Ein hochpoetischer und gesellschaftskritischer Roman, der zeigt, was mit uns allen passieren könnte - wenn es nicht schon längst passiert.Es herrschen angespannte Zeiten: Die EU befindet sich mit dem Rest der Welt in Handelskriegen, in den Regalen der Supermärkte gibt es keine Bananen mehr. In Slowenien stehen Wahlen vor der Tür, und in Ljubljana treffen Proteste auf Gegenproteste, extremistische Parteien befinden sich im Aufwind.Inmitten dieses Chaos durchlebt eine junge Schriftstellerin ihre ganz eigene Krise, Liebe und Finanzen liegen im Argen. Um Letzterem Abhilfe zu schaffen, nimmt sie einen Honorarauftrag an, Creative Writing Workshops in einem Gefängnis durchzuführen. Während drei Gefangene ihr immer wieder neue Erzählungen liefern, die alle vom Krieg handeln, beginnt sie, einen historischen Roman zu schreiben, der von der Freundschaft zwischen Antonio Scopoli und Carl von Linné erzählt, von Scopolis Reise durch das kriegsverwüstete Europa des 18. Jahrhunderts und von dem Ort, an dem die erste Banane auf europäischem Boden gezüchtet wurde.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Schneider empfiehlt diesen im Original bereits vor fünf Jahren erschienenen Roman mit leichten Einschränkungen. Wenn der slowenische Autor Ales Steger in einem Mix aus "Groteske" und "Satire" von einer Schriftstellerin mit Schreibkrise und Alpträumen erzählt, die im Gefängnis Schreibkurse für Häftlinge, darunter ein Kriegsverbrecher, gibt, erkennt der Kritiker schnell die ungebrochene Aktualität des Romans: Von den Häftlingen erhält sie Kurzgeschichten, die vom Krieg berichten, sie selbst arbeitet an einem Roman, der vom Siebenjährigen Krieg erzählt. Darüber hinaus geht es in Stegers Roman um ein sich in Müll und Favelas auflösendes Slowenien und einen populistischen Präsidenten, der seinem Volk das Blaue vom Himmel verspricht, resümiert Schneider. Ganz glücklich wird der Kritiker allerdings nicht, wenn Steger die politischen und ökonomischen Ereignisse mehr "behauptet" als erläutert. Und die pauschale Verurteilung von Politik und Medien riecht ein wenig nach "literarischem Populismus", meint Schneider. Immerhin: Die Wirklichkeit kommt dem Roman inzwischen recht nahe, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2022Alles Banane in der slowenischen Politik
Populismuswarnung: Ales Stegers Roman "Neverend"
Dieser Roman vermittelt eine sehr zeitgemäße Stimmung: Leben am Rand einer großen gesellschaftlich-politischen Katastrophe. Die Krisen multiplizieren sich, die Inflation steigt unaufhörlich. Ein Populist namens Platano (das spanische Wort für Banane) übernimmt in Ljubljana die Macht. Er verspricht den Bürgern alles: steiles Bevölkerungswachstum, Ausweisung aller Illegalen, bedingungsloses Grundeinkommen und Flüge zum Mars. Unterdessen breiten sich in der slowenischen Hauptstadt die Müllberge und Favelas aus. Die Banane ist im Roman zentrales Symbol für ein Europa, das sich in ein Bündel von Bananenrepubliken aufzulösen droht. Die schwere Wirtschaftskrise und die Handelskriege machen sich zuerst im Bananenmangel geltend.
Der 1973 geborene Lyriker und Romancier Ales Steger gilt als meistübersetzter slowenischer Schriftsteller seiner Generation. Auch die Hauptfigur und Ich-Erzählerin seines Romans "Neverend" ist eine Schriftstellerin. Ihre engsten Vertrauten sind die Schreibkrise (sie laboriert am zweiten Roman), die toten Tiere, die sie von der Straße einsammelt, und eine Kollegin, die unaufhörlich von Michel Foucault schwärmt. Außerdem gibt es noch einen befreundeten Intellektuellen mit dem vorbelasteten Namen Kafka, der sich aber nicht in einen Käfer, sondern später in den Sprecher von Präsident Platano verwandelt. In Slowenien sind solche Karrieren wahrscheinlicher als anderswo: kleine Länder, große Gelegenheiten. Man kennt und begünstigt sich; es gibt spezifische Formen der Korruption im Politik- und Kulturbetrieb.
