Was haben Montaignes Kulturkritik und die amerikanische Demokratie, Freuds Totemismus-Theorie und Lévi-Strauss' Strukturalismus, Brücke-Maler und Surrealisten, Hippies und die Sexuelle Revolution miteinander gemein? Karl-Heinz Kohl zeigt am Beispiel von neun Stämmen, wie diese und viele andere Theorien, avantgardistische Strömungen, Emanzipations- und Protestbewegungen vom faszinierten Blick auf indigene Völker geprägt wurden. Er erklärt, wie die Indigenen sich die Faszination des Westens selbst zunutze machten und wie eng verflochten die scheinbar so gegensätzlichen Welten in der Moderne sind. Sein anschaulich und fesselnd geschriebenes Buch ist ein großer Wurf, der die Debatten über "kulturelle Aneignung" neu beleben wird.
Seit den ersten großen Entdeckungsfahrten an der Schwelle zur Neuzeit haben Berichte von fremden Ländern und Menschen die Europäer in ihren Bann geschlagen. Ihre Nacktheit hat europäische Sitten in Frage gestellt. Ihre Gesellschaftsordnungen haben Protestbewegungen beflügelt. Ihre Kunst hat die europäischen Avantgarden inspiriert. Und ethnographische Beschreibungen haben - von Friedrich Engels' materialistischer Geschichtsauffassung bis zum postkolonialen «Anthropophagismus» - zu einer Flut an Theorien geführt, die teils bis heute unser Bild vom Menschen prägen. Karl-Heinz Kohl erklärt, warum der Westen vor allem in neun Stämmen sein Alter Ego gefunden hat. Er geht den Berichten über sie nach, erzählt anschaulich, wie sie über 200 Jahre lang die europäische Kultur auf den Kopf gestellt haben, und zeigt an vielen überraschenden Beispielen, wie sich auch die indigenen Kulturen in diesem Prozess verändert haben.
"Zugleich ultramodern und ultraarchaisch, auf unheimliche Weise vertraut und rätselhaft." William B. Seabrook über die Kunst der Dogon, 1931
Avantgarden, Subkulturen, Emanzipationsbewegungen: Wie die Welt der Indigenen die Moderne geprägt hat Von Pablo Picasso bis Ernst Ludwig Kirchner: Die Kultur der Indigenen und die Kunst der Moderne Von Sigmund Freud bis Bruce Chatwin: Neun Stämme, die das westliche Denken verändert haben Ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über kulturelle Aneignung
Indigene Gruppen unterlagen kolonialer und siedlerischer Gewalt. Aber sie entfalteten auch ihre Wirkungen auf die im globalen Maßstab erfolgreichen Gesellschaften. Der Ethnologe Karl-Heinz Kohl zeichnet diesen Einfluss an neun hervorstechenden Beispielen nach.
Von Helmut Mayer
Es ist eine wunderbare Verfassung in all ihrer Kindlichkeit und Einfachheit, diese Gentilverfassung. Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse, geht Alles seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesammtheit derer, die es angeht, die Gens oder der Stamm. (...) Arme und Bedürftige kann es nicht geben - die kommunistische Haushaltung und die Gens kennen ihre Verpflichtungen gegen Alte, Kranke und im Kriege Gelähmte. Alle sind gleich und frei - auch die Weiber. (...) Und welche Männer und Weiber eine solche Gesellschaft erzeugt, beweist die Bewundrung aller Weißen, die mit unverdorbnen Indianern zusammenkamen."
So schwärmt Friedrich Engels in "Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats" (1884) von der vorstaatlichen Gesellschaftsverfassung der nordamerikanischen Irokesen. Worauf er sich dabei stützt, nennt schon der Untertitel des Buchs, nämlich "Lewis H. Morgan's Forschungen". Von dem amerikanischen Rechtsanwalt, Bewunderer und Kenner der Lebensweise der Irokesen, bezieht er nicht nur die Einzelheiten seiner Darstellung. Mit ihm teilt er auch das Verfahren, die Indigenen im Lichte antiker Quellen zu betrachten. Zwar nicht mehr gestützt auf ältere Spekulationen über eine direkte Abstammung von den antiken Völkerschaften, aber mit der Intention, sie auch als erhellendes Zeugnis für deren urdemokratische Verhältnisse zu nehmen. So ermöglichen bei Engels die in Schutzgebieten ihre Traditionen pflegenden "barbarischen" Indigenen - das Evolutionsparadigma ist noch der selbstverständliche Hintergrund - einen Blick in die Vergangenheit vor dem Staat, aus der Winke für eine Zukunft nach dem Staat gewonnen werden.
