Candace Chen arbeitet für einen Verlagsdienstleister am Times Square, zuständig für die Herstellung von Themenbibeln in Asien. So hingebungsvoll folgt sie ihren täglichen Routinen, dass sie erst gar nicht bemerkt, wie tödliche Pilzsporen über New York hereinbrechen, importiert mit billigen Konsumgütern.
Während das Fieber rasant um sich greift, bleibt Candace stoisch auf ihrem Posten. Anfragen wollen geschrieben, Deadlines eingehalten, Arbeitszeiten erfasst werden. Geködert von einem Bonus ihres Arbeitgebers, ist sie bald die letzte in ihrem Büro - und schließlich in ganz New York.
Die beißende Satire auf den modernen Kapitalismus entwirft ein unheimlich vertrautes Schreckensszenario und fragt erbarmungslos, was uns wirklich wichtig ist.
Während das Fieber rasant um sich greift, bleibt Candace stoisch auf ihrem Posten. Anfragen wollen geschrieben, Deadlines eingehalten, Arbeitszeiten erfasst werden. Geködert von einem Bonus ihres Arbeitgebers, ist sie bald die letzte in ihrem Büro - und schließlich in ganz New York.
Die beißende Satire auf den modernen Kapitalismus entwirft ein unheimlich vertrautes Schreckensszenario und fragt erbarmungslos, was uns wirklich wichtig ist.
»Ling Ma ist mit diesem Buch ein popliterarisch rasanter wie hintersinnig allegorischer Pandemieroman auf Weltniveau gelungen, den ein tiefes Verständnis für migrantische Lebensläufe sowie viel köstliche Selbstironie auszeichnen und der von Zoë Beck mitreißend übersetzt wurde.« Jury der Hotlist
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Oliver Jungen ist Ling Ma die Stimme der Generation Y, wenngleich eine recht bissige. Die satirische Kapitalismuskritik in Mas Debütroman von 2018 über ein Endzeit-New-York und eine Pandemie, die zu dementer Arbeitswut führt, scheint Jungen prophetisch, erfrischend witzig und gefasst in einen eleganten "hyperrealistischen" Stil. Die Apokalypse - eine Welt von routinierten Workaholics, das findet Jungen äußerst originell. Wie die aus China stämmige Protagonistin im Buch dagegen aufbegehrt, vermittelt der Text dem Rezensenten aus einer für ihn reizvollen postmigrantischen Perspektive. Der Amerikanische Traum steht Kopf, freut sich Jungen. Kleinere Redundanzen im Text und einige Anschlussprobleme zwischen Beschreibungen urbaner Alltäglichkeit und brutaler Endzeit findet er verzeihlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.05.2021Hongkong als Metapher
Der Kolonialismus frisst seine Kinder: In den Debütromanen von Naoise Dolan
und Ling Ma findet die westliche Zivilisation ihr Ende
VON FELIX STEPHAN
In Hongkong werden die Lehrpläne umgebaut. Die Buchhändler, Journalisten und Aktivisten sind verhaftet, die demokratischen Zeitungen geschlossen, das Parlament gleichgeschaltet. Eine wohlhabende, demokratische Millionenmetropole verschwindet hinter der großen chinesischen Firewall und niemand kann etwas dagegen unternehmen. Ihre größte Sorge bestehe darin, hat Angela Merkel einmal sinngemäß gesagt, dass die liberale Demokratie aus dem 21. Jahrhundert nicht als das vorherrschende System hervorgehen werde.
An diese Bemerkung denkt man jetzt wieder häufiger, zum Beispiel wenn man „Aufregende Zeiten“ liest, den Debütroman der erst 29-jährigen irischen Schriftstellerin Naoise Dolan. In dem Buch geht es um eine 22-jährige Ich-Erzählerin namens Ada, die vor ihrer kleinbürgerlichen irischen Familie nach Hongkong geflüchtet ist und dort jetzt teilnahmslos als Englischlehrerin arbeitet. Über die einschlägigen Expat-Bars gerät sie in Freundeskreise, in denen jeder reicher ist als sie, und weil deshalb häufig von sozialem Status und kleinen Unterschieden die Rede ist, wurde der Roman schnell mit Sally Rooneys „Normal People“ (2018) verglichen.
Viel näher liegt aber eigentlich der Vergleich mit George Orwells „Burmese Days“ (1934). Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete Orwell als Polizeioffizier in der britischen Kolonie Burma, nach seiner Rückkehr schrieb er angewidert diesen Roman über die Brutalität der englischen Kolonialherrschaft. In Südostastien liegt das Buch heute in jedem Touristenladen aus.
Im Mittelpunkt steht bei Orwell der „European Club“, der koloniale Salon, in dem sich die englische Elite trifft, um ihre vornehmen Konversationen zu führen, während draußen die Barbarei regiert. Die Welt, von der Naoise Dolan erzählt, ist so etwas wie der letzte Ausläufer dieses Salons: die junge englische Upper-Class, die sich gegenseitig in ihre Hongkonger Apartments einlädt und darüber spricht, auf welchen Schulen sie gewesen ist.