Kaum erstaunlich, dass die Schriftstellerin mit der "Gaukelwelt" des Literaturbetriebs und dem Selbstzerstörerischen des Schreibens hadert: "Für ein paar Worte zerlegt man sich selbst, man gibt seine Innereien dem allgemeinen Gespött preis." Ihre Gedanken sind eine gegen sich selbst gerichtete Schleifmaschine. Regelmäßig wird sie zudem heimgesucht von vernichtenden, sehr suggestiv beschriebenen Albträumen, die mit dem Niedergang in der Außenwelt korrespondieren. Da steigt zum Beispiel der Messias aus einem stinkenden Erdloch und schneidet sogleich zahlreichen Männern die Hoden ab, um sie in Engel zu verwandeln. Schon wachsen ihnen Flügel. Es sind jedoch Fliegenflügel; eine Armada von Riesenfliegen macht sich über die menschlichen Behausungen her. Wer so träumt, braucht kein Horrorkino.
Selbst im Erfolgsfall lässt sich vom Schreiben in Slowenien nicht leben. Deshalb gibt die Erzählerin einen Creative-Writing-Kurs im Gefängnis. Drei Häftlinge machen mit, undurchsichtige Männer, einer wird sich später als Kriegsverbrecher entpuppen. Aber wie so vieles in dem komplex gebauten Roman wird diese Nebenhandlung auf der realistischen Erzählebene nur skizziert. Vor allem dient sie dazu, das im Buch unterzubringen, was sein Bestes ist: etwa dreißig starke Kurzgeschichten, die ohne weitere Differenzierung den drei Gefangenen zugeschrieben werden (als Hinweis darauf, dass Literatur sich nicht den reinen Seelen verdankt). Fortan werden sie der Erzählerin regelmäßig in Dreierpackungen zur Begutachtung zugeschickt. In einer davon gibt eine Exhumierungs-Expertin Einblick in ihre Arbeit, für die sie von einem Kriegsgebiet ins nächste reist, um Tote zu identifizieren und Knochen zusammenzufügen. Eine Aufgabe "ohne Ende" - und eine Facette des Titels "Neverend", der in der letzten der Geschichten aber auch als Name eines umkämpften Wallfahrtsortes erscheint. "Es gibt kein Ende, und das beruhigt" - eine fragliche Auskunft, denn gibt es nicht viele Dinge, bei denen ein Ende sehr wünschenswert wäre?
Die Auseinandersetzung mit dem Krieg wirkt beklemmend aktuell, auch wenn "Neverend" im Original bereits 2017 erschienen ist. Die Kriegsmotive verdanken sich nicht der Ukraine; vielmehr sind es Nachbilder des jugoslawischen Zerfallskrieges, der 1991 in Slowenien begann. Auch wenn die abtrünnige Provinz damals glimpflich davonkam, hat sie jahrelang im Schatten eines mit vielen ethnischen Säuberungen einhergehenden Krieges gelebt. In Westeuropa wurde der - verglichen mit dem aktuellen in der Ukraine - trotz der räumlichen Nähe ohne größere Beeinträchtigung des eigenen Lebensgefühls wahrgenommen, als wäre in ihm eine spezifische balkanische Martialität zum Ausdruck gekommen. Balkan, heißt es an einer Stelle des Romans spöttisch, sei für westliche Menschen ein Synonym für Barbarei und "Tomaten und Paprika von höchster Qualität". Indem Steger diese Kriege in eine zeitliche und räumliche Unbestimmtheit versetzt, hebt er die leichtfertige Distanzierung auf. Das Parabelhafte verdünnt den Realitätsgehalt nicht, sondern erhöht ihn.
