Immer mehr Chinesen zieht es in den Ferien nach Europa. Christoph Rehage hat sich einer dieser Reisegruppen angeschlossen, um herauszufinden, was die Asiaten wirklich über uns und unsere Heimat denken. Der Vorteil: Er spricht fließend Mandarin und kann so die Erfahrungen der Gruppe intensiv miterleben. Auf dem Programm der dreizehntägigen Erkundungstour stehen kulturelle Pflichtstationen wie Schloss Neuschwanstein, Michelangelos David in Florenz und der Eiffelturm in Paris. Aber auch heimliche Lieblingsziele der Chinesen: Einkaufszentren und Luxusboutiquen. In seinem klugen und zugleich amüsanten Buch erklärt Christoph Rehage nicht nur die Faszination von Kuckucksuhren und deutschem Babymilchpulver, sondern ermöglicht interessante Einblicke in eine uns fremde Kultur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2016NEUE REISEBÜCHER
Für den Tisch Was für ein Himmelfahrtskommando. Und was für ein Hochmut! Haarsträubend lesen sich die Details der Expedition von Salomon Andrée und seiner Mitstreiter aus Stockholm, die sich 1897 per Wasserstoffballon auf den Weg zum Nordpol machten. Der Expeditionsleiter war zwar Ingenieur, aber als reiner Schreibtischtäter im Patentamt. Mit seinem Ballon wurde nicht ein Probeflug unternommen. Er ist leck, von Anfang an, und Andrée weiß es. Da scheint der Wille, selbst die Eitelkeit größer als der eigene Glaube. Natürlich stürzt die Truppe ab, ihre Überreste werden Jahre später in Spitzbergen gefunden. Jedes Kind in Schweden kennt die Expedition, ihre Teilnehmer werden noch heute verehrt. Hat sich denn niemand die Mühe gemacht, ihre Geschichte so akribisch aufzubereiten, wie es Bea Uusma getan hat? An Besessenheit für ihr Projekt steht sie Andrée in nichts nach. Um das Rätsel der letzten Stunden im Leben der Männer zu lösen (man fand genug Nahrung, warme Kleidung, Zelte und Waffen bei ihnen), studierte die Autorin Medizin, heuerte selbst bei Arktisexpeditionen an, forschte in Archiven und Museen. In ihrem Buch vereint sie Tagebucheintragungen Andrées mit Obduktionsberichten, Theorien und eigenen Überlegungen zum Fall, die in beklemmender Dichte in ihrer Vision der Todesstunde münden. Zum Frösteln, in Schweden preisgekrönt als bestes Sachbuch des Jahres.
slt
Bea Uusma: "Die Expedition. Wie ich das Rätsel einer Polartragödie löste. Eine Liebesgeschichte". btb-Verlag, 320 Seiten, 29,99 Euro
Für die Tasche Touristengruppen führen ein seltsames Eigenleben. Besonders die aus Fernost. Nachdem die japanischen Gäste das Heidelberger Schloss ja schon lange wundknipsen, fallen seit einiger Zeit auch chinesische Reisegruppen auf, die nicht minder enthusiastisch wirken und doch unter sich bleiben. Die Gäste, die Europa besonders lieben, lernt man nie kennen. Insofern ist das Konzept des Buches "Neuschweinstein" nichts weniger als genial: Der Autor Christoph Rehage hat sich einfach in eine Reisegruppe aus Peking eingeschmuggelt und dann unseren Kontinent mit den Augen des Besuchers gesehen. Rehage spricht Mandarin, hofft also, kaum aufzufallen. Und dennoch dauert es 30 Seiten, bis er endlich seine Gruppe findet - Seiten, auf denen man schon viel über Chinas Kultur, nämlich die erstaunliche Korrektheit der