Zwei Beziehungen geht Ada im Laufe der Handlung ein: Zuerst trifft sie den jungen englischen Investmentbanker Julian, zieht bei ihm ein, sie schlafen miteinander, über seine Gefühle verliert er nie ein Wort. Dann trifft sie Edith, eine junge Hongkonger Anwältin. Diese Beziehung ist auf mehreren Ebenen aufregender, intimer und erfüllender, aber als Julian für das finale Kapitel „Edith und Julian“ nach Hongkong zurückkehrt, muss Ada sich entscheiden zwischen den zwei Beziehungen, die jeweils auch eine Daseinsform repräsentieren: Julian steht für das alte, weiße, reiche, patriarchale Europa, Edith für eine neue, asiatische, queere Zukunft. Dieser innere Konflikt führt zu einer gründlichen Selbstbefragung und Ada gelangt zu einer Erkenntnis, die für sie nicht unbedingt bequem ist: „Mir gefiel das gebieterische Klirren, wenn er seinen Gürtel öffnete.“
Dass außerhalb dieser schönen Apartments, der aufgeklärten Selbsterkundung, der Lästereien und Outings, die Hongkonger Demokratie in atemberaubendem Tempo abgeschafft wird, kommt in den gesamten Roman nur genau ein einziges Mal vor. Als Julian überlegt, sich endlich einen echten Fernseher anzuschaffen, um seine Filme nicht mehr ständig auf dem kleinen Laptop schauen zu müssen, und Ava bei dieser Gelegenheit spöttisch bemerkt, er gehe „echt auf die Dreißig zu“, steht da plötzlich der Satz: „Die Hongkonger Regierung hatte drei bekannte prodemokratische Studentenaktivisten festnehmen lassen.“ Darin besteht die stille Meisterschaft dieses Romans: Er bildet die Ignoranz seiner Protagonisten formal nach. Nur dieses eine Mal, wie in einem Moment der Unaufmerksamkeit, spricht er seinen Subtext aus. Konsequenzen ergeben sich daraus nicht, der „European Club“ der Gegenwart existiert nur noch als dekadentes Freiluftgehege. Die junge englische Geld-Elite, die ihre Zwanziger im tropischen Hongkong verbringt, beschäftigt sich mit sich selbst, und enthält sich ansonsten jeglichen Kommentars.
Man kann den Roman als Porträt einer globalisierten Jeunesse dorée lesen, die mondän über Diktatur und Unterdrückung in den Peripherien hinwegsehen kann. Er benennt aber auch den Preis, er besteht in der Mittäterschaft: Um ihren extravaganten Lebensstil, ihren kolonialen Status wenigstens als Simulation aufrechterhalten zu können, müssen sie über die Diktatur schweigen und machen sich auf diese Weise zu Komplizen. Auch die Erzählerin Ada geht den Faustischen Pakt schließlich ein. Sie reist mit Julian zurück nach Europa, einer finanziell sorglosen Zukunft entgegen, und überlässt Edith ihrem Schicksal. Ihre Verwandlung von der mittellosen Idealistin zu Julians künftiger Ehefrau vollzieht sich im letzten Satz: „Es war mir egal.“
Und Ada ist nicht einmal die einzige literarische Erzählerin in diesem Jahr, die sich aus niederen Motiven der chinesischen Diktatur unterwirft. Auch die sino-amerikanische Schriftstellerin Ling Ma hat in ihrem vielfach ausgezeichneten Debütroman „New York Ghost“ eine Figur entworfen, die vor demselben moralischen Dilemma steht und sich sogar noch brutaler verhält.
Mas Erzählerin arbeitet bei dem New Yorker Kunstbuchverlag „Spectra“ in der langweiligen, aber rentablen Abteilung für Bibeln und leidet darunter, nicht in der glamourösen Kunstabteilung tätig zu sein, wo die Modigliani- und Warhol-Bildbände von Frauen hergestellt werden, die schöner und weltläufiger sind als sie, und zu denen sie unbedingt aufschließen möchte. Die Bibeln werden in Hongkong und dem benachbarten Shenzhen gedruckt, regelmäßig fliegt sie hin, um mit den Lieferanten zu verhandeln.
„New York Ghost“ ist im Original schon 2018 erschienen, was deshalb nicht ganz unwichtig ist, weil im Mittelpunkt eine globale Pandemie steht, das sogenannte Shen-Fieber. Die Krankheit überträgt sich über die Atemluft und erfasst von China aus den ganzen Globus. Es ist ein bisschen schwindelerregend, wie detailliert Ling Ma die Phasen einer globalen Pandemie beschreibt, die Masken, das Home-Office, die verstopften Ausfallstraßen, über die sich die Städter zur Quarantäne aufs Land zurückziehen. Der Unterschied zur Corona-Pandemie besteht vor allem darin, dass das Shen-Fieber in kurzer Zeit zum Tode führt und in diesem Roman nur eine Handvoll Menschen überleben, die zufällig immun sind.