Dass die Welt indes nicht erst seit Kurzem auf Abwege geraten ist, zeigt ein weiterer Handlungsstrang: Kapitel aus einem entstehenden Roman der Schriftstellerin, der im achtzehnten Jahrhundert gegen Ende des Siebenjährigen Krieges spielt. Geschildert wird eine fiktive, rundum desaströse Reise des Naturforschers und Bergwerksarztes Giovanni Antonio Scopoli zu seinem verehrten Vorbild Carl von Linné. Gott hat die Welt geschaffen, Linné hat sie eingeteilt und benannt. Was hier aber nicht verhindert, dass sich die so sorgfältig benannte Schöpfung ins Fratzenhafte, Abscheuliche verfremdet.
Während dieser historische Erzählstrang durch suggestive Details überzeugt, gibt Steger sich nicht viel Mühe, die aktuellen Vorgänge in Politik und Ökonomie realistisch zu motivieren; sie werden mehr behauptet als dargestellt. Zwar erscheint die Beschwörung einer großen Krise inzwischen kaum noch begründungsbedürftig. Dennoch droht Steger hier selbst zum literarischen Populisten zu werden, der Politik und Medien pauschal unter Debilitätsverdacht stellt.
"Neverend" ist ein Buch mit rundum eingetrübtem Horizont. Es verbindet Wirklichkeitssplitter mit Phantastischem, Groteskem und eher grobkörniger Satire. Literarische Verzerrung der Realität darf sich immer dann als Dystopie bezeichnen lassen, wenn die Wirklichkeit ihr zu ähneln beginnt. Das ist in den fünf Jahren seit Erscheinen des Originals leider geschehen. WOLFGANG SCHNEIDER
Ales Steger: "Neverend". Roman.
Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz und Alexandra Natalie Zaleznik. Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 464 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Populismuswarnung: Ales Stegers Roman "Neverend"
Dieser Roman vermittelt eine sehr zeitgemäße Stimmung: Leben am Rand einer großen gesellschaftlich-politischen Katastrophe. Die Krisen multiplizieren sich, die Inflation steigt unaufhörlich. Ein Populist namens Platano (das spanische Wort für Banane) übernimmt in Ljubljana die Macht. Er verspricht den Bürgern alles: steiles Bevölkerungswachstum, Ausweisung aller Illegalen, bedingungsloses Grundeinkommen und Flüge zum Mars. Unterdessen breiten sich in der slowenischen Hauptstadt die Müllberge und Favelas aus. Die Banane ist im Roman zentrales Symbol für ein Europa, das sich in ein Bündel von Bananenrepubliken aufzulösen droht. Die schwere Wirtschaftskrise und die Handelskriege machen sich zuerst im Bananenmangel geltend.
Der 1973 geborene Lyriker und Romancier Ales Steger gilt als meistübersetzter slowenischer Schriftsteller seiner Generation. Auch die Hauptfigur und Ich-Erzählerin seines Romans "Neverend" ist eine Schriftstellerin. Ihre engsten Vertrauten sind die Schreibkrise (sie laboriert am zweiten Roman), die toten Tiere, die sie von der Straße einsammelt, und eine Kollegin, die unaufhörlich von Michel Foucault schwärmt. Außerdem gibt es noch einen befreundeten Intellektuellen mit dem vorbelasteten Namen Kafka, der sich aber nicht in einen Käfer, sondern später in den Sprecher von Präsident Platano verwandelt. In Slowenien sind solche Karrieren wahrscheinlicher als anderswo: kleine Länder, große Gelegenheiten. Man kennt und begünstigt sich; es gibt spezifische Formen der Korruption im Politik- und Kulturbetrieb.
Kaum erstaunlich, dass die Schriftstellerin mit der "Gaukelwelt" des Literaturbetriebs und dem Selbstzerstörerischen des Schreibens hadert: "Für ein paar Worte zerlegt man sich selbst, man gibt seine Innereien dem allgemeinen Gespött preis." Ihre Gedanken sind eine gegen sich selbst gerichtete Schleifmaschine. Regelmäßig wird sie zudem heimgesucht von vernichtenden, sehr suggestiv beschriebenen Albträumen, die mit dem Niedergang in der Außenwelt korrespondieren. Da steigt zum Beispiel der Messias aus einem stinkenden Erdloch und schneidet sogleich zahlreichen Männern die Hoden ab, um sie in Engel zu verwandeln. Schon wachsen ihnen Flügel. Es sind jedoch Fliegenflügel; eine Armada von Riesenfliegen macht sich über die menschlichen Behausungen her. Wer so träumt, braucht kein Horrorkino.
