Als der ungarische Journalist Béla Zsolt im September 1939 von Paris aus die Flucht plant, werden ihm die neun Koffer seiner Gattin, die sich nicht von ihrem Besitz trennen kann, zum Verhängnis. Der einzige Zug, in dem sämtliche Koffer Platz finden, ist der Zug zurück nach Budapest. Arbeitsdienst an der Ostfront, Gefängnis und Ghetto kennzeichnen die nächsten Jahre - doch wie durch ein Wunder überlebt Zsolt den Krieg. Während im Spätsommer 1944 die Waggons für Juden nach Auschwitz bereitstehen, ziehen an Béla Zsolt die neun Koffer wie eine Vision vorbei. Nun erzählt er dem Ghettokollegen Friedländer seine Geschichte ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2000Die Matratze vor der Bundeslade
Endlich auf Deutsch: Béla Zsolts Bericht "Neun Koffer"
Auch in Ungarn wollte es nachher niemand gewesen sein. Über vierzig Jahre lang bestätigten einander die Kommunisten und die patriotischen Historiker, dass der Faschismus in ihrem Land eine Domäne der Feudalaristokratie war. Das Volk hingegen, ob Bauernschaft oder Arbeiterklasse, das "wahre Ungarn" habe unterdessen im Widerstand gekämpft und gelitten. Mit dieser schon vom stalinistischen Diktator Matyas Rakosi verordneten Lüge wurde nach 1945 das Bündnis der Kommunisten mit der antisemitischen Bauernpartei, die Einheit von neuer Staatsmacht und alten gesellschaftlichen Kräften besiegelt. So wurde aus Ungarn ein wundersames Land, in dem der Faschismus fast ohne Faschisten geherrscht hatte. Und in dem als Opfer nicht etwa die Zehntausenden ermordeter Juden, sondern die Klassen der Arbeiter und Bauern galten, von denen sich Zehntausende an Plünderung, Vertreibung, Mord beteiligt hatten.
Béla Zsolt, ein Gezeichneter, der durch Gefängnis und Getto gegangen war, wollte 1945 gerade diese staatstragende Lüge, deren Folgen Ungarn noch heute beschäftigen, kenntlich machen. Zu diesem Zweck gründete er die Zeitschrift "Haladas" (Fortschritt), schrieb Artikelserien - und vor allem den grandiosen, erschütternden, so lange totgeschwiegenen Bericht, der jetzt endlich auch auf Deutsch zu lesen ist: "Neun Koffer". In der Zwischenkriegszeit einer der bekanntesten ungarischen Publizisten, hatte sich Zsolt viele Feinde geschaffen. Ihnen war er als Asphaltliterat verhasst, dessen Produktivität und Sprachgewalt beängstigend waren und dessen schneidender Witz eine Gesellschaft bloßstellte, die sich mit Mythen aus Blut und Erz wappnete.
Als Ungarn an die Seite des Nationalsozialismus trat, bot sich für manchen die Gelegenheit, Rache an dem unbotmäßigen, dem gefürchteten Publizisten zu nehmen. Zsolt zeigt in "Neun Koffer", dass die faschistische Verfolgung keineswegs als selbsttätige Maschine funktionierte, sondern von Individuen, von zahllosen Ungarn betrieben wurde, die gerne auch eine Extraschicht im Foltern einlegten. Etliche seiner Folterer hat er gekannt, andere haben diesen berühmten Publizisten schon lange aus der Ferne gehasst und sich gesehnt, ihn einmal in ihre Gewalt zu bekommen. Der Faschismus, wie er ihn erlitt, war auch ein Exzess an privat motivierter Gewalt, eine Gelegenheit für Biedermänner, sich einmal mit gutem Gewissen dem Blutrausch hingeben zu können.
Zsolt musste durch alle Stationen der Verfolgung gehen: 1941 wird er zur Zwangsarbeit in die Ukraine verschickt, später von dort ins berüchtigte Gefängnis am Margaretenring in Budapest verlegt. Als er freikommt, geht er ins ostungarische Großwardein, um sich im Haus der Schwiegereltern von der Entkräftung zu erholen. Doch drei Tage nach seiner Ankunft wird die Stadt von deutschen Truppen besetzt, die die 20 000 Juden ins Getto pferchen. Die abenteuerliche Aktion des Journalisten Reszö Kasztner, der der SS gezählte 1648 Juden abkaufte, bringt Zsolt und seine Frau Ende 1944 in die Schweiz.