Wenn sie die Lieferanten besucht, wird die Erzählerin immer auch mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert. Sie ist in China zur Welt gekommen, sie spricht noch ein holpriges Kinderchinesisch und plaudert mit den Arbeitern über ihre Herkunftsregion, über ihre Onkel und Tanten, die noch immer in China leben. Stets steht ihr vor Augen, dass sie in diesem Lieferantenverhältnis jederzeit auf der anderen Seite stehen könnte, wenn ihre Eltern damals nicht nach Utah ausgewandert wären.
Aber um nicht rührselig zu werden, verdrängt sie ihre Angefasstheit und handelt die Verträge als Amerikanerin aus. Die Bedingungen stellen kein Problem dar: Sollte es in den Büchern Weltkarten geben, „müssen Tibet und China in derselben Farbe gedruckt werden“, erklären ihr die Arbeiter, „Sonst dürfen die Bibeln nicht ausgeliefert werden. Taiwan ebenfalls. Hongkong. Das alles muss in derselben Farbe wie China gedruckt sein. Wissen Sie, wir sind alle eins.“
Als die Druckerei später eine Lieferung platzen lässt, weil das Shen-Fieber wütet und das Leben der Arbeiter auf dem Spiel steht, kippt die Professionalität der Erzählerin ins offen Grausame: Sie treibt eine konkurrierende Firma auf, die bereit ist, ihre Angestellten für den Auftrag in den sicheren Tod gehen zu lassen. Auf diese Weise sichert sie den Nachschub im letzten Moment, aber als die Ladung mit den Bibeln auf dem Schiff ist, macht auch diese Firma dicht, „weil die Arbeiter gesundheitliche Probleme durch Pneumokoniose hatten. Ich machte nur meine Arbeit.“ Metaphorisch gesehen könnte man ihre Rolle so umreißen: Um an den begehrten Job in der Kunstbuchabteilung zu kommen, bringt sie ihre eigene Familie um.
Die Erzählerin ist für den westlichen Menschen insofern exemplarisch, als ihre Doppelrolle als Bürgerin und Marktteilnehmerin zu einem moralischen Dilemma wird, das ihr zwangsläufig eine Mitverantwortung für die Ausbeutungsverhältnisse am anderen Ende der Welt zuweist. Und anders als Naoise Dolans Erzählerin ist ihr das sogar bewusst.
Hongkong ist in diesem Buch weniger eine Stadt als ein historischer Moment, der diese Doppelrolle, die lange gut auszuhalten war, final unmöglich macht. Die Erzählerin könnte auf die Lieferung leicht verzichten, besteht jedoch kafkaesk auf die Einhaltung der Verträge, während die Welt buchstäblich untergeht.
Selbst als die meisten Druckereien schon geschlossen sind, weil in Hongkong fast niemand mehr lebt, drückt die Erzählerin noch die Preise. Als die Krankheit auch in New York die Menschen dahinrafft, geht sie ungerührt weiter ins Büro, obwohl die Flure bald leer sind und sie die letzte ist, die überhaupt noch dort noch auftaucht. Als auch keine U-Bahnen mehr fahren, bezieht sie in ihrem Büro die Schlafcouch. Die letzte E-Mail, die sie schickt, wird schon niemanden mehr erreichen, alle sind tot, sie verhandelt mit niemandem mehr.
Eine globalisierte Jeunesse
dorée blickt mondän über die
Unterdrückung hinweg
Die Doppelrolle als Bürgerin
und Marktteilnehmerin macht
sie mit verantwortlich
Ling Ma: New York
Ghost. Roman.
Aus dem Englischen
von Zoë Beck.
Culturbooks, Berlin 2021. 360 Seiten, 23 Euro.
Naoise Dolan:
Aufregende Zeiten.
Roman. Aus dem
Englischen von
Anne-Kristin Mittag. Rowohlt, Hamburg 2021.
320 Seiten, 20 Euro.
Keine Stadt, sondern ein historischer Moment: Luftaufnahme von Hongkong.
Foto: Dale de la Rey/AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Kolonialismus frisst seine Kinder: In den Debütromanen von Naoise Dolan
und Ling Ma findet die westliche Zivilisation ihr Ende
VON FELIX STEPHAN
In Hongkong werden die Lehrpläne umgebaut. Die Buchhändler, Journalisten und Aktivisten sind verhaftet, die demokratischen Zeitungen geschlossen, das Parlament gleichgeschaltet. Eine wohlhabende, demokratische Millionenmetropole verschwindet hinter der großen chinesischen Firewall und niemand kann etwas dagegen unternehmen. Ihre größte Sorge bestehe darin, hat Angela Merkel einmal sinngemäß gesagt, dass die liberale Demokratie aus dem 21. Jahrhundert nicht als das vorherrschende System hervorgehen werde.
An diese Bemerkung denkt man jetzt wieder häufiger, zum Beispiel wenn man „Aufregende Zeiten“ liest, den Debütroman der erst 29-jährigen irischen Schriftstellerin Naoise Dolan. In dem Buch geht es um eine 22-jährige Ich-Erzählerin namens Ada, die vor ihrer kleinbürgerlichen irischen Familie nach Hongkong geflüchtet ist und dort jetzt teilnahmslos als Englischlehrerin arbeitet. Über die einschlägigen Expat-Bars gerät sie in Freundeskreise, in denen jeder reicher ist als sie, und weil deshalb häufig von sozialem Status und kleinen Unterschieden die Rede ist, wurde der Roman schnell mit Sally Rooneys „Normal People“ (2018) verglichen.
