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Die Eröffnung der ersten großstädtischen Untergrundbahnen um 1900 markiert zugleich den Aufstieg eines zentralen Subjekttypus der Moderne: des urbanen Passagiers. Anhand der New Yorker Subway, des größten städtischen Transitsystems des 20. Jahrhunderts, analysiert Stefan Höhne die historischen Dynamiken der Wissensformen, Steuerungstechniken und Erfahrungswelten ihrer Passagiere. Er zeigt, dass sich in den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Maschine zentrale Kulturtechniken der Moderne herausbilden, die sowohl auf Zumutungen und Strapazen der industriellen Massenkultur reagieren wie auch…mehr

Produktbeschreibung
Die Eröffnung der ersten großstädtischen Untergrundbahnen um 1900 markiert zugleich den Aufstieg eines zentralen Subjekttypus der Moderne: des urbanen Passagiers. Anhand der New Yorker Subway, des größten städtischen Transitsystems des 20. Jahrhunderts, analysiert Stefan Höhne die historischen Dynamiken der Wissensformen, Steuerungstechniken und Erfahrungswelten ihrer Passagiere. Er zeigt, dass sich in den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Maschine zentrale Kulturtechniken der Moderne herausbilden, die sowohl auf Zumutungen und Strapazen der industriellen Massenkultur reagieren wie auch neue Erfahrungswelten und Freiheiten bereithalten. Als besonders innovative wie originelle Studie wurde diese Arbeit mit dem Forschungspreis der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (gsu) ausgezeichnet.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Stefan Höhne ist Historiker und Kulturwissenschaftler. Er lehrt und forscht am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2017

Urbane Lebensformen im Untergrund

Mit Marshall McLuhan in der U-Bahn: Stefan Höhne schreibt eine Geschichte der New Yorker Subway und ihrer Passagiere.

Als Charles Bronson in "Ein Mann sieht rot" 1974 in der New Yorker Subway überfallen wird und in einem cineastisch legendären Akt von Selbstjustiz die Angreifer erschießt, nähert sich die Hauptstadt des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrem einst größten und weltweit bewunderten Transportsystem dem absoluten Tiefpunkt. Die Stadtregierung meldet Zahlungsunfähigkeit an, und die Subway gilt als marodeste und gefährlichste U-Bahn der Welt, deren tägliche Passagierzahl seit 1945 von sieben auf 3, 5 Millionen gesunken ist. Wer es sich leisten kann, wohnt in immer weiter expandierenden Suburbs und fährt auf gigantischen Highways mit dem Auto durch die City.

Der Berliner Kulturwissenschaftler Stefan Höhne untersucht die Geschichte einer Mega-City am Beispiel der Mega-Maschine ihres Transportsystems. Die 1904 eröffnete New York City Subway gehört nach London (1863), Paris (1900) und Berlin (1902) zu den ältesten Massenverkehrsmitteln der Welt. Ohne die Leistungsfähigkeit dieses Transitsystems wäre New York niemals zum globalen Hafen- und Handelszentrum aufgestiegen.

Mit heute 1400 Kilometern Gleisen, 460 Stationen, 26 Linien und 5 Millionen Passagieren täglich feierte die Subway längst eine Wiedergeburt. Deshalb bietet sie einen idealen Gegenstand, um ein großtechnisches System und sein Publikum in ihrer Entwicklung zu studieren. Schon die Rede vom urbanen Kreislaufsystem ist eine hoch aufgeladene biologische Metapher für mechanischen Massentransport. Aber sie passt zum Siegeszug der unterirdischen Passagier-Container auf Schienen, die einen beispiellosen Dressurakt ihrer Benutzer erforderten und dabei sämtliche urbanen Tugenden und Laster stimulierten.

Stafan Höhne möchte keine Bau-, Technik-, Wirtschafts- oder Institutionsgeschichte schreiben, sondern die Mensch-Maschine-Schnittstelle von der Seite der Subjekte her in allen sozialen, kommunikativen und psychologischen Aspekten beleuchten. Es begann mit den großen Zukunftsversprechen der Politik und Wirtschaft um 1900, aus dem chaotischen Gewimmel der Passanten die geregelte Zirkulation von Passagieren zu machen. Wie beim Vorbild der Kanalisations-, Strom- und Gasleitungen ging es darum, die Kapazität der urbanen Gefäßsysteme zu steigern. Die Zusammenballung von Menschen sollte nicht mehr Stau und Hindernis sein, sondern in Fluss gebracht und zum Motor für Wachstum werden. Mobilität wurde zur Heilslehre des zwanzigsten Jahrhunderts; die räumliche Beweglichkeit der New Yorker versprach auch die Überwindung sozialer und ethnischer Klassenschranken.