Bürokraten und einen sehr förmlichen Ehrbegriff gelernt hat. Die Gruppe, die den Deutschen aufnimmt, ist nicht die erste, die er anspricht. Doch dann beginnt endlich eine Reise vom Isartor nach Imola, Florenz und Frankreich, eine dieser Rundfahrten mit weit über 1000 Kilometern Strecke. Die Chinesen schließen den Mann mit der großen Nase ins Herz, und das Buch wird ein Freundschaftsreiseroman im Reportagegewand. Sie üben zusammen die Aussprache von "Neuschwanstein", man erfährt, warum Chinesen das Naseputzen hassen, man ist dabei, wie der Deutsche ihnen beibringt, im Imbiss "mit alles und scharf" zu bestellen. Man fährt nach Venedig, Pisa und Paris mit der Gruppe, und am Ende auch ins Einkaufszentrum, weil es da Schallzahnbürsten gibt. Am Ende gefällt dem Protagonisten und Autor die Reise so gut, dass er nach einer kleinen Pause beschließt, alles in China noch einmal zu wiederholen: Er fliegt hin, um sich diesmal ganz regulär als Tourist durch das Land führen zu lassen. Vor allem aber, seine Freunde zu treffen, die aus der Reisegruppe. Nach und nach wandelt sich das Buch, bis es irgendwann keine Reportage mehr ist, sondern ein Roman. Das mag daran liegen, dass immer mehr von den Gefühlen der Figuren die Rede ist und dass der Autor versucht, in sich und die Chinesen hineinzusehen. So wird dieser Reisebericht auch eine Sitcom (wegen der wiederkehrenden Figuren) und manchmal auch tragikomisch. Der Deutsche hat etwas Böses, nämlich bloß Berichtendes über den brutalen Straßenverkehr Chinas gepostet. Nun ist Hou beleidigt. Sie können sich einfach nicht einigen. Also gehen sie still belgisches Bier trinken - wie sie es in Europa gelernt haben.
tlin
Christoph Rehage: "Neuschweinstein. Mit zwölf Chinesen durch Europa". Malik, 270 Seiten, 15 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für den Tisch Was für ein Himmelfahrtskommando. Und was für ein Hochmut! Haarsträubend lesen sich die Details der Expedition von Salomon Andrée und seiner Mitstreiter aus Stockholm, die sich 1897 per Wasserstoffballon auf den Weg zum Nordpol machten. Der Expeditionsleiter war zwar Ingenieur, aber als reiner Schreibtischtäter im Patentamt. Mit seinem Ballon wurde nicht ein Probeflug unternommen. Er ist leck, von Anfang an, und Andrée weiß es. Da scheint der Wille, selbst die Eitelkeit größer als der eigene Glaube. Natürlich stürzt die Truppe ab, ihre Überreste werden Jahre später in Spitzbergen gefunden. Jedes Kind in Schweden kennt die Expedition, ihre Teilnehmer werden noch heute verehrt. Hat sich denn niemand die Mühe gemacht, ihre Geschichte so akribisch aufzubereiten, wie es Bea Uusma getan hat? An Besessenheit für ihr Projekt steht sie Andrée in nichts nach. Um das Rätsel der letzten Stunden im Leben der Männer zu lösen (man fand genug Nahrung, warme Kleidung, Zelte und Waffen bei ihnen), studierte die Autorin Medizin, heuerte selbst bei Arktisexpeditionen an, forschte in Archiven und Museen. In ihrem Buch vereint sie Tagebucheintragungen Andrées mit Obduktionsberichten, Theorien und eigenen Überlegungen zum Fall, die in beklemmender Dichte in ihrer Vision der Todesstunde münden. Zum Frösteln, in Schweden preisgekrönt als bestes Sachbuch des Jahres.