Viel näher liegt aber eigentlich der Vergleich mit George Orwells „Burmese Days“ (1934). Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete Orwell als Polizeioffizier in der britischen Kolonie Burma, nach seiner Rückkehr schrieb er angewidert diesen Roman über die Brutalität der englischen Kolonialherrschaft. In Südostastien liegt das Buch heute in jedem Touristenladen aus.
Im Mittelpunkt steht bei Orwell der „European Club“, der koloniale Salon, in dem sich die englische Elite trifft, um ihre vornehmen Konversationen zu führen, während draußen die Barbarei regiert. Die Welt, von der Naoise Dolan erzählt, ist so etwas wie der letzte Ausläufer dieses Salons: die junge englische Upper-Class, die sich gegenseitig in ihre Hongkonger Apartments einlädt und darüber spricht, auf welchen Schulen sie gewesen ist.
Zwei Beziehungen geht Ada im Laufe der Handlung ein: Zuerst trifft sie den jungen englischen Investmentbanker Julian, zieht bei ihm ein, sie schlafen miteinander, über seine Gefühle verliert er nie ein Wort. Dann trifft sie Edith, eine junge Hongkonger Anwältin. Diese Beziehung ist auf mehreren Ebenen aufregender, intimer und erfüllender, aber als Julian für das finale Kapitel „Edith und Julian“ nach Hongkong zurückkehrt, muss Ada sich entscheiden zwischen den zwei Beziehungen, die jeweils auch eine Daseinsform repräsentieren: Julian steht für das alte, weiße, reiche, patriarchale Europa, Edith für eine neue, asiatische, queere Zukunft. Dieser innere Konflikt führt zu einer gründlichen Selbstbefragung und Ada gelangt zu einer Erkenntnis, die für sie nicht unbedingt bequem ist: „Mir gefiel das gebieterische Klirren, wenn er seinen Gürtel öffnete.“
Dass außerhalb dieser schönen Apartments, der aufgeklärten Selbsterkundung, der Lästereien und Outings, die Hongkonger Demokratie in atemberaubendem Tempo abgeschafft wird, kommt in den gesamten Roman nur genau ein einziges Mal vor. Als Julian überlegt, sich endlich einen echten Fernseher anzuschaffen, um seine Filme nicht mehr ständig auf dem kleinen Laptop schauen zu müssen, und Ava bei dieser Gelegenheit spöttisch bemerkt, er gehe „echt auf die Dreißig zu“, steht da plötzlich der Satz: „Die Hongkonger Regierung hatte drei bekannte prodemokratische Studentenaktivisten festnehmen lassen.“ Darin besteht die stille Meisterschaft dieses Romans: Er bildet die Ignoranz seiner Protagonisten formal nach. Nur dieses eine Mal, wie in einem Moment der Unaufmerksamkeit, spricht er seinen Subtext aus. Konsequenzen ergeben sich daraus nicht, der „European Club“ der Gegenwart existiert nur noch als dekadentes Freiluftgehege. Die junge englische Geld-Elite, die ihre Zwanziger im tropischen Hongkong verbringt, beschäftigt sich mit sich selbst, und enthält sich ansonsten jeglichen Kommentars.
Man kann den Roman als Porträt einer globalisierten Jeunesse dorée lesen, die mondän über Diktatur und Unterdrückung in den Peripherien hinwegsehen kann. Er benennt aber auch den Preis, er besteht in der Mittäterschaft: Um ihren extravaganten Lebensstil, ihren kolonialen Status wenigstens als Simulation aufrechterhalten zu können, müssen sie über die Diktatur schweigen und machen sich auf diese Weise zu Komplizen. Auch die Erzählerin Ada geht den Faustischen Pakt schließlich ein. Sie reist mit Julian zurück nach Europa, einer finanziell sorglosen Zukunft entgegen, und überlässt Edith ihrem Schicksal. Ihre Verwandlung von der mittellosen Idealistin zu Julians künftiger Ehefrau vollzieht sich im letzten Satz: „Es war mir egal.“
Und Ada ist nicht einmal die einzige literarische Erzählerin in diesem Jahr, die sich aus niederen Motiven der chinesischen Diktatur unterwirft. Auch die sino-amerikanische Schriftstellerin Ling Ma hat in ihrem vielfach ausgezeichneten Debütroman „New York Ghost“ eine Figur entworfen, die vor demselben moralischen Dilemma steht und sich sogar noch brutaler verhält.
Mas Erzählerin arbeitet bei dem New Yorker Kunstbuchverlag „Spectra“ in der langweiligen, aber rentablen Abteilung für Bibeln und leidet darunter, nicht in der glamourösen Kunstabteilung tätig zu sein, wo die Modigliani- und Warhol-Bildbände von Frauen hergestellt werden, die schöner und weltläufiger sind als sie, und zu denen sie unbedingt aufschließen möchte. Die Bibeln werden in Hongkong und dem benachbarten Shenzhen gedruckt, regelmäßig fliegt sie hin, um mit den Lieferanten zu verhandeln.
