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Fetschers Weg vom Berufsoffizier und begeisterten Reiter zum engagierten Demokratien und nachdenklichen Philosophen ist zugleich ein Stück spannend erzählter Zeitgeschischichte.

Produktbeschreibung
Fetschers Weg vom Berufsoffizier und begeisterten Reiter zum engagierten Demokratien und nachdenklichen Philosophen ist zugleich ein Stück spannend erzählter Zeitgeschischichte.
Autorenporträt
Iring Fetscher, geboren 1922 in Marbach am Necker, war von 1963 bis 1987 Professor für Politische Theorie und Sozialphilosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er widmete sich insbesondere Studien über Rousseau, Hegel und Marx und die verschiedenen Richtungen des europäischen Marxismus. Iring Fetscher verstarb im Juli 2014.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.1995

Die gebeutelte Generation
Der Politikwissenschaftler Iring Fetscher erzählt sein Leben

Iring Fetscher, bis 1988 Professor für Politikwissenschaft in Frankfurt, ist als Publizist auch über Fachkreise hinaus bekannt geworden. 1922 geboren, gehört er einer von der Zeitgeschichte gebeutelten Generation an, von der viele, wenn sie den Krieg denn überhaupt überlebten, in Lagen gebracht wurden, bei denen ihnen wenig Spielraum für eigene Entscheidungen blieb.

Der Autor nennt seine Autobiographie einen "Versuch, mein Leben zu verstehen" - allerdings gesteht er, daß er heute Mühe hat, den jungen Artillerieoffizier, der er im Kriege war, zu begreifen. Er begnügt sich damit, einfach zu erzählen, was er erlebt hat. Das tut er nüchtern, sachlich und ungemein detailliert. Den Fallen des selektiven Gedächtnisses entgeht er dadurch, daß er lange Passagen aus seinen seit der Jugend kontinuierlich geführten Tagebüchern oder aus alten Briefen zitiert. Das sichert zwar die faktische Richtigkeit, birgt aber auch die Gefahr des allzu Ausführlichen. Außerdem hindert es den heute Zurückblickenden, analytischer vorzugehen und so das Versprechen seines Titels wirklich einzulösen.

Iring Fetscher ist in Dresden aufgewachsen. Sein Vater war Arzt und Dozent am dortigen Pädagogischen Institut, verlor dieses Amt aber schon 1934, weil er sich für jüdische Kollegen eingesetzt hatte. Trotz der kritischen Einstellung des Vaters zum Nationalsozialismus meldete sich der Sohn nach dem Abitur 1940 freiwillig als Offiziersbewerber. Seine Erklärung für diese Entscheidung ist einfach und einleuchtend: Er war begeisterter Reiter und liebte den Umgang mit Pferden. Als Freiwilliger brauchte er keinen Arbeitsdienst zu leisten, und vor allem konnte er die Waffengattung selbst wählen. Die einzige, bei der es noch Pferde gab, war die bespannte leichte Artillerie. Bei ihr also begann der Achtzehnjährige seinen Militärdienst.

Die Ausbildungszeit, die erste Stationierung in einem verlassenen polnischen Dorf, den Soldatenalltag, die Landschaft, Ausritte mit ausgesuchten Pferden samt ihren Namen und besonderen Eigenschaften beschreibt er akribisch. Von Deportationen von Polen und Juden hatte man gehört, aber "damit hatte die Wehrmacht nichts zu tun", so die Überzeugung der Soldaten. Beim Einmarsch in die völlig überraschte Sowjetunion reitet Fetscher mit seiner Batterie hinter den rasch vordringenden motorisierten Verbänden durch die Ukraine und sieht die ersten Toten und die zerstörten Dörfer. Der russische Winter von 1941 bleibt ihm erspart, denn er wird zur weiteren Offiziersausbildung in die Heimatgarnison abkommandiert. "Glück gehabt", notiert er heute, damals bedauerte er es, denn "gern hätte ich auch noch Kiew kennengelernt", schrieb er in sein Tagebuch.