slt
Bea Uusma: "Die Expedition. Wie ich das Rätsel einer Polartragödie löste. Eine Liebesgeschichte". btb-Verlag, 320 Seiten, 29,99 Euro
Für die Tasche Touristengruppen führen ein seltsames Eigenleben. Besonders die aus Fernost. Nachdem die japanischen Gäste das Heidelberger Schloss ja schon lange wundknipsen, fallen seit einiger Zeit auch chinesische Reisegruppen auf, die nicht minder enthusiastisch wirken und doch unter sich bleiben. Die Gäste, die Europa besonders lieben, lernt man nie kennen. Insofern ist das Konzept des Buches "Neuschweinstein" nichts weniger als genial: Der Autor Christoph Rehage hat sich einfach in eine Reisegruppe aus Peking eingeschmuggelt und dann unseren Kontinent mit den Augen des Besuchers gesehen. Rehage spricht Mandarin, hofft also, kaum aufzufallen. Und dennoch dauert es 30 Seiten, bis er endlich seine Gruppe findet - Seiten, auf denen man schon viel über Chinas Kultur, nämlich die erstaunliche Korrektheit der Bürokraten und einen sehr förmlichen Ehrbegriff gelernt hat. Die Gruppe, die den Deutschen aufnimmt, ist nicht die erste, die er anspricht. Doch dann beginnt endlich eine Reise vom Isartor nach Imola, Florenz und Frankreich, eine dieser Rundfahrten mit weit über 1000 Kilometern Strecke. Die Chinesen schließen den Mann mit der großen Nase ins Herz, und das Buch wird ein Freundschaftsreiseroman im Reportagegewand. Sie üben zusammen die Aussprache von "Neuschwanstein", man erfährt, warum Chinesen das Naseputzen hassen, man ist dabei, wie der Deutsche ihnen beibringt, im Imbiss "mit alles und scharf" zu bestellen. Man fährt nach Venedig, Pisa und Paris mit der Gruppe, und am Ende auch ins Einkaufszentrum, weil es da Schallzahnbürsten gibt. Am Ende gefällt dem Protagonisten und Autor die Reise so gut, dass er nach einer kleinen Pause beschließt, alles in China noch einmal zu wiederholen: Er fliegt hin, um sich diesmal ganz regulär als Tourist durch das Land führen zu lassen. Vor allem aber, seine Freunde zu treffen, die aus der Reisegruppe. Nach und nach wandelt sich das Buch, bis es irgendwann keine Reportage mehr ist, sondern ein Roman. Das mag daran liegen, dass immer mehr von den Gefühlen der Figuren die Rede ist und dass der Autor versucht, in sich und die Chinesen hineinzusehen. So wird dieser Reisebericht auch eine Sitcom (wegen der wiederkehrenden Figuren) und manchmal auch tragikomisch. Der Deutsche hat etwas Böses, nämlich bloß Berichtendes über den brutalen Straßenverkehr Chinas gepostet. Nun ist Hou beleidigt. Sie können sich einfach nicht einigen. Also gehen sie still belgisches Bier trinken - wie sie es in Europa gelernt haben.
tlin
Christoph Rehage: "Neuschweinstein. Mit zwölf Chinesen durch Europa". Malik, 270 Seiten, 15 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2016Frische Luft
Christoph Rehage schließt sich einer chinesischen Reisegruppe an, die Europa besichtigt.
Die Touristen beobachten ihn dabei mindestens so neugierig wie er sie
VON SEBASTIAN NIEMETZ
In großen Lettern stand auf dem Titelblatt: „China greift nach Europa!“Daneben sprühte ein finster dreinblickender Drache rotes Feuer über den Globus. Nachdem Christoph Rehage sich das Wirtschaftsmagazin mit dem Ungeheuer vorne drauf an einer Autobahnraststätte in Österreich gekauft hatte, wollte einer seiner Reisebegleiter, ein junger Mann aus China, wissen, ob das tatsächlich sein kann, dass Leute aus dem Westen immer Drachen oder Pandas sehen wollen, „wenn von unserem Land die Rede ist“. Offenkundig ist das sehr oft so.
Christoph Rehage hat im Februar 2015 zwölf chinesische Touristen auf ihrer zweiwöchigen Europareise begleitet, um herauszufinden, was sie an unserer Heimat interessiert, mit welchem Blick sie ihr begegnen. Sein Buch „Neuschweinstein“ ist aber auch ein Bericht über das China-Bild der Europäer geworden. Wobei sich sein eigenes beileibe nicht nur aus Drachen und Pandas zusammensetzt.
Der 35-jährige Autor ist Sinologe, er hat eine Zeit lang in Peking gelebt und ist 2007 von dort zu Fuß mehr als 4600 Kilometer bis in den Westen Chinas gereist. Daraus ist sein Reisebericht „The Longest Way“ entstanden, außerdem ein gleichnamiger Internetfilm sowie der Bildband „China zu Fuß“.
Nun also bereist er Europa, als Teil einer Touristengruppe, in der außer ihm und dem slowenischen Busfahrer alle übrigen aus China stammen. Rehage beschreibt, wie er die Touristen kennenlernt, sie beobachtet, mit ihnen redet und Freundschaften schließt. Dabei zeigt sein Buch, wie ähnlich die Reisenden aus China den europäischen Touristen trotz aller Unterschiede doch sind. „Neuschweinstein“ ist dabei eine Geschichte ohne viele Schnörkel und Spektakel, ohne episches Drachenfeuer.