Selbst im Erfolgsfall lässt sich vom Schreiben in Slowenien nicht leben. Deshalb gibt die Erzählerin einen Creative-Writing-Kurs im Gefängnis. Drei Häftlinge machen mit, undurchsichtige Männer, einer wird sich später als Kriegsverbrecher entpuppen. Aber wie so vieles in dem komplex gebauten Roman wird diese Nebenhandlung auf der realistischen Erzählebene nur skizziert. Vor allem dient sie dazu, das im Buch unterzubringen, was sein Bestes ist: etwa dreißig starke Kurzgeschichten, die ohne weitere Differenzierung den drei Gefangenen zugeschrieben werden (als Hinweis darauf, dass Literatur sich nicht den reinen Seelen verdankt). Fortan werden sie der Erzählerin regelmäßig in Dreierpackungen zur Begutachtung zugeschickt. In einer davon gibt eine Exhumierungs-Expertin Einblick in ihre Arbeit, für die sie von einem Kriegsgebiet ins nächste reist, um Tote zu identifizieren und Knochen zusammenzufügen. Eine Aufgabe "ohne Ende" - und eine Facette des Titels "Neverend", der in der letzten der Geschichten aber auch als Name eines umkämpften Wallfahrtsortes erscheint. "Es gibt kein Ende, und das beruhigt" - eine fragliche Auskunft, denn gibt es nicht viele Dinge, bei denen ein Ende sehr wünschenswert wäre?
Die Auseinandersetzung mit dem Krieg wirkt beklemmend aktuell, auch wenn "Neverend" im Original bereits 2017 erschienen ist. Die Kriegsmotive verdanken sich nicht der Ukraine; vielmehr sind es Nachbilder des jugoslawischen Zerfallskrieges, der 1991 in Slowenien begann. Auch wenn die abtrünnige Provinz damals glimpflich davonkam, hat sie jahrelang im Schatten eines mit vielen ethnischen Säuberungen einhergehenden Krieges gelebt. In Westeuropa wurde der - verglichen mit dem aktuellen in der Ukraine - trotz der räumlichen Nähe ohne größere Beeinträchtigung des eigenen Lebensgefühls wahrgenommen, als wäre in ihm eine spezifische balkanische Martialität zum Ausdruck gekommen. Balkan, heißt es an einer Stelle des Romans spöttisch, sei für westliche Menschen ein Synonym für Barbarei und "Tomaten und Paprika von höchster Qualität". Indem Steger diese Kriege in eine zeitliche und räumliche Unbestimmtheit versetzt, hebt er die leichtfertige Distanzierung auf. Das Parabelhafte verdünnt den Realitätsgehalt nicht, sondern erhöht ihn.
Dass die Welt indes nicht erst seit Kurzem auf Abwege geraten ist, zeigt ein weiterer Handlungsstrang: Kapitel aus einem entstehenden Roman der Schriftstellerin, der im achtzehnten Jahrhundert gegen Ende des Siebenjährigen Krieges spielt. Geschildert wird eine fiktive, rundum desaströse Reise des Naturforschers und Bergwerksarztes Giovanni Antonio Scopoli zu seinem verehrten Vorbild Carl von Linné. Gott hat die Welt geschaffen, Linné hat sie eingeteilt und benannt. Was hier aber nicht verhindert, dass sich die so sorgfältig benannte Schöpfung ins Fratzenhafte, Abscheuliche verfremdet.
Während dieser historische Erzählstrang durch suggestive Details überzeugt, gibt Steger sich nicht viel Mühe, die aktuellen Vorgänge in Politik und Ökonomie realistisch zu motivieren; sie werden mehr behauptet als dargestellt. Zwar erscheint die Beschwörung einer großen Krise inzwischen kaum noch begründungsbedürftig. Dennoch droht Steger hier selbst zum literarischen Populisten zu werden, der Politik und Medien pauschal unter Debilitätsverdacht stellt.