Nicht verwunderlich also, dass die Irokesen einer der "Neun Stämme" sind, an denen Karl-Heinz Kohl das "Erbe der Indigenen" darstellt, ihre Wirkung auf jene westlichen, im globalen Maßstab erfolgreichen Gesellschaften, denen sie zwar ihren Niedergang durch koloniale oder siedlerische Gewalt verdanken, die aber von ihnen auch nicht unberührt blieben. Es sind Geschichten der Rezeption und der Wechselwirkung, die der emeritierte Frankfurter Ethnologe in diesen neun Kapiteln versammelt, die für jede der ausgewählten indigenen Gesellschaften von ihren Erstkontakten mit den "zivilisierten" Gewinnern bis zur Gegenwart mit ihren Chancen und Problemen der Bewahrung ihrer Traditionen reichen.
Im Fall der Irokesen war es mit Engels' Anverwandlung auf Morgans Spuren längst nicht getan. Amerikanische Frauenrechtlerinnen brauchten keinen Umweg über die Antike - und nicht einmal über den von Engels ebenso herangezogenen Bachofen, der seinerseits Morgan aufgriff, wenn auch erst nach dem Erscheinen seines "Mutterrechts" -, um an die dominierende Stellung der Frauen in der matrilinear organisierten Gesellschaft der Irokesen anzuknüpfen. Und unstrittig ist das Interesse einiger amerikanischer Gründerväter, allen voran Thomas Jefferson, an ihrer auf Konsens basierenden Entscheidungsfindung in repräsentativen Versammlungen - selbst wenn der Streit kaum enden wird, wie hoch ihr Einfluss auf die föderale Verfassung der USA konkret zu veranschlagen ist.
Andere der indigenen "Stämme" kommen nicht zuletzt ins Spiel, weil sie von hoher Bedeutung für ethnologische Beschreibung und Theoriebildung waren, samt assoziierter Wirkung auf avantgardistische Kunst und über andere Popularisierungen auch auf breitere gesellschaftliche Segmente. Ohne die Dogon im heutigen Mali lässt sich die Geschichte der französischen Ethnologie nicht schreiben, ohne die zentralaustralischen Aranda nicht auf die Debatten über Totemismus eingehen, an den sich über Freuds "Totem und Tabu" auch psychoanalytisches Garn spann; das die Zivilisierten von früh an überaus bewegende Thema des Kannibalismus führt unweigerlich, zumindest vor der Verlagerung der entsprechenden Aufmerksamkeit nach Afrika, auf die brasilianischen Tupinambá; das Theoretisieren über eine prälogische "primitive Mentalität", welche einige Künstler gar nicht unattraktiv fanden, kommt nicht an Nachrichten über die Bororo des brasilianischen Sertao herum; der in der Ethnologie Epoche machende, aber auch schnell über sie hinaus aufgegriffene Potlatch, der bis zum Ruin gehende Wettstreit von Gaben und Gegengaben, ist der Beitrag der Kwakiutl der amerikanischen Nordwestküste; die Hopi in Arizona bieten die wohl früheste entschiedene Touristifizierung, Aby Warburg eingeschlossen; während sich an den deutschen Kurzzeitkolonien von Palau (Südsee) und West-Samoa (Polynesien) grundsätzliche Möglichkeiten des Exotischen zeigen lassen.
Es sind oft dichte Geflechte von Übernahmen, Abwandlungen und Gegenreden, von anspruchsvollen Theorien genauso wie populärkulturellen Adaptionen, die Karl-Heinz Kohl dabei nachzuzeichnen hat. Er tut es bündig, mit beeindruckender Klarheit und dem Willen, sich in ihnen nicht zu verlieren, so interessante Wege auch zur noch näheren Betrachtung locken. In Zeiten postkolonialer Vereinfachungen geht es dabei nicht zuletzt darum, die Indigenen nicht bloß als die Unterlegenen auftreten zu lassen, die sie nach den realen Machtverhältnissen natürlich waren und heute oft noch sind, sondern auch begabt mit einer gewissen Wirkungsmacht. Das wird vor allem klar, wenn beschrieben wird, wie indigene Traditionen festgehalten und in der Moderne fortgeschrieben werden, vonseiten der Indigenen als nunmehr ermöglichte Wiederaneignung, von Interessenten in den Mehrheitsgesellschaften zudem als Versuche, in ihnen Alternativen zu (materialistischen, kapitalistischen, rationalistischen und so fort) Weltverhältnissen zu finden, die als fatal erachtet werden.
