufhören mit dem alten Firlefanz Germans, Allemands und Njemcy (was ja eigentlich die Stummen bedeutet).
Könnten solche Völkerkundler, die sich um die untergehenden schriftlosen Kulturen dieses Planeten kümmern, wie die Politiker ihre Forderungen auch praktisch verwirklichen, wäre eine internationale Sprachverwirrung nicht zu verhindern. Ein Völkername mag anfangs bedeuten, was er will – wenn er sich erst einmal durchsetzen konnte, hat sich auch seine pejorative Bedeutung verloren. So würden sich die Ukrainer (slawisch für „im Randgebiet Wohnende”) oder Äthiopier (griechisch für „verbrannte Gesichter”) kaum so nennen, wenn ihnen die Ursprungsbedeutung der Namens noch diskriminierend vorkäme.
Dem Reimer-Verlag ist mit dem handlichen Nachschlagewerk eine solide Bestandsaufnahme der ethnografischen Fachbegriffe gelungen. Von den Abelam und Aborigines bis zu den Zwillingen ist nicht nur Allbekanntes im Hirschberg abgehandelt. Der Interessierte profitiert auch von den Ergebnissen jüngster Feldforschung mitsamt Verweisen auf die weiterführende Fachliteratur. Fündig wird auch der, der sich über die zum Teil belastete historische Begriffswelt in der Völkerkunde informieren will. So erfährt er, wann im Bedeutungsfeld für die fremden Völker die „Wilden” von der „Kultur der Kulturlosen”, diese von den „Naturvölkern” und letztere wiederum von den „indigenen Ethnien” abgelöst wurden, um der immer wieder neu entdeckten Diskriminierung zu entgehen.
Die Geschichte der Völkerkunde ist nämlich selber von der Eigengesetzlichkeit der Sprache bestimmt, welche zuerst benennt und sich erst hernach ihrer eingreifenden Rolle bewusst wird. Der Begriff Ethnografie war eine Schöpfung des Staatswissenschaftlers und Publizisten August Ludwig von Schlözer (1735–1809). Dessen Konzept einer Vergleichung der Völker im Rahmen seiner Allgemeinen Welthistorie (1771) hatte den Terminus zum Leben erweckt. Ohne sein Wirken gäbe es möglicherweise keinen Hirschberg – deshalb wäre der nächste Hirschberg ohne Schlözer eigentlich nicht komplett.
MARKUS WOLF
WALTER HIRSCHBERG (Hrsg. und Begr. ): Wörterbuch der Völkerkunde. Grundlegend überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Redaktion Wolfgang Müller. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1999. 427 Seiten, 1550 Stichwörter, 78 Mark.
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