"Neverend" ist ein Buch mit rundum eingetrübtem Horizont. Es verbindet Wirklichkeitssplitter mit Phantastischem, Groteskem und eher grobkörniger Satire. Literarische Verzerrung der Realität darf sich immer dann als Dystopie bezeichnen lassen, wenn die Wirklichkeit ihr zu ähneln beginnt. Das ist in den fünf Jahren seit Erscheinen des Originals leider geschehen. WOLFGANG SCHNEIDER
Ales Steger: "Neverend". Roman.
Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz und Alexandra Natalie Zaleznik. Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 464 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2022Gehäutete Igel in Kurkumasoße
Der slowenische Autor Aleš Šteger erzählt in „Neverend“ Geschichten der Fassungslosigkeit zur Zeit zerfallender Demokratien und schleichender Kriegsangst
Kaum ein Lebensmittel ist symbolisch so aufgeladen wie die Banane. Und dank Andy Warhol ist sie auch aus der Kunst nicht mehr wegzudenken. Dazu kommt ihre phallische Form. Noch 2019 erregte sie die Gemüter, als es darum ging, die Video- und Fotoserie „Consumer Art“ (1973) über Bananen verspeisende Frauen aus dem Nationalmuseum in Warschau zu verbannen. Zu unsittlich, hieß es.
Dabei ist, wie schon Konrad Adenauer wusste, die Banane „eine Hoffnung für viele und eine Notwendigkeit für uns alle“. Während Adenauer mit diesem Argument die zollfreie Einfuhr der Banane in die BRD durchsetzte, blieb die Banane in der DDR Mangelware. Ob es Europa und den USA wirklich gelungen ist, den jahrzehntelangen Streit über Einfuhrzölle und Dollarbananen beizulegen, darf bezweifelt werden. Das zumindest tut der slowenische Autor Aleš Šteger in seinem neuen Roman „Neverend“. Der Titel des Buchs ist Programm. Das 460 Seiten starke Werk, von Matthias Göritz und Alexandra Natalie Zaleznik stilsicher ins Deutsche übertragen, ergänzt die Neverending-Story der Banane um weitere spannende Kapitel.
„Kafka bringt Bananen mit. Keine Ahnung, woher er sie hat. Vor zwei Monaten sind sie über Nacht aus den Regalen der Supermärkte verschwunden.“ So beginnt der fulminante Roman, in dem Šteger die Schreib- und Lebenskrise einer Autorin mit zerfallenden Demokratien in Europa, Kriegsangst, zermürbendem Gefängnisalltag und Appetit verderbender Esskultur zusammenführt. Und von Bananen erzählt.
Zunächst studiert die Ich-Erzählerin in ihrem Tagebuch den Verfall zweier Bananen. Tag für Tag werden sie eine Schattierung bräunlicher und krümmen sich „wie zwei fleißige Kulturschaffende, wenn sie in Rente gehen“. Besiegelt wird ihr Ende an dem Tag, als die Erzählerin einen langen rostigen Nagel in das Fleisch der einen Banane schiebt. Aus Wut über Kafka, der meint, ihr erklären zu müssen, dass sie nur dann eine gute Autorin werde, wenn sie schreibe, als würde sie „Nägel einschlagen, lange, gerade Nägel“.
Die Fäulnis der genagelten Banane lässt sich symbolisch lesen. In Slowenien stehen Wahlen an und es zeichnet sich ab, dass der Populist Platano, spanisch für Banane, das Volk mit der Verfütterung ebendieser für sich gewinnen wird. Bald schon wird auf den Straßen randaliert, die gesellschaftliche Ordnung bricht zusammen.
Die Autorin reagiert darauf mit einer Mischung aus Verweigerung und Bereitschaft zur Konfrontation. Sie fühlt sich wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, verleiht dem Gestus der Abschottung aber eine politisch-subversive Kraft. Sie beraubt sich künstlich ihrer Sinne und begibt sich als eine Art wandelnde Mumie, beklebt mit unzähligen aus der europäischen Flagge geschnittenen Sternen, in die Öffentlichkeit. Damit zieht sie die Gewalt ihrer Umgebung auf sich.