Dieses gesellschaftskritische Movens ist in der französischen Ethnologie besonders deutlich, aber auch auf anderen nationalen Terrains zu finden. Wenn Kohl etwa Marcel Mauss' und Georges Batailles Interessen am Potlatch vorstellt, kommt als Kontrast Ruth Benedicts Versuch hinzu, auf den Spuren ihres Lehrers Franz Boas kulturelle Grundkonstellationen zu beschreiben, für die auf eher abschreckende Weise auch die Kwakiutl mit ihrem Gabenwettstreit herhalten mussten.
Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie verschieden sich je nach Interessenlage und vorgefassten theoretischen Intentionen die ethnographischen Quellen verwenden ließen (zumal wenn man sie nicht selbst erschlossen hatte). Und es führt weiter zu den großen Debatten, wie viel die Feldforscher ihren Informanten bewusst oder unbewusst soufflierten: Margaret Mead etwa für ihre die Öffentlichkeit elektrisierenden Mitteilungen zur ausgelebten Sexualität junger Samoanerinnen, oder Marcel Griaule, Doyen der französischen Erforschung der Dogon, für seine Darstellung von deren kosmogonischen Vorstellungen.
Offensichtlich bekamen Ethnologen oft zu hören, was zu hören sie zu sehr wünschten (oder nahmen auch, wie Géza Róheim auf psychoanalytischer Mission bei den Aranda, die Sache selbst in die Hand und entdeckten überall, worauf sie aus waren). Auf der anderen Seite kann die Rückkehr zu den Quellen, denen indigene Gruppen sich verschreiben, eine nicht minder wackelige Angelegenheit sein. Auch das zeigt Kohl an einigen Beispielen. Der panindianische Bezug auf "Mother Earth" etwa klingt nach alter Weisheit, dürfte aber ein Synkretismus des neunzehnten Jahrhunderts sein. Was gar nicht groß verwundern sollte, denn mit Kontaminierungen ist zu rechnen. New-Age-Anrufungen indigener Weisheit leben manchmal davon, ohne es sich einzugestehen. Sie machen denselben Fehler wie die vorkritische Ethnographie mit ihren "Naturkindern" und "Primitiven", bloß mit anderem Vorzeichen.
Es ist viel zu entdecken in Karl-Heinz Kohls Buch. Vieles auch, das für die Einschätzung aufgeheizter aktueller Debatten - Stichwort Appropriation - zu wissen nützlich ist und überdies zur Orientierung dienen kann angesichts eines Wiederauflebens von Gesellschaftskritik, die sich ethnographischer Quellen versichert.
Karl-Heinz Kohl: "Neun Stämme". Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne.
C. H. Beck Verlag, München 2024. 312 S., geb., 32,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung, Jörg Häntzschel
"Kulturelle Aneignung ist ein Totschlagargument der Identitätspolitik. Ethnologe Kohl räumt es ab und stellt Kulturen vor, die man kennen muss."
Literarische WELT, Marcus Woeller
"Es ist viel zu entdecken in Karl-Heinz Kohls Buch. Vieles auch, das für die Einschätzung aufgeheizter aktueller Debatten - Stichwort Appropriation - zu wissen nützlich ist und überdies zur Orientierung dienen kann."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Helmut Mayer
"Ein Vorzug seines facettenreichen und anschaulichen Buchs ist die Einbeziehung der Widerstandsgeschichte der neun geschilderten Stammesgesellschaften vom Erstkontakt bis in die unmittelbare Gegenwart."
Neue Zürcher Zeitung, Thomas Wagner
"Mit seinem Buch legt Karl-Heinz Kohl die Grundsteine für eine neue Sicht auf die Moderne, die sich ganz wesentlich dem Prinzip der kulturellen Aneignung verdankt ... Man muss sein Buch auch zwischen den Zeilen lesen, um seine Sprengkraft zu begreifen."
Cicero, Johann Michael Möller
"Fesselnd."
Die Presse, Anne-Catherine Simon
"Das Vorhaben dieses Buches - das ist gelungen!"
SWR2 Kultur, Clemens Klünemann
"Ein so souveränes Buch schreibt man bestenfalls am Ende eines intensiven Forscherlebens. Und auch nur dann, wenn man weit über die Ränder des Fachs hinausgeschaut hat ... einen fundamentalen Lehrgang zu geistigen Grundlagen der Moderne."
FREITAG, Erhard Schütz
"Hochinteressant!"
art - Das Kunstmagazin, Barbara Hein