"Neun Koffer", im Jahre 1946 verfasst und in Ungarn erst 1980 in Buchform erschienen, geht diese Stationen nach und ist als Leidensbericht eines Überlebenden auch im Rahmen dessen, was mittlerweile "Holocaust-Literatur" genannt wird, ein einzigartiges Werk. "Da liege ich nun auf der Matratze, mitten in der Synagoge vor der Bundeslade." So beginnt das Buch, das die Angst und die Agonie in der als Spital, Leichenhaus und Wartesaal verwendeten Synagoge von Großwardein heraufbeschwört. Dicht aneinander gedrängt, liegen dort die Sterbenden, die bereits Toten und die auf ihre Deportation Wartenden nebeneinander, und Zsolt registriert mit ungläubigem Staunen, was hier aus Menschen wird. Keiner von ihnen ist "als Märtyrer irgendeiner Idee" hierhergekommen, was sie eint, ist schlicht der rassistische Hass derer, die jetzt das Sagen haben. Sonst verbindet die Getto-Bewohner, die Gefangenen der Synagoge nichts. Schaudernd wird Zsolt bewusst, dass es jenen, die gleichermaßen zum Opfer auserkoren sind, an jedweder Solidarität mangelt. In unvergesslichen Episoden beschreibt er minuziös, wie die Kranken auf den Tod des Schwerkranken warten, damit sie wieder etwas mehr Platz bekommen; wie die Gesunden, selbst im Wartesaal des Todes noch voller Illusionen und Vorurteile, ihre Standesdünkel pflegen; wie die Angehörigen der jüdischen Oberschicht, die Bankiers, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, vereinbaren, nicht in die gleichen Waggons wie der Plebs zu steigen - als gelte es, "eine Gesellschaftsreise in die Gaskammern" anzutreten. Und er erzählt in bizarren Geschichten von der lähmenden Angst, die selbst die Geflüchteten nach ein paar hundert Metern wieder umdrehen und in das Getto wie in ein behütetes Versteck zurückkehren lässt.
Die Grausamkeit, von der er lakonisch, bisweilen mit auflachender Bitterkeit kündet, macht die Lektüre passagenweise geradezu unerträglich. Mitten im Schrecken entdeckt Zsolt immer wieder die abstrusen, nichtigen Zufälle, die sein eigenes Schicksal mitentschieden haben. Das Getto lehrt nicht die Moral, sondern den "Abschied von Ideen, Lehren, Zielen". Von neun Koffern hatte seine Frau aus reichem Hause sich nie zu trennen vermocht, stets wollte sie, deren Besitzdenken in schlechten Zeiten zu einem bloßen "Kult des Gegenstandes" erstarrte, noch dieses oder jenes pretiöse Stück aus dem Hausrat bergen. Die neun randvoll gepackten Koffer verhindern auf groteske Weise, dass das Ehepaar sich retten kann - selbst dann, als die Rettung schon fast gelungen ist und jedem klar sein musste, dass es um mehr als Koffer ging.
Am Ende sind die neun so sorgsam durch den ganzen Krieg gehüteten und einmal bis Paris und von dort wieder zurück nach Ungarn gebrachten Koffer in einem Berg von 35 000 Koffern begraben, mit denen die Großwardeiner Juden zu ihrem Abtransport ins Konzentrationslager erschienen. Zsolt benennt das mit jener Hellsicht, die nach der Verzweiflung kommt und weiß, dass aus Verbrechen nichts zu lernen, weder Erkenntnis noch Moral zu gewinnen ist. Béla Zsolt starb 1949 an Auszehrung, da hatte er den Kampf gegen die allgemeine und gleiche Gedächtnislosigkeit, die die Kommunisten dem ungarischen Volk versprachen, schon verloren.