„New York Ghost“ ist im Original schon 2018 erschienen, was deshalb nicht ganz unwichtig ist, weil im Mittelpunkt eine globale Pandemie steht, das sogenannte Shen-Fieber. Die Krankheit überträgt sich über die Atemluft und erfasst von China aus den ganzen Globus. Es ist ein bisschen schwindelerregend, wie detailliert Ling Ma die Phasen einer globalen Pandemie beschreibt, die Masken, das Home-Office, die verstopften Ausfallstraßen, über die sich die Städter zur Quarantäne aufs Land zurückziehen. Der Unterschied zur Corona-Pandemie besteht vor allem darin, dass das Shen-Fieber in kurzer Zeit zum Tode führt und in diesem Roman nur eine Handvoll Menschen überleben, die zufällig immun sind.
Wenn sie die Lieferanten besucht, wird die Erzählerin immer auch mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert. Sie ist in China zur Welt gekommen, sie spricht noch ein holpriges Kinderchinesisch und plaudert mit den Arbeitern über ihre Herkunftsregion, über ihre Onkel und Tanten, die noch immer in China leben. Stets steht ihr vor Augen, dass sie in diesem Lieferantenverhältnis jederzeit auf der anderen Seite stehen könnte, wenn ihre Eltern damals nicht nach Utah ausgewandert wären.
Aber um nicht rührselig zu werden, verdrängt sie ihre Angefasstheit und handelt die Verträge als Amerikanerin aus. Die Bedingungen stellen kein Problem dar: Sollte es in den Büchern Weltkarten geben, „müssen Tibet und China in derselben Farbe gedruckt werden“, erklären ihr die Arbeiter, „Sonst dürfen die Bibeln nicht ausgeliefert werden. Taiwan ebenfalls. Hongkong. Das alles muss in derselben Farbe wie China gedruckt sein. Wissen Sie, wir sind alle eins.“
Als die Druckerei später eine Lieferung platzen lässt, weil das Shen-Fieber wütet und das Leben der Arbeiter auf dem Spiel steht, kippt die Professionalität der Erzählerin ins offen Grausame: Sie treibt eine konkurrierende Firma auf, die bereit ist, ihre Angestellten für den Auftrag in den sicheren Tod gehen zu lassen. Auf diese Weise sichert sie den Nachschub im letzten Moment, aber als die Ladung mit den Bibeln auf dem Schiff ist, macht auch diese Firma dicht, „weil die Arbeiter gesundheitliche Probleme durch Pneumokoniose hatten. Ich machte nur meine Arbeit.“ Metaphorisch gesehen könnte man ihre Rolle so umreißen: Um an den begehrten Job in der Kunstbuchabteilung zu kommen, bringt sie ihre eigene Familie um.
Die Erzählerin ist für den westlichen Menschen insofern exemplarisch, als ihre Doppelrolle als Bürgerin und Marktteilnehmerin zu einem moralischen Dilemma wird, das ihr zwangsläufig eine Mitverantwortung für die Ausbeutungsverhältnisse am anderen Ende der Welt zuweist. Und anders als Naoise Dolans Erzählerin ist ihr das sogar bewusst.
Hongkong ist in diesem Buch weniger eine Stadt als ein historischer Moment, der diese Doppelrolle, die lange gut auszuhalten war, final unmöglich macht. Die Erzählerin könnte auf die Lieferung leicht verzichten, besteht jedoch kafkaesk auf die Einhaltung der Verträge, während die Welt buchstäblich untergeht.
Selbst als die meisten Druckereien schon geschlossen sind, weil in Hongkong fast niemand mehr lebt, drückt die Erzählerin noch die Preise. Als die Krankheit auch in New York die Menschen dahinrafft, geht sie ungerührt weiter ins Büro, obwohl die Flure bald leer sind und sie die letzte ist, die überhaupt noch dort noch auftaucht. Als auch keine U-Bahnen mehr fahren, bezieht sie in ihrem Büro die Schlafcouch. Die letzte E-Mail, die sie schickt, wird schon niemanden mehr erreichen, alle sind tot, sie verhandelt mit niemandem mehr.
Eine globalisierte Jeunesse
dorée blickt mondän über die
Unterdrückung hinweg
Die Doppelrolle als Bürgerin
und Marktteilnehmerin macht
sie mit verantwortlich
Ling Ma: New York
Ghost. Roman.
Aus dem Englischen
von Zoë Beck.
Culturbooks, Berlin 2021. 360 Seiten, 23 Euro.
Naoise Dolan:
Aufregende Zeiten.
Roman. Aus dem
Englischen von
Anne-Kristin Mittag. Rowohlt, Hamburg 2021.
320 Seiten, 20 Euro.
Keine Stadt, sondern ein historischer Moment: Luftaufnahme von Hongkong.
Foto: Dale de la Rey/AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2021Nullte Welle
Das älteste Virus: Die amerikanisch-chinesische Autorin Ling Ma hat mit "New York Ghost" lange vor Corona einen surreal-satirischen Pandemieroman geschrieben.
