Alle machen Hirnforschung. Kaum eine Wissenschaftsdisziplin kann sich wehren, mit dem Vorsatz »Neuro-« zwangsmodernisiert und mit der Aura vermeintlicher experimenteller Beweisbarkeit veredelt zu werden. Die Kinder der Neuroinflation heißen Neurotheologie, Neuroökonomie, Neurorecht oder Neuroästhetik. Der gegenwärtige Neurohype führt zu einer Durchdringung unserer Lebenswelt mit Erklärungsmodellen aus der Hirnforschung. Bin ich mein Gehirn? Nur ein Bioautomat?
Felix Haslers scharfsinniger Essay ist eine Streitschrift gegen den grassierenden biologischen Reduktionismus und die überzogene Interpretation neurowissenschaftlicher Daten: ein Plädoyer für Neuroskepsis statt Neurospekulation.
Felix Haslers scharfsinniger Essay ist eine Streitschrift gegen den grassierenden biologischen Reduktionismus und die überzogene Interpretation neurowissenschaftlicher Daten: ein Plädoyer für Neuroskepsis statt Neurospekulation.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2012Viel Neuro, überall
Die Dekade des Gehirns, die George Bush senior Anfang der neunziger Jahre ausrief, hat längst sein eigenes Metier erreicht. Im amerikanischen Wahlkampf blühten die neurowissenschaftlich gestützten Analysen, die Romney Spitzenwerte in der Gehirnaktivität seiner Zuhörer und Obama ausbaufähige Reaktionen in der Amygdala attestieren. Gehirnregionen wurden wie Wahlkreise abgesteckt. Liberale haben überraschend ein größeres Gefühlszentrum und Konservative ein größeres Angstzentrum im Gehirn. Blühender Unsinn, den immerhin die "New York Times" verbreitet. Gegen die irreführende modulare Denkweise und andere Verkürzungen und falsche Versprechen auf dem Feld der Neurowissenschaften tritt Felix Hasler an. Sein Buch ist ein Feldzug durch alle Bindestrich-Disziplinen von der Neuro-Theologie über die Neuro-Kunstgeschichte bis hinein in die konkreten Anwendungsfelder wie dem Neuro-Marketing. Hasler prüft nicht nur die überzogenen Ansprüche, sondern auch die Übertragungskanäle der Neuro-Mystik, den medialen Import positivistischer Denkweisen, das Aufleben alter Geschlechterstereotypen unter neurowissenschaftlichem Etikett, den akademischen Missbrauch des Neuro-Additivs, ohne das an keine Forschungsgelder mehr zu kommen ist, und die Verdinglichung des Patienten in der Neuropsychiatrie. Der Weltdeutungsanspruch der Hirnforschung hat seinen Zenit längst überschritten. Auch Neuromythologie ist inzwischen ein gut etablierter Begriff. Hasler fällt seinem angestrengten Neuigkeitston selbst in den Rücken, wenn er eine neue Generation bescheidener Forscher sieht, die nicht mehr das Wesen der Dinge, sondern die Funktionsweisen hinter den Phänomenen erklären will. Zu begrüßen ist sein engagiertes Plädoyer trotzdem, die fragwürdigen Anwendungen neurowissenschaftlichen Halbwissens blühen. Der Neuro-Nasdaq, der eigene Finanzindex der Gehirnökonomie, ist weiter auf Höhenflug. (Felix Hasler: "Neuromythologie". Transcript Verlag Bielefeld 2012, kart., 264 S., 22,80 [Euro] .) thom
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Dekade des Gehirns, die George Bush senior Anfang der neunziger Jahre ausrief, hat längst sein eigenes Metier erreicht. Im amerikanischen Wahlkampf blühten die neurowissenschaftlich gestützten Analysen, die Romney Spitzenwerte in der Gehirnaktivität seiner Zuhörer und Obama ausbaufähige Reaktionen in der Amygdala attestieren. Gehirnregionen wurden wie Wahlkreise abgesteckt. Liberale haben überraschend ein größeres Gefühlszentrum und Konservative ein größeres Angstzentrum im Gehirn. Blühender Unsinn, den immerhin die "New York Times" verbreitet. Gegen die irreführende modulare Denkweise und andere Verkürzungen und falsche Versprechen auf dem Feld der Neurowissenschaften tritt Felix Hasler an. Sein Buch ist ein Feldzug durch alle Bindestrich-Disziplinen von der Neuro-Theologie über die Neuro-Kunstgeschichte bis hinein in die konkreten Anwendungsfelder wie dem Neuro-Marketing. Hasler prüft nicht nur die überzogenen Ansprüche, sondern auch die Übertragungskanäle der Neuro-Mystik, den medialen Import positivistischer Denkweisen, das Aufleben alter Geschlechterstereotypen unter neurowissenschaftlichem Etikett, den akademischen Missbrauch des Neuro-Additivs, ohne das an keine Forschungsgelder mehr zu kommen ist, und die Verdinglichung des Patienten in der Neuropsychiatrie. Der Weltdeutungsanspruch der Hirnforschung hat seinen Zenit längst überschritten. Auch Neuromythologie ist inzwischen ein gut etablierter Begriff. Hasler fällt seinem angestrengten Neuigkeitston selbst in den Rücken, wenn er eine neue Generation bescheidener Forscher sieht, die nicht mehr das Wesen der Dinge, sondern die Funktionsweisen hinter den Phänomenen erklären will. Zu begrüßen ist sein engagiertes Plädoyer trotzdem, die fragwürdigen Anwendungen neurowissenschaftlichen Halbwissens blühen. Der Neuro-Nasdaq, der eigene Finanzindex der Gehirnökonomie, ist weiter auf Höhenflug. (Felix Hasler: "Neuromythologie". Transcript Verlag Bielefeld 2012, kart., 264 S., 22,80 [Euro] .) thom
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung nimmt Felix Ekardt das Buch des Neurowissenschaftlers Felix Hasler auf, der ihm mit seiner Generalattacke auf die Hirnforschung aus der Seele zu sprechen scheint. Hasler widerspricht den durch die neuen bildgebenden Verfahren auf den ersten Blick so einleuchtenden Behauptungen der Hirnforschung, wonach sich bestimmte Verhaltensweisen in bestimmten Arealen des Gehirns lokaliseren lassen. Dafür sei das Gehirn viel zu komplex aufgebaut, lernt der Rezensent. Der Autor macht für den Publicity-trächtigen Durchbruch der Neurowissenschaften vor allem die lukrativen Forschungsaufträge der Pharmafirmen verantwortlich, die sich neue Absatzmärkte für ihre Medikamente versprächen. Geradezu "faschistoide Tendenzen" attestiert der Rezensent der neuen Konjunktur des verbrecherischen Charakters, seit Wissenschaftler sogar den "Antrieb zu Straftaten" im Gehirn geortet haben wollen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Man kann sich eigentlich nur wünschen, dass möglichst viele - vor allen Dingen Studenten - sich dieses kritische (positiv-konstruktive) Buch als Lektüre einmal vornehmen.«
Eberhard Goldammer, www.amazon.de, 15.01.2013 20130115
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