KARL-MARKUS GAUSS
Béla Zsolt: "Neun Koffer". Mit einem Nachwort von Ferenc Köszeg. Aus dem Ungarischen übersetzt von Angelika Mate. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1999. 392 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endlich auf Deutsch: Béla Zsolts Bericht "Neun Koffer"
Auch in Ungarn wollte es nachher niemand gewesen sein. Über vierzig Jahre lang bestätigten einander die Kommunisten und die patriotischen Historiker, dass der Faschismus in ihrem Land eine Domäne der Feudalaristokratie war. Das Volk hingegen, ob Bauernschaft oder Arbeiterklasse, das "wahre Ungarn" habe unterdessen im Widerstand gekämpft und gelitten. Mit dieser schon vom stalinistischen Diktator Matyas Rakosi verordneten Lüge wurde nach 1945 das Bündnis der Kommunisten mit der antisemitischen Bauernpartei, die Einheit von neuer Staatsmacht und alten gesellschaftlichen Kräften besiegelt. So wurde aus Ungarn ein wundersames Land, in dem der Faschismus fast ohne Faschisten geherrscht hatte. Und in dem als Opfer nicht etwa die Zehntausenden ermordeter Juden, sondern die Klassen der Arbeiter und Bauern galten, von denen sich Zehntausende an Plünderung, Vertreibung, Mord beteiligt hatten.
Béla Zsolt, ein Gezeichneter, der durch Gefängnis und Getto gegangen war, wollte 1945 gerade diese staatstragende Lüge, deren Folgen Ungarn noch heute beschäftigen, kenntlich machen. Zu diesem Zweck gründete er die Zeitschrift "Haladas" (Fortschritt), schrieb Artikelserien - und vor allem den grandiosen, erschütternden, so lange totgeschwiegenen Bericht, der jetzt endlich auch auf Deutsch zu lesen ist: "Neun Koffer". In der Zwischenkriegszeit einer der bekanntesten ungarischen Publizisten, hatte sich Zsolt viele Feinde geschaffen. Ihnen war er als Asphaltliterat verhasst, dessen Produktivität und Sprachgewalt beängstigend waren und dessen schneidender Witz eine Gesellschaft bloßstellte, die sich mit Mythen aus Blut und Erz wappnete.
Als Ungarn an die Seite des Nationalsozialismus trat, bot sich für manchen die Gelegenheit, Rache an dem unbotmäßigen, dem gefürchteten Publizisten zu nehmen. Zsolt zeigt in "Neun Koffer", dass die faschistische Verfolgung keineswegs als selbsttätige Maschine funktionierte, sondern von Individuen, von zahllosen Ungarn betrieben wurde, die gerne auch eine Extraschicht im Foltern einlegten. Etliche seiner Folterer hat er gekannt, andere haben diesen berühmten Publizisten schon lange aus der Ferne gehasst und sich gesehnt, ihn einmal in ihre Gewalt zu bekommen. Der Faschismus, wie er ihn erlitt, war auch ein Exzess an privat motivierter Gewalt, eine Gelegenheit für Biedermänner, sich einmal mit gutem Gewissen dem Blutrausch hingeben zu können.
Zsolt musste durch alle Stationen der Verfolgung gehen: 1941 wird er zur Zwangsarbeit in die Ukraine verschickt, später von dort ins berüchtigte Gefängnis am Margaretenring in Budapest verlegt. Als er freikommt, geht er ins ostungarische Großwardein, um sich im Haus der Schwiegereltern von der Entkräftung zu erholen. Doch drei Tage nach seiner Ankunft wird die Stadt von deutschen Truppen besetzt, die die 20 000 Juden ins Getto pferchen. Die abenteuerliche Aktion des Journalisten Reszö Kasztner, der der SS gezählte 1648 Juden abkaufte, bringt Zsolt und seine Frau Ende 1944 in die Schweiz.