Einmal, vor Jahren schon, hat sich bei der sonst stets systemkompatiblen Candace Chen der Zweifel gemeldet: an der Erfüllung durch ihren wenig kreativen Job (Organisation der Herstellung und der Ausstattung von Themenbibeln, die allesamt in Asien gedruckt werden), auch wenn es ein New-York-Job war, am Times Square sogar. Sie hatte die Kündigung bereits formuliert, trödelte durch eine Filiale von Henri Bendel, befühlte die hauchdünnen Dessous und edlen Spitzen-Bodys: "Ich dachte über den Herstellungsprozess nach. Frivolitäten von solcher Schönheit konnten nur von hochspezialisierten Kunsthandwerkerinnen in italienischen Gebirgsausläufern gefertigt werden, die sich von Weichkäse und Blütenhonig ernährten. Vielleicht von Nonnen." Da ahnte sie schon, was sie auf dem Aufnäher finden würde: "'Made in China'. Natürlich. Egal, wohin man auch ging, man konnte sich den Realitäten dieser Welt nicht entziehen. Am Montag war ich wieder bei Spectra."
In dieser kurzen Passage, die lange vor der Kernhandlung von Ling Mas anregendem Debütroman "New York Ghost" spielt, ist vieles von dem, was das Buch auszeichnet, bereits vorhanden: eine ins Satirische übersteigerte, aber dennoch ernst gemeinte Kapitalismuskritik, die köstliche Bösartigkeit, mit der gelangweilte konsumistische Millennials porträtiert werden (deren seltenes Aufbegehren kaum über die Unterwäsche hinauskommt), vor allem aber die Eleganz und der Witz von Ling Mas detailversessenem, fast hyperrealistischem Stil, der in der bestechenden Übersetzung von Zoë Beck nichts von seiner unangestrengten Gegenwärtigkeit verloren hat. Selbst die seit Colson Whitehead informell existierende Anforderung an überragende New-York-Romane, dass sie mindestens eine Zombie-Apokalypse enthalten sollten, löst Ling Ma auf höchst unterhaltsame Weise ein, auch wenn ihre entvölkerte, von letzten Halbtoten durchstreifte, aber eisern markenfetischistische Stadt der Städte deutlich trauriger wirkt als der Moloch, der New York in "Zone One" immer noch war.
In leicht gruseliger Vorahnung erzählt die im Original bereits 2018 erschienene Dystopie "New York Ghost" von einer weltweiten, von China ausgehenden Pandemie, die zunächst zu Reaktionen führt, die wir zu Genüge kennen: Ableugnung, Verschwörungstheorien. KN95-Maskenvorschriften, Notbetrieb vieler Einrichtungen. Doch sie verläuft weit letaler. Mit Ausnahme weniger offenbar immuner Personen, zu denen die Protagonistin gehört - sie betreibt in ihrer Freizeit den Blog "New York Ghost", für den sie die verfallende Geisterstadt fotografisch dokumentiert -, rafft die Seuche weltweit die Menschen dahin. Und doch hat das "Shen-Fieber" mit Corona wenig gemein, handelt es sich hierbei doch vor allem um eine allegorische Angelegenheit: die ultimative Steigerung des ältesten Virus, jene alles in die Knechtschaft zwingende Gier, die längst global und neoliberal geworden ist. Die Fiebernden entwickeln eine eigentümliche Demenz, die sie auf eine einzige (Arbeits-)Routine zurückwirft. Diese wird so zwanghaft ausgeführt, dass die Infizierten darüber verhungern. Eine Welt voller welkender, in Wiederholungsschleifen gefangener Büro-, Einzelhandels- und Haushalts-Zombies: Damit hat Ling Ma ein Bild von ikonischer Kraft erschaffen.
Für Candace, jung, urban und ziellos, zudem schwanger von ihrem entschwundenen Freund, verläuft die Entwicklung freilich entgegengesetzt. Die alten Routinen hält sie länger durch als die meisten anderen Großstadtbewohner. Für eine fürstliche Entlohnung, obwohl Geld keine Rolle mehr spielt, hält sie in der sterbenden Stadt für ihren Arbeitgeber die Stellung, sitzt am Telefon, schreibt sinnlose E-Mails, ist ein letzter Außenposten des effizienzmaximierten Welthandels, und sie tut all das, weil sie nicht weiß, was man sonst überhaupt tun könnte. Das Erwachen folgt spät, mit dem Auslaufen ihres Arbeitsvertrags. Dann aber schließt sie sich einer Gruppe Überlebender an, die Richtung Chicago zieht und auf dem Weg Häuser "pirscht", also nach Lebensmitteln durchsucht und die angetroffenen Fiebernden kaltblütig erschießt (sie nennen es "Erlösung").
Angekommen im gelobten Land, erweist es sich als verlassene Mall, und der mal charismatische, mal klägliche Anführer der Gruppe entwickelt sich zu einem mit religiöser Autorität sprechenden Autokraten, der nicht nur Candace wegen eines vermeintlichen Vergehens bestraft. Da schlägt schon das Herz der nächsten Finsternis. Wie sich die Heldin schließlich aus dieser Situation befreit, ist konsequent, aber auch ernüchternd.