Fetscher beschönigt und verschweigt nichts, weder die Unbefangenheit, mit der er sich im besetzten Holland bewegt, als sei er ein Kulturtourist, noch seinen Stolz auf die aus "erstklassigem Stoff" geschneiderte "elegante Uniform", die er trägt, nachdem er zum Leutnant befördert wurde oder als er mit dem "Eisernen Kreuz" ausgezeichnet wird.

Sein Leben ist gewissermaßen zweigeteilt, denn immer schleppt er Bücher mit sich, in jeder Gefechtspause - er nimmt an den schweren Kämpfen am Ladoga-See teil, an den verlustreichen Rückzugsschlachten in Rußland - liest er, was ihm gerade in die Hände geraten ist, schreibt Tagebuch oder auch gefühlvolle, meist naturlyrische Gedichte, von denen einige in dem Band abgedruckt sind. Er wird durch einen Granatsplitter am Auge verletzt, erhält Heimaturlaub, genießt die Tage. Erst ganz allmählich verliert er den Glauben an den Endsieg, und erst nach dem 20. Juli 1944 wird ihm bewußt, was für einem Regime er dient.

Was wäre die Alternative? Überlaufen zum Feind? "Ja, wenn wir den Engländern gegenüberlägen", sagt ihm Richard von Weizsäcker in einem offenen Gespräch. Russische Gefangenschaft dagegen war eine im übrigen von der Nazipropaganda kräftig geförderte Schreckensvorstellung. Im Frühjahr 1945 ist Fetscher noch in Ostpreußen im Einsatz, dann gelangt er mit einem der letzten Schiffe nach Dänemark. Dort wird er Gefangener der Engländer. Erst im Herbst kommt er in ein Lager in Deutschland und wird aus dem Militärdienst entlassen. Jetzt erst erfährt er, daß sein Vater in Dresden am 8. Mai, als er, wahrscheinlich mit einer weißen Fahne, auf dem Weg zu den sowjetischen Kommandeuren war, von einer SS-Streife erschossen worden ist.

Fetschers nicht weniger detaillierte Beschreibung der Nachkriegszeit, als er in Tübingen Philosophie studiert, vermittelt eine anschauliche Vorstellung von der geistigen Unruhe jener Jahre. Er beginnt Zeitungsartikel zu schreiben, wird Redakteur einer Zeitschrift mit dem zeittypischen Titel "Die Zukunft". Aber ihn quälen auch Schuldgefühle und religiöse Unruhe. Er konvertiert zum Katholizismus. Er nimmt an Ferienkursen in Frankreich teil, an Friedenswochen, erhält ein französisches Stipendium, um ein Jahr in Paris zu studieren, wo er die Hegelianer Hyppolite und Kojève und manche anderen wie Lucien Goldmann oder Emmanuel Mounier, den Begründer der Zeitschrift "Esprit", kennenlernt.

Nach seiner Rückkehr wird er bald Assistent Eduard Sprangers in Tübingen, bei ihm schreibt er seine Dissertation über Hegel. Spranger bewegt ihn schließlich auch dazu, sich mit einer Arbeit über Rousseau zu habilitieren. Unter dem Einfluß der französischen Philosophen beschäftigt sich Fetscher bald eingehender mit den Schriften von Marx und gibt die "Marxismus-Studien" heraus, bei denen es ihm vor allem darauf ankommt zu zeigen, wie wenig die Sowjetdiktatur mit dem zu tun hatte, was bei Karl Marx zu lesen war. Er sympathisiert mit der SPD, die ihn zum Mitglied ihrer Grundwertekommission macht. Im November 1959 hält er seine Antrittsvorlesung in Tübingen, ein paar Jahre später wird er nach Frankfurt auf einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft berufen.

Die lebhaften und mitunter von persönlichen Animositäten beeinflußten Auseinandersetzungen und Diskussionen zwischen den unterschiedlichen sozial- und politikwissenschaftlichen und philosophischen Schulen und Denkrichtungen jener Jahre werden durch Fetschers vergleichende Analysen nachvollziehbar. Sein Lebensbericht als Ganzes ist, auch mit all den privaten und persönlichen Geschichten, ein lesenswertes Dokument der Zeitgeschichte geworden. HELMUT SCHEFFEL

Iring Fetscher: "Neugier und Furcht". Versuch, mein Leben zu verstehen. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1995. 480 S., geb., 49,80 DM.

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