In seiner etwas außerweltlichen Begrifflichkeit, die von kurrenten Theorieangeboten zu Biopolitik und Machtmechanismen geleitet ist, spricht Stefan Höhne von "infrastrukturierter Subjektivität", die er ein "Dispositiv" nennt und " als Maschine zur Herstellung von Subjektvität" versteht. Er meint damit wohl, dass Menschen und Artefakte in gewisse Interaktionen treten und beide nach integrierten Bedienungsanleitungen agieren.

Wie Fabrikarbeiter an die Maschine, mussten auch die Fahrgäste an die U-Bahn gekoppelt werden und dabei die Bewegungslehre der industriellen Logistik auf ihre eigene Körperbeherrschung übertragen. Der Ausgleich von Leerlauf und Überlastung, den die U-Bahn-Betreiber anstrebten, verlangte nach einer Optimierung des Passagierverhaltens. Anfangs kollidierte die engere Taktung der Züge mit der Disziplinlosigkeit der Fahrgäste, weil die schnellste Fahrt nichts nützte, wenn die Bahnsteige verstopft waren. Daher wurde korrigiert: Kartenkontrolleure wurden durch Zählmaschinen und "Vereinzelungsanlagen" in Form von Drehtüren ersetzt, die Fahrgäste mussten abgezähltes Geld und schließlich die "token" genannten Chips mitbringen. Zum Schutz vor Gerüchen, Geräuschen und Gesichtern entwickelten die Passagiere gleichzeitig neue Techniken des Abblendens und Ignorierens, um hinter Zeitungen und Sonnenbrillen winzige Territorien privater Autonomie zu retten.

Doch die U-Bahn-Höhlen waren auch lustfördernd, was der Autor von Freuds Parallelisierung von Eisenbahn-Motorik und sexueller Erregung herleitet. Die New Yorker erfanden passend dazu den "Subway two step", einen Paartanz, der die mechanischen Schwingungen der U-Bahn auf die Tanzfläche übertrug und das gesamte unterweltliche Geschehen in eine wortlose Gruppen-Choreographie verwandelte.

Die "normierten Container-Subjekte" hatten immer wieder Spaß am Widerstand gegen die "Disziplinartechniken" und entwickelten entweder individuelle "Trägheitsformen" oder aber kleine artistische Subversionen: von Hürdenläufen über Barrieren über die Huckepack-Technik namens "piggy-backing" an Drehkreuzen bis hin zur Graffiti-Kunst. Über den Umschlag dieser Spiele in nackten Vandalismus weiß der Autor deshalb viel zu berichten, weil er die flüchtigen Spuren der leidtragenden Passagiere anhand ihrer Beschwerdebriefe aus dem Archiv der Metropolitan Transportation Authority von 1954 bis 1968 rekonstruiert. Defekte Installationen und mangelnde Beleuchtung verwandelten die unterirdischen Labyrinthe in Angsträume krimineller Gewalt, die von der Technik des Antanzens bis zum Raubmord reichte. Die einst gefeierte Errungenschaft der Subway wurde zum Schreckbild urbaner Übel.

Die Verkehrsbehörde setzte immer größere Aufseher-Kohorten ein und besänftigte die Beschwerdeführer mit häuslichen Beratungsgesprächen. Der Autor fördert sogar einen Beschwerdebrief von Marshall McLuhan von 1968 zutage. Darin ärgert sich der Medientheoretiker über die Abfallberge in der Metro und empfiehlt ernsthaft, auf Papierkörben die Fotos solcher Schmutzecken mit der Überschrift anzubringen: "Ihr solltet erst einmal die Wohnungen dieser Leute sehen."

Das größte Sicherheitsrisiko war die immer schwächere soziale Kontrolle infolge sinkender Passagierzahlen. Den Umschwung brachte erst die "Zero tolerance"-Politik des Bürgermeisters Rudolph Giuliani, der Wirtschaftsaufschwung nach 1990 und die urban-ökologische Wiederbelebung der City, wodurch Armut und Verbrechen in New York zumindest unsichtbar wurden.

Trotz seiner lebensprallen Thematik und der von ihm ausgebreiteten empirischen Fülle bleibt der Autor durchweg missvergnügt und wittert überall disziplinierende Entfremdungsmächte: Selbst das versöhnende Phänomen der neuen Eigenverantwortung der Passagiere, die als nicht mehr ganz so einsame Masse wieder aufeinander achtgeben, bezeichnet er als "neoliberale Subjektivierungstechnik". Dieses unglückliche Bewusstsein ist charakteristisch für eine Kulturwissenschaft, die händeringend nach einer exterritorialen Perspektive sucht, um sich als Gegenwissenschaft dem Unbewussten der Kultur zu nähern. Im hektischen Betrieb der New Yorker Subway könnte solche alltagsferne Distanz - "Mind the gap" - schnell gefährlich werden.

MICHAEL MÖNNINGER.

Stefan Höhne: "New York City Subway". Die Erfindung des urbanen Passagiers.

Böhlau-Verlag 2017. 383 S., zahlr. Abb., 50,- [Euro].

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