"Neun Koffer", im Jahre 1946 verfasst und in Ungarn erst 1980 in Buchform erschienen, geht diese Stationen nach und ist als Leidensbericht eines Überlebenden auch im Rahmen dessen, was mittlerweile "Holocaust-Literatur" genannt wird, ein einzigartiges Werk. "Da liege ich nun auf der Matratze, mitten in der Synagoge vor der Bundeslade." So beginnt das Buch, das die Angst und die Agonie in der als Spital, Leichenhaus und Wartesaal verwendeten Synagoge von Großwardein heraufbeschwört. Dicht aneinander gedrängt, liegen dort die Sterbenden, die bereits Toten und die auf ihre Deportation Wartenden nebeneinander, und Zsolt registriert mit ungläubigem Staunen, was hier aus Menschen wird. Keiner von ihnen ist "als Märtyrer irgendeiner Idee" hierhergekommen, was sie eint, ist schlicht der rassistische Hass derer, die jetzt das Sagen haben. Sonst verbindet die Getto-Bewohner, die Gefangenen der Synagoge nichts. Schaudernd wird Zsolt bewusst, dass es jenen, die gleichermaßen zum Opfer auserkoren sind, an jedweder Solidarität mangelt. In unvergesslichen Episoden beschreibt er minuziös, wie die Kranken auf den Tod des Schwerkranken warten, damit sie wieder etwas mehr Platz bekommen; wie die Gesunden, selbst im Wartesaal des Todes noch voller Illusionen und Vorurteile, ihre Standesdünkel pflegen; wie die Angehörigen der jüdischen Oberschicht, die Bankiers, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, vereinbaren, nicht in die gleichen Waggons wie der Plebs zu steigen - als gelte es, "eine Gesellschaftsreise in die Gaskammern" anzutreten. Und er erzählt in bizarren Geschichten von der lähmenden Angst, die selbst die Geflüchteten nach ein paar hundert Metern wieder umdrehen und in das Getto wie in ein behütetes Versteck zurückkehren lässt.
Die Grausamkeit, von der er lakonisch, bisweilen mit auflachender Bitterkeit kündet, macht die Lektüre passagenweise geradezu unerträglich. Mitten im Schrecken entdeckt Zsolt immer wieder die abstrusen, nichtigen Zufälle, die sein eigenes Schicksal mitentschieden haben. Das Getto lehrt nicht die Moral, sondern den "Abschied von Ideen, Lehren, Zielen". Von neun Koffern hatte seine Frau aus reichem Hause sich nie zu trennen vermocht, stets wollte sie, deren Besitzdenken in schlechten Zeiten zu einem bloßen "Kult des Gegenstandes" erstarrte, noch dieses oder jenes pretiöse Stück aus dem Hausrat bergen. Die neun randvoll gepackten Koffer verhindern auf groteske Weise, dass das Ehepaar sich retten kann - selbst dann, als die Rettung schon fast gelungen ist und jedem klar sein musste, dass es um mehr als Koffer ging.
Am Ende sind die neun so sorgsam durch den ganzen Krieg gehüteten und einmal bis Paris und von dort wieder zurück nach Ungarn gebrachten Koffer in einem Berg von 35 000 Koffern begraben, mit denen die Großwardeiner Juden zu ihrem Abtransport ins Konzentrationslager erschienen. Zsolt benennt das mit jener Hellsicht, die nach der Verzweiflung kommt und weiß, dass aus Verbrechen nichts zu lernen, weder Erkenntnis noch Moral zu gewinnen ist. Béla Zsolt starb 1949 an Auszehrung, da hatte er den Kampf gegen die allgemeine und gleiche Gedächtnislosigkeit, die die Kommunisten dem ungarischen Volk versprachen, schon verloren.
KARL-MARKUS GAUSS
Béla Zsolt: "Neun Koffer". Mit einem Nachwort von Ferenc Köszeg. Aus dem Ungarischen übersetzt von Angelika Mate. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1999. 392 S., geb., 48,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als "Flaschenpost" sei dieses unvollendete Buch des ungarisch-jüdischen Journalisten und Schriftstellers auf uns gekommen, schreibt Susanne Simor. Betroffen macht sie vor allem, dass in dieser Geschichte von Flucht, Deportation und Tod die Familie, die im Alltag lebenserhaltend sei, in der Extremsituation des Krieges und des Holocausts zum Verhängnis werde, weil man nicht voneinander lassen will, obwohl man allenfalls als Einzelner Überlebenschancen hätte. Simor verweist darauf, dass das Buch des mit 54 Jahren nach dem Krieg verstorbenen Autors im kommunistischen Ungarn erst 1980 erscheinen durfte. Die deutsche Neuauflage, so berichtet sie, sei bei ungarischen Nationalisten auf Protest gestoßen - denn die Kollaboration der Ungarn scheint darin eine wichtige und deprimierende Rolle zu spielen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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