Eine andere Art der Gewalt kommt über das Thema Essen ins Spiel. Die Erzählerin gibt zu verstehen, dass sie sich vegan ernährt. Anders als der Direktors eines Gefängnisses, in dem sie einen Schreibkurs für Häftlinge anbietet. Er zählt auf, was es bei ihm zu essen gibt: Kaviar, Gänseleber, Ochsenhoden. Außerdem „lebendig gehäutete Igel in Kurkumasoße“.
Der perversen Überfülle stehen Szenen von Hunger und Entbehrung gegenüber, auch sie eng mit Gewalt verknüpft. Auf einer zweiten Ebene es Romans stammen diese Szenen scheinbar aus der Feder der Gefängnisinsassen. Die parabelartigen Geschichten tragen Titel wie „Fels“ oder „Kartoffeln“ und erzählen in einfachen Sätzen von Menschen, die vergewaltigt oder erschossen werden oder aus Scham im Boden ihrer Küche versinken. Das Erzählte ist dem Verstummen abgerungen, überlagert von einem diffusen Dröhnen, das den Untergang der Welt verkündet.
Šteger gelingt es in diesen Geschichten, Verzweiflung und Fassungslosigkeit eine literarische Form zu geben. Die Konturen dessen, was wir Realität nennen, lösen sich auf und machen das Gefühl von Haltlosigkeit nachvollziehbar, an dem die Ich-Erzählerin leidet. „Ich kann nicht schreiben, ohne jenseits der Literatur einen Halt zu haben.“ Trotzdem versucht sie immer wieder aufs Neue, die Grenze zwischen Krieg und Sprache zu überwinden. „Nie endgültig. Nie genug. Ich bin im Neverend.“
Ein Versuch der Grenzüberwindung sind auch die vielen Traumprotokolle der Erzählerin. Einmal zwingt die geträumte Mutter die Tochter in die Kanalisation. In einen abstoßenden Fisch verwandelt springt das Ich in das quecksilbrige Wasser. Die verheerenden Wirkungen des Quecksilbers sind Thema der dritten Erzählebene des Romans. Als die Autorin in dem für seinen Quecksilberabbau bekannten Ort Idrija auf die Figur des Naturforschers Giovanni Scopoli stößt, beginnt sie einen Roman über ihn und seinen Versuch zu schreiben, quer durch Europa in die Niederlande zu gelangen, um dort Carl von Linné zu treffen. Dafür, dass die Autorin so mit ihrem Schreiben hadert, geraten ihr diese Passagen spannend und voller sinnlicher Details. Sie zeigen, wie der Tod sich in die Körper von Menschen frisst, geben aber auch einen Funken Hoffnung. Als Scopoli am Ende in einem verfallenen Gewächshaus den von Linné gepflanzten Musa paradisiaca, den großen Bananenbaum sieht, kommen ihm die Tränen.
SOPHIE WENNERSCHEID
Aleš Šteger: Neverend. Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz und Alexandra Natalie
Zaleznik. Göttingen, Wallstein 2022.
462 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der slowenische Autor Aleš Šteger erzählt in „Neverend“ Geschichten der Fassungslosigkeit zur Zeit zerfallender Demokratien und schleichender Kriegsangst
Kaum ein Lebensmittel ist symbolisch so aufgeladen wie die Banane. Und dank Andy Warhol ist sie auch aus der Kunst nicht mehr wegzudenken. Dazu kommt ihre phallische Form. Noch 2019 erregte sie die Gemüter, als es darum ging, die Video- und Fotoserie „Consumer Art“ (1973) über Bananen verspeisende Frauen aus dem Nationalmuseum in Warschau zu verbannen. Zu unsittlich, hieß es.