Über ein chinesisches Reisebüro haben die zwölf Chinesen diese Gruppenreise gebucht – Rehage hat es ihnen gleichgetan und ist mit ihnen von Peking aus aufgebrochen. Für die Touristen aus China ist es samt und sonders ihr erster Trip nach Europa. Schnell wird klar, dass man sie nur schwer als eine Einheit fassen kann. Zwar kommen alle aus der urbanen Mittelschicht des Landes, dennoch unterscheiden sie sich mitunter stark durch ihre Herkunft und ihre Interessen. Da ist etwa der alleinstehende, kettenrauchende Investmentbanker Hou, dem der deutsche Mitreisende lange besonders suspekt ist. Da sind auch die Kunststudentin Yumeng, die Ai Weiwei nicht kennt, oder Tianjiao, das Mädchen aus dem versmogten Peking, das zwischen laufenden Automotoren vor dem Münchner Flughafen steht, tief einatmet und sich ernsthaft über die frische Luft freut.
Was die Reisenden verbindet, ist der Wille, einmal die typischen Sehenswürdigkeiten Europas zu besichtigen. In ihrem Land erfreuen sich der Eiffelturm oder die Kanäle von Venedig einer fast kitschigen Beliebtheit – beide sind wie etliche weitere touristische Attraktionen auch in der Volksrepublik nachgebaut worden.
Dass die Realität nicht immer den – ohnehin romantischen – Erwartungen standhält, scheint die Europareisenden nicht aus der Ruhe zu bringen. Überhaupt hat die Harmonie in der Gruppe immer Priorität. Egal ob ein schlechtes Hotel oder fades Essen, stets werden Spannungen oder Konflikte vermieden. Dem deutschen Mitreisenden trauen sie nicht von Anfang an. Doch weil Christoph Rehage fließend Mandarin spricht und chinesische Gepflogenheiten kennt, schafft er es ziemlich schnell, das Eis zu brechen und sich relativ unauffällig in die Gruppe einzureihen. Spätestens als er ihnen durch seine Europakenntnisse zu Hilfe kommt, etwa als er beim Ticketkauf in der Pariser U-Bahn eingreift, lernen sie ihren Begleiter schätzen und überschütten ihn mit Fragen über die fremde Kultur: Warum fahren in der Schweiz die Busse immer auf die Minute genau – ist das nicht nervig? Warum wird in vielen Ländern Europas für die Benutzung öffentlicher Toiletten Geld verlangt? Und kann es sein, dass Europäer Veränderung nicht so sehr mögen?
Als ein Mitreisender Rehage fragt, was er vom Straßenverkehr in Paris hält, zeigt sich, dass die Chinesen auch die typischen Stereotype der europäischen Länder kennen und kopieren. Nachdem er arglos mit „Könnte besser sein“ antwortet, bricht die Reisegruppe zufrieden in Gelächter aus: Der ordentliche Deutsche blickt auf den chaotischen französischen Verkehr hinab – Klischee bedient. Manche von den Chinesen lernen erst auf dieser Reise, dass Fischaugen, Entengedärm und Hühnerfüße nicht jedermanns Speisen sind. Dass aber andere Menschen dafür gerne Dinge wie Lakritze, Schimmelkäse oder Mettbrötchen zu sich nehmen, das können sie nicht wirklich begreifen. Vom tatsächlichen Alltag der Europäer bekommt die Reisegruppe allerdings nicht viel mit. Gegessen wird stets in chinesischen Restaurants, eingekauft wird meist in Geschäften, die sich auf chinesische Touristen spezialisiert haben. Die Reisenden bleiben fast die ganze Tour in ihrer Gruppe. Nur einmal entfernt sich die junge Tianjiao von den anderen, um eine Freundin, die in der Schweiz studiert, zum Abendessen zu treffen – natürlich nur mit Erlaubnis des Reiseleiters.