Erzählt wird auf zwei Zeitebenen. Ein langer Rückblick auf Candace' Jahre in New York - von WG-Erlebnissen über ihr Liebesleben bis zum stumpfen Arbeitsrhythmus bei Spectra - alterniert mit Berichten über den aufregenden Alltag in der surrealen Endzeit. Besonders spannend ist der schonungslose Blick aus postmigrantischer Perspektive (wie die Heldin wurde auch die Autorin in China geboren) auf das gar nicht schlechte, aber entkernte Leben im Zentrum des amerikanischen Traums, im windstillen Auge eines längst tobenden Sturms: Geld, Sex, Macht, all die mythischen Insignien der westlichen Überlegenheit, sind noch da, aber sie haben ihre Signifikanz verloren, sind zu leeren Routinen geworden, kaum anders als jene, die die Fiebernden roboterhaft abspulen. Am stärksten wirkt das Buch, wenn es in Form eines intellektuellen Pop-Romans eine Neo-Bohème aus Foucault-Lesern, Traumfängerworkshops und Woody-Allen-Nostalgie evoziert, die aber ihrerseits auf Sand gebaut ist. Erbarmungslos werden auch solche Reservate eines zumindest vagen Individualismus weggentrifiziert. Auflehnung gibt es nicht, siehe oben: die Realitäten dieser Welt.
Nicht alles ist gelungen an dem mit vielen Preisen bedachten Roman. So geht die Kapitalismuskritik, die unendlich oft durchgespielt wird - eine Straffung hätte gutgetan - und mitunter (so bei der asiatischen Fälschungskultur) ins Reportagehafte neigt, kaum über eine mit Lakonie gewürzte Entfremdungsklage hinaus. Zudem führt der dauernde krasse Wechsel der erzählerischen Fallhöhen zu Balanceproblemen. Es wirkt nur partiell gewollt komisch, wenn akribisch notierte Banalitäten des heutigen Großstadtlebens oder eine detaillierte Beschreibung der Sparpolitik, mit der ein Medienkonzern ein aufgekauftes Indie-Magazin qualitativ in den Ruin treibt, mit grausigen Berichten aus der apokalyptischen Nachzeit kollidieren. Und doch findet man derzeit kaum einen anderen Roman, der so mitreißend und gewitzt, so atmosphärisch dicht und von innen heraus den zwischen Überdruss und Untergangsängsten, zwischen blindem Systemvertrauen und depressiver Ziellosigkeit schwankenden emotionalen Seelenzustand der Generation Y, die sich wie die geisterhafte Nachhut einer an sich selbst erstickten Ideologie vorkommen muss, auf den Punkt bringt. OLIVER JUNGEN.
Ling Ma: "New York Ghost". Roman.
Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks Verlag, Hamburg 2021. 360 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das älteste Virus: Die amerikanisch-chinesische Autorin Ling Ma hat mit "New York Ghost" lange vor Corona einen surreal-satirischen Pandemieroman geschrieben.
Einmal, vor Jahren schon, hat sich bei der sonst stets systemkompatiblen Candace Chen der Zweifel gemeldet: an der Erfüllung durch ihren wenig kreativen Job (Organisation der Herstellung und der Ausstattung von Themenbibeln, die allesamt in Asien gedruckt werden), auch wenn es ein New-York-Job war, am Times Square sogar. Sie hatte die Kündigung bereits formuliert, trödelte durch eine Filiale von Henri Bendel, befühlte die hauchdünnen Dessous und edlen Spitzen-Bodys: "Ich dachte über den Herstellungsprozess nach. Frivolitäten von solcher Schönheit konnten nur von hochspezialisierten Kunsthandwerkerinnen in italienischen Gebirgsausläufern gefertigt werden, die sich von Weichkäse und Blütenhonig ernährten. Vielleicht von Nonnen." Da ahnte sie schon, was sie auf dem Aufnäher finden würde: "'Made in China'. Natürlich. Egal, wohin man auch ging, man konnte sich den Realitäten dieser Welt nicht entziehen. Am Montag war ich wieder bei Spectra."
In dieser kurzen Passage, die lange vor der Kernhandlung von Ling Mas anregendem Debütroman "New York Ghost" spielt, ist vieles von dem, was das Buch auszeichnet, bereits vorhanden: eine ins Satirische übersteigerte, aber dennoch ernst gemeinte Kapitalismuskritik, die köstliche Bösartigkeit, mit der gelangweilte konsumistische Millennials porträtiert werden (deren seltenes Aufbegehren kaum über die Unterwäsche hinauskommt), vor allem aber die Eleganz und der Witz von Ling Mas detailversessenem, fast hyperrealistischem Stil, der in der bestechenden Übersetzung von Zoë Beck nichts von seiner unangestrengten Gegenwärtigkeit verloren hat. Selbst die seit Colson Whitehead informell existierende Anforderung an überragende New-York-Romane, dass sie mindestens eine Zombie-Apokalypse enthalten sollten, löst Ling Ma auf höchst unterhaltsame Weise ein, auch wenn ihre entvölkerte, von letzten Halbtoten durchstreifte, aber eisern markenfetischistische Stadt der Städte deutlich trauriger wirkt als der Moloch, der New York in "Zone One" immer noch war.