Dabei ist, wie schon Konrad Adenauer wusste, die Banane „eine Hoffnung für viele und eine Notwendigkeit für uns alle“. Während Adenauer mit diesem Argument die zollfreie Einfuhr der Banane in die BRD durchsetzte, blieb die Banane in der DDR Mangelware. Ob es Europa und den USA wirklich gelungen ist, den jahrzehntelangen Streit über Einfuhrzölle und Dollarbananen beizulegen, darf bezweifelt werden. Das zumindest tut der slowenische Autor Aleš Šteger in seinem neuen Roman „Neverend“. Der Titel des Buchs ist Programm. Das 460 Seiten starke Werk, von Matthias Göritz und Alexandra Natalie Zaleznik stilsicher ins Deutsche übertragen, ergänzt die Neverending-Story der Banane um weitere spannende Kapitel.
„Kafka bringt Bananen mit. Keine Ahnung, woher er sie hat. Vor zwei Monaten sind sie über Nacht aus den Regalen der Supermärkte verschwunden.“ So beginnt der fulminante Roman, in dem Šteger die Schreib- und Lebenskrise einer Autorin mit zerfallenden Demokratien in Europa, Kriegsangst, zermürbendem Gefängnisalltag und Appetit verderbender Esskultur zusammenführt. Und von Bananen erzählt.
Zunächst studiert die Ich-Erzählerin in ihrem Tagebuch den Verfall zweier Bananen. Tag für Tag werden sie eine Schattierung bräunlicher und krümmen sich „wie zwei fleißige Kulturschaffende, wenn sie in Rente gehen“. Besiegelt wird ihr Ende an dem Tag, als die Erzählerin einen langen rostigen Nagel in das Fleisch der einen Banane schiebt. Aus Wut über Kafka, der meint, ihr erklären zu müssen, dass sie nur dann eine gute Autorin werde, wenn sie schreibe, als würde sie „Nägel einschlagen, lange, gerade Nägel“.
Die Fäulnis der genagelten Banane lässt sich symbolisch lesen. In Slowenien stehen Wahlen an und es zeichnet sich ab, dass der Populist Platano, spanisch für Banane, das Volk mit der Verfütterung ebendieser für sich gewinnen wird. Bald schon wird auf den Straßen randaliert, die gesellschaftliche Ordnung bricht zusammen.
Die Autorin reagiert darauf mit einer Mischung aus Verweigerung und Bereitschaft zur Konfrontation. Sie fühlt sich wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, verleiht dem Gestus der Abschottung aber eine politisch-subversive Kraft. Sie beraubt sich künstlich ihrer Sinne und begibt sich als eine Art wandelnde Mumie, beklebt mit unzähligen aus der europäischen Flagge geschnittenen Sternen, in die Öffentlichkeit. Damit zieht sie die Gewalt ihrer Umgebung auf sich.
Eine andere Art der Gewalt kommt über das Thema Essen ins Spiel. Die Erzählerin gibt zu verstehen, dass sie sich vegan ernährt. Anders als der Direktors eines Gefängnisses, in dem sie einen Schreibkurs für Häftlinge anbietet. Er zählt auf, was es bei ihm zu essen gibt: Kaviar, Gänseleber, Ochsenhoden. Außerdem „lebendig gehäutete Igel in Kurkumasoße“.
Der perversen Überfülle stehen Szenen von Hunger und Entbehrung gegenüber, auch sie eng mit Gewalt verknüpft. Auf einer zweiten Ebene es Romans stammen diese Szenen scheinbar aus der Feder der Gefängnisinsassen. Die parabelartigen Geschichten tragen Titel wie „Fels“ oder „Kartoffeln“ und erzählen in einfachen Sätzen von Menschen, die vergewaltigt oder erschossen werden oder aus Scham im Boden ihrer Küche versinken. Das Erzählte ist dem Verstummen abgerungen, überlagert von einem diffusen Dröhnen, das den Untergang der Welt verkündet.