Zu dramatischen Szenen oder gar einem Aufeinanderprallen von Kulturen kommt es also nicht. Stattdessen lernt man unter anderem den chinesischen Humor besser kennen: Als die Gruppe Neuschwanstein besucht, erinnert sich Rehage, dass eine chinesische Freundin das Schloss immer „Neuschweinstein“ nannte. Er hatte einige Male versucht sie zu korrigieren, bis er merkte, dass sie es absichtlich so aussprach. Wenn eine Chinesin dich mag, wurde ihm erklärt, ärgert sie dich.
Egal ob ein schlechtes Hotel
oder fades Essen, Spannungen
und Konflikte werden vermieden
Christoph Rehage:
Neuschweinstein. Mit zwölf
Chinesen durch Europa.
Malik Verlag, München 2016.
272 Seiten, 15 Euro.
E-Book 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christoph Rehage schließt sich einer chinesischen Reisegruppe an, die Europa besichtigt.
Die Touristen beobachten ihn dabei mindestens so neugierig wie er sie
VON SEBASTIAN NIEMETZ
In großen Lettern stand auf dem Titelblatt: „China greift nach Europa!“Daneben sprühte ein finster dreinblickender Drache rotes Feuer über den Globus. Nachdem Christoph Rehage sich das Wirtschaftsmagazin mit dem Ungeheuer vorne drauf an einer Autobahnraststätte in Österreich gekauft hatte, wollte einer seiner Reisebegleiter, ein junger Mann aus China, wissen, ob das tatsächlich sein kann, dass Leute aus dem Westen immer Drachen oder Pandas sehen wollen, „wenn von unserem Land die Rede ist“. Offenkundig ist das sehr oft so.
Christoph Rehage hat im Februar 2015 zwölf chinesische Touristen auf ihrer zweiwöchigen Europareise begleitet, um herauszufinden, was sie an unserer Heimat interessiert, mit welchem Blick sie ihr begegnen. Sein Buch „Neuschweinstein“ ist aber auch ein Bericht über das China-Bild der Europäer geworden. Wobei sich sein eigenes beileibe nicht nur aus Drachen und Pandas zusammensetzt.
Der 35-jährige Autor ist Sinologe, er hat eine Zeit lang in Peking gelebt und ist 2007 von dort zu Fuß mehr als 4600 Kilometer bis in den Westen Chinas gereist. Daraus ist sein Reisebericht „The Longest Way“ entstanden, außerdem ein gleichnamiger Internetfilm sowie der Bildband „China zu Fuß“.
Nun also bereist er Europa, als Teil einer Touristengruppe, in der außer ihm und dem slowenischen Busfahrer alle übrigen aus China stammen. Rehage beschreibt, wie er die Touristen kennenlernt, sie beobachtet, mit ihnen redet und Freundschaften schließt. Dabei zeigt sein Buch, wie ähnlich die Reisenden aus China den europäischen Touristen trotz aller Unterschiede doch sind. „Neuschweinstein“ ist dabei eine Geschichte ohne viele Schnörkel und Spektakel, ohne episches Drachenfeuer.
Über ein chinesisches Reisebüro haben die zwölf Chinesen diese Gruppenreise gebucht – Rehage hat es ihnen gleichgetan und ist mit ihnen von Peking aus aufgebrochen. Für die Touristen aus China ist es samt und sonders ihr erster Trip nach Europa. Schnell wird klar, dass man sie nur schwer als eine Einheit fassen kann. Zwar kommen alle aus der urbanen Mittelschicht des Landes, dennoch unterscheiden sie sich mitunter stark durch ihre Herkunft und ihre Interessen. Da ist etwa der alleinstehende, kettenrauchende Investmentbanker Hou, dem der deutsche Mitreisende lange besonders suspekt ist. Da sind auch die Kunststudentin Yumeng, die Ai Weiwei nicht kennt, oder Tianjiao, das Mädchen aus dem versmogten Peking, das zwischen laufenden Automotoren vor dem Münchner Flughafen steht, tief einatmet und sich ernsthaft über die frische Luft freut.
Was die Reisenden verbindet, ist der Wille, einmal die typischen Sehenswürdigkeiten Europas zu besichtigen. In ihrem Land erfreuen sich der Eiffelturm oder die Kanäle von Venedig einer fast kitschigen Beliebtheit – beide sind wie etliche weitere touristische Attraktionen auch in der Volksrepublik nachgebaut worden.