In leicht gruseliger Vorahnung erzählt die im Original bereits 2018 erschienene Dystopie "New York Ghost" von einer weltweiten, von China ausgehenden Pandemie, die zunächst zu Reaktionen führt, die wir zu Genüge kennen: Ableugnung, Verschwörungstheorien. KN95-Maskenvorschriften, Notbetrieb vieler Einrichtungen. Doch sie verläuft weit letaler. Mit Ausnahme weniger offenbar immuner Personen, zu denen die Protagonistin gehört - sie betreibt in ihrer Freizeit den Blog "New York Ghost", für den sie die verfallende Geisterstadt fotografisch dokumentiert -, rafft die Seuche weltweit die Menschen dahin. Und doch hat das "Shen-Fieber" mit Corona wenig gemein, handelt es sich hierbei doch vor allem um eine allegorische Angelegenheit: die ultimative Steigerung des ältesten Virus, jene alles in die Knechtschaft zwingende Gier, die längst global und neoliberal geworden ist. Die Fiebernden entwickeln eine eigentümliche Demenz, die sie auf eine einzige (Arbeits-)Routine zurückwirft. Diese wird so zwanghaft ausgeführt, dass die Infizierten darüber verhungern. Eine Welt voller welkender, in Wiederholungsschleifen gefangener Büro-, Einzelhandels- und Haushalts-Zombies: Damit hat Ling Ma ein Bild von ikonischer Kraft erschaffen.
Für Candace, jung, urban und ziellos, zudem schwanger von ihrem entschwundenen Freund, verläuft die Entwicklung freilich entgegengesetzt. Die alten Routinen hält sie länger durch als die meisten anderen Großstadtbewohner. Für eine fürstliche Entlohnung, obwohl Geld keine Rolle mehr spielt, hält sie in der sterbenden Stadt für ihren Arbeitgeber die Stellung, sitzt am Telefon, schreibt sinnlose E-Mails, ist ein letzter Außenposten des effizienzmaximierten Welthandels, und sie tut all das, weil sie nicht weiß, was man sonst überhaupt tun könnte. Das Erwachen folgt spät, mit dem Auslaufen ihres Arbeitsvertrags. Dann aber schließt sie sich einer Gruppe Überlebender an, die Richtung Chicago zieht und auf dem Weg Häuser "pirscht", also nach Lebensmitteln durchsucht und die angetroffenen Fiebernden kaltblütig erschießt (sie nennen es "Erlösung").
Angekommen im gelobten Land, erweist es sich als verlassene Mall, und der mal charismatische, mal klägliche Anführer der Gruppe entwickelt sich zu einem mit religiöser Autorität sprechenden Autokraten, der nicht nur Candace wegen eines vermeintlichen Vergehens bestraft. Da schlägt schon das Herz der nächsten Finsternis. Wie sich die Heldin schließlich aus dieser Situation befreit, ist konsequent, aber auch ernüchternd.
Erzählt wird auf zwei Zeitebenen. Ein langer Rückblick auf Candace' Jahre in New York - von WG-Erlebnissen über ihr Liebesleben bis zum stumpfen Arbeitsrhythmus bei Spectra - alterniert mit Berichten über den aufregenden Alltag in der surrealen Endzeit. Besonders spannend ist der schonungslose Blick aus postmigrantischer Perspektive (wie die Heldin wurde auch die Autorin in China geboren) auf das gar nicht schlechte, aber entkernte Leben im Zentrum des amerikanischen Traums, im windstillen Auge eines längst tobenden Sturms: Geld, Sex, Macht, all die mythischen Insignien der westlichen Überlegenheit, sind noch da, aber sie haben ihre Signifikanz verloren, sind zu leeren Routinen geworden, kaum anders als jene, die die Fiebernden roboterhaft abspulen. Am stärksten wirkt das Buch, wenn es in Form eines intellektuellen Pop-Romans eine Neo-Bohème aus Foucault-Lesern, Traumfängerworkshops und Woody-Allen-Nostalgie evoziert, die aber ihrerseits auf Sand gebaut ist. Erbarmungslos werden auch solche Reservate eines zumindest vagen Individualismus weggentrifiziert. Auflehnung gibt es nicht, siehe oben: die Realitäten dieser Welt.
Nicht alles ist gelungen an dem mit vielen Preisen bedachten Roman. So geht die Kapitalismuskritik, die unendlich oft durchgespielt wird - eine Straffung hätte gutgetan - und mitunter (so bei der asiatischen Fälschungskultur) ins Reportagehafte neigt, kaum über eine mit Lakonie gewürzte Entfremdungsklage hinaus. Zudem führt der dauernde krasse Wechsel der erzählerischen Fallhöhen zu Balanceproblemen. Es wirkt nur partiell gewollt komisch, wenn akribisch notierte Banalitäten des heutigen Großstadtlebens oder eine detaillierte Beschreibung der Sparpolitik, mit der ein Medienkonzern ein aufgekauftes Indie-Magazin qualitativ in den Ruin treibt, mit grausigen Berichten