Šteger gelingt es in diesen Geschichten, Verzweiflung und Fassungslosigkeit eine literarische Form zu geben. Die Konturen dessen, was wir Realität nennen, lösen sich auf und machen das Gefühl von Haltlosigkeit nachvollziehbar, an dem die Ich-Erzählerin leidet. „Ich kann nicht schreiben, ohne jenseits der Literatur einen Halt zu haben.“ Trotzdem versucht sie immer wieder aufs Neue, die Grenze zwischen Krieg und Sprache zu überwinden. „Nie endgültig. Nie genug. Ich bin im Neverend.“
Ein Versuch der Grenzüberwindung sind auch die vielen Traumprotokolle der Erzählerin. Einmal zwingt die geträumte Mutter die Tochter in die Kanalisation. In einen abstoßenden Fisch verwandelt springt das Ich in das quecksilbrige Wasser. Die verheerenden Wirkungen des Quecksilbers sind Thema der dritten Erzählebene des Romans. Als die Autorin in dem für seinen Quecksilberabbau bekannten Ort Idrija auf die Figur des Naturforschers Giovanni Scopoli stößt, beginnt sie einen Roman über ihn und seinen Versuch zu schreiben, quer durch Europa in die Niederlande zu gelangen, um dort Carl von Linné zu treffen. Dafür, dass die Autorin so mit ihrem Schreiben hadert, geraten ihr diese Passagen spannend und voller sinnlicher Details. Sie zeigen, wie der Tod sich in die Körper von Menschen frisst, geben aber auch einen Funken Hoffnung. Als Scopoli am Ende in einem verfallenen Gewächshaus den von Linné gepflanzten Musa paradisiaca, den großen Bananenbaum sieht, kommen ihm die Tränen.
SOPHIE WENNERSCHEID
Aleš Šteger: Neverend. Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz und Alexandra Natalie
Zaleznik. Göttingen, Wallstein 2022.
462 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»ein Roman, dessen Kraft es auszuhalten gilt und der doch voller Poesie ist und voller Fragen und Weisheit.« (Katrin Schumacher, MDR Kultur, 19.03.2022) »wunderbar plastisch erzählte(r) Roman (...). Steger erweist sich in seinem Prosastück über eine Frau im Modus der Selbstfindung als toller Stilist.« (Ulf Heise, MDR Kultur, 28.03.2022) »Ein Buch voller Verzweiflung und Magie, aber auch von großer Sprachmacht.« (Ariane Binder, 3sat Kulturzeit, 27.04.2022) »Sehr poetisch und persönlich seziert Steger die Psychologie des Krieges. Ein starker Roman, der seit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine erschreckende Aktualität bekommen hat.« (Barbara Geschwinde, WDR5 Bücher, 21.05.2022) »ein Buch, das in einer europäischen Zukunft spielt, in dem aber der Krieg als ein Erinnerungsnachhall präsent ist. (...) So überlagern sich reale und surreale Ebenen, bildstark geschildert und sprachlich elaboriert.« (SWR Bestenliste, Juni 2022) »'Neverend' beschreibt das Szenario eines nicht enden wollenden Endes, einer sich immer wiederholenden Geschichte der Zerstörung, wie sie aktueller kaum sein könnte.« (Verena Scheithauer, Kölner StadtRevue, Juni 2022) »ein finsteres, drastisches, starkes Buch. (...) das politische Chaos und das private der Erzählerin macht der Autor eindringlich mit surrealen, berührenden Bildern fest.« (Karin Waldner-Petutschnig, Kleine Zeitung, 09.07.2022) »eine anspielungsreiche, spannend erzählte Analyse der Gegenwart, die sich - mit viel Witz und Selbstironie - fragt, was es heute bedeutet, frei zu sein, zu schreiben und dem Chaos zu trotzen.« (Johanna Lenhart, Die Presse/Spectrum, 16.07.2022) »poetisch, analytisch und persönlich zugleich« (SRF, 22.04.2022) »Ein gedankensattes, erschütterndes wie sprachmächtiges Buch« (Constanze Matthes, Zeichen & Zeiten, 16.06.2022) »Ales Steger zeigt Europa auf einem Weg der Gewalt; seine Erzählerin sieht sich zwischen Sprache und Krieg gefangen« (Cornelia Geißler, Frankfurter Rundschau, 07.06.2022) »Steger gelingt es (...) Verzweiflung und Fassungslosigkeit eine literarische Form zu geben, die unter die Haut geht.« (Sophie Wennerscheid, Süddeutsche Zeitung, 04.10.2022) »komplex gebaute(r) Roman (...). Die Auseinandersetzung mit dem Krieg wirkt beklemmend aktuell« (Wolfgang Schneider, FAZ, 27.10.2022)