Dass die Realität nicht immer den – ohnehin romantischen – Erwartungen standhält, scheint die Europareisenden nicht aus der Ruhe zu bringen. Überhaupt hat die Harmonie in der Gruppe immer Priorität. Egal ob ein schlechtes Hotel oder fades Essen, stets werden Spannungen oder Konflikte vermieden. Dem deutschen Mitreisenden trauen sie nicht von Anfang an. Doch weil Christoph Rehage fließend Mandarin spricht und chinesische Gepflogenheiten kennt, schafft er es ziemlich schnell, das Eis zu brechen und sich relativ unauffällig in die Gruppe einzureihen. Spätestens als er ihnen durch seine Europakenntnisse zu Hilfe kommt, etwa als er beim Ticketkauf in der Pariser U-Bahn eingreift, lernen sie ihren Begleiter schätzen und überschütten ihn mit Fragen über die fremde Kultur: Warum fahren in der Schweiz die Busse immer auf die Minute genau – ist das nicht nervig? Warum wird in vielen Ländern Europas für die Benutzung öffentlicher Toiletten Geld verlangt? Und kann es sein, dass Europäer Veränderung nicht so sehr mögen?
Als ein Mitreisender Rehage fragt, was er vom Straßenverkehr in Paris hält, zeigt sich, dass die Chinesen auch die typischen Stereotype der europäischen Länder kennen und kopieren. Nachdem er arglos mit „Könnte besser sein“ antwortet, bricht die Reisegruppe zufrieden in Gelächter aus: Der ordentliche Deutsche blickt auf den chaotischen französischen Verkehr hinab – Klischee bedient. Manche von den Chinesen lernen erst auf dieser Reise, dass Fischaugen, Entengedärm und Hühnerfüße nicht jedermanns Speisen sind. Dass aber andere Menschen dafür gerne Dinge wie Lakritze, Schimmelkäse oder Mettbrötchen zu sich nehmen, das können sie nicht wirklich begreifen. Vom tatsächlichen Alltag der Europäer bekommt die Reisegruppe allerdings nicht viel mit. Gegessen wird stets in chinesischen Restaurants, eingekauft wird meist in Geschäften, die sich auf chinesische Touristen spezialisiert haben. Die Reisenden bleiben fast die ganze Tour in ihrer Gruppe. Nur einmal entfernt sich die junge Tianjiao von den anderen, um eine Freundin, die in der Schweiz studiert, zum Abendessen zu treffen – natürlich nur mit Erlaubnis des Reiseleiters.
Zu dramatischen Szenen oder gar einem Aufeinanderprallen von Kulturen kommt es also nicht. Stattdessen lernt man unter anderem den chinesischen Humor besser kennen: Als die Gruppe Neuschwanstein besucht, erinnert sich Rehage, dass eine chinesische Freundin das Schloss immer „Neuschweinstein“ nannte. Er hatte einige Male versucht sie zu korrigieren, bis er merkte, dass sie es absichtlich so aussprach. Wenn eine Chinesin dich mag, wurde ihm erklärt, ärgert sie dich.
Egal ob ein schlechtes Hotel
oder fades Essen, Spannungen
und Konflikte werden vermieden
Christoph Rehage:
Neuschweinstein. Mit zwölf
Chinesen durch Europa.
Malik Verlag, München 2016.
272 Seiten, 15 Euro.
E-Book 12,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ob Christoph Rehage seiner Reisegruppe offenbart hat, dass er über sie ein Buch schreibt? Rezensent Sebastian Niemetz erwähnt in seiner Besprechung zwar ein anfängliches Misstrauen der zwölf Chinesen gegenüber dem Sinologen, aber diese entscheidende Frage bleibt seltsamerweise ungeklärt. Und was er von dem Buch hält, verrät er auch nicht. Er berichtet allerdings recht wohlwollend, was Rehage auf der gemeinsamen Europareise über die die Kuriositäten des Alltags zu erzählen hat, über chinesischen Humor oder die Bedeutung der Harmonie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Harte Arbeit mit vielen Buskilometern, Verkaufsvorführungen, Abspeisungen und Sights wie Neuschweinstein.", Schaufenster (Die Presse) (A), 12.05.2017