"Ein kleines Mädchen, das plötzlich groß geworden ist. Genau das wird sie ihrer Mama sagen. Wispern. Dass es einfach passiert ist. Dass es einfach geworden ist." Acht Geschichten vom Suchen und Finden, von Wünschen und Sehnsüchten, von Einsamkeit, Liebe und Hoffnung ... Ein Junge steht allein auf einem Bahnsteig. Was ihm von seiner Mutter geblieben ist, passt in eine Plastiktüte. Ein Mädchen sitzt in einer Arztpraxis. Sie spürt noch nichts in ihrem Bauch, aber es ist da. Sie ist jetzt nicht mehr Mamas kleines Mädchen. Ein Junge besucht seinen Vater, der ein neues Haus, eine neue Frau und neue Kinder hat. Ein neues Leben, in das er nicht so recht hineinpasst. Ingrid Olsson erzählt in acht kurzen Geschichten von den Ängsten und Wünschen acht junger Menschen. Acht junge Menschen, die keine Kinder mehr sind und nun erwachsen werden müssen oder wollen. Acht junge Menschen, die trauern, sich sehnen, sich fürchten. Die lieben und hoffen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.05.2017Mit spitzer Nadel, mitten ins Herz
Acht literarische Skizzen, die mit großer poetischer Freiheit jugendliche Schicksale erzählen
Ein Junge stampft durch dichten Regen, auf dem Weg zu seinem Vater und dessen neuer Familie. Ein Mädchen hockt in der Dunkelheit im Treppenhaus, alleine mit sich und seinen Gedanken. Ein anderer Junge schultert seinen viel zu schweren Rucksack und verabschiedet sich von seinem Vater, angeblich nur für ein Skiwochenende. Doch er will und wird ihn verlassen, diesen großen Vater mit seinen „großen Füßen, die ständig in seinem Leben herumtrampeln“.
Von Abschied und Angst, von Erinnerungen und Einsamkeit, von Kälte und Krankheit, aber auch von dem manchmal so unwahrscheinlich aufglimmenden Fünkchen Hoffnung handeln die acht Geschichten, die im Erzählband „Neuschnee“ der schwedischen Autorin Ingrid Olsson versammelt sind.
Eine schmerzhafte, düstere, oft bittere Lektüre für junge Erwachsene, die eine gewisse Reife und zumindest einen rudimentären Sinn für poetische Feinheit erfordert. Denn eigentlich sind die mit „Das Halstuch“ oder „Der Rucksack“ griffig betitelten Geschichten keine Erzählungen im prosaischen Sinne, sondern kunstvoll knappe Miniaturen, beinahe Gedichte. Ihre Worte werden vom Weiß der Seiten umhüllt wie der titelgebende Neuschnee, so einsam stehen die Zeilen im Buch.
Wortlosigkeit prägt auch die Protagonisten, die ihren Schmerz mit sich selbst ausmachen und ihre Verluste selbst aushalten müssen, mit niemandem teilen können. Gebrannte Kinder sind sie alle, die Väter geschieden, die Mütter gestorben, das Familienglück verblichen. Präzise sticht die Autorin mit spitzer Nadel mitten ins Herz. Doch angedeutet wird auch die Möglichkeit eines Neuanfangs, einer Versöhnung. Sei es durch das Symbol des Weihnachtssterns, der nicht nur in einer Geschichte am Fenster leuchtet, sondern auch durch das behutsame Vorwärtstasten der Sprache selbst. Eine Nadel kann eben nicht nur beim Stechen wehtun, sondern vor allem Zerrissenes wieder flicken. (ab
14 Jahre und junge Erwachsene)
TOBIAS SEDLMAIER
Ingrid Olsson: Neuschnee. Erzählungen. Aus dem Schwedischen von Cordula Setsman. Mixtvision Verlag, München 2016. 112 Seiten, 12,90 Euro.
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Acht literarische Skizzen, die mit großer poetischer Freiheit jugendliche Schicksale erzählen
Ein Junge stampft durch dichten Regen, auf dem Weg zu seinem Vater und dessen neuer Familie. Ein Mädchen hockt in der Dunkelheit im Treppenhaus, alleine mit sich und seinen Gedanken. Ein anderer Junge schultert seinen viel zu schweren Rucksack und verabschiedet sich von seinem Vater, angeblich nur für ein Skiwochenende. Doch er will und wird ihn verlassen, diesen großen Vater mit seinen „großen Füßen, die ständig in seinem Leben herumtrampeln“.
Von Abschied und Angst, von Erinnerungen und Einsamkeit, von Kälte und Krankheit, aber auch von dem manchmal so unwahrscheinlich aufglimmenden Fünkchen Hoffnung handeln die acht Geschichten, die im Erzählband „Neuschnee“ der schwedischen Autorin Ingrid Olsson versammelt sind.
Eine schmerzhafte, düstere, oft bittere Lektüre für junge Erwachsene, die eine gewisse Reife und zumindest einen rudimentären Sinn für poetische Feinheit erfordert. Denn eigentlich sind die mit „Das Halstuch“ oder „Der Rucksack“ griffig betitelten Geschichten keine Erzählungen im prosaischen Sinne, sondern kunstvoll knappe Miniaturen, beinahe Gedichte. Ihre Worte werden vom Weiß der Seiten umhüllt wie der titelgebende Neuschnee, so einsam stehen die Zeilen im Buch.
Wortlosigkeit prägt auch die Protagonisten, die ihren Schmerz mit sich selbst ausmachen und ihre Verluste selbst aushalten müssen, mit niemandem teilen können. Gebrannte Kinder sind sie alle, die Väter geschieden, die Mütter gestorben, das Familienglück verblichen. Präzise sticht die Autorin mit spitzer Nadel mitten ins Herz. Doch angedeutet wird auch die Möglichkeit eines Neuanfangs, einer Versöhnung. Sei es durch das Symbol des Weihnachtssterns, der nicht nur in einer Geschichte am Fenster leuchtet, sondern auch durch das behutsame Vorwärtstasten der Sprache selbst. Eine Nadel kann eben nicht nur beim Stechen wehtun, sondern vor allem Zerrissenes wieder flicken. (ab
14 Jahre und junge Erwachsene)
TOBIAS SEDLMAIER
Ingrid Olsson: Neuschnee. Erzählungen. Aus dem Schwedischen von Cordula Setsman. Mixtvision Verlag, München 2016. 112 Seiten, 12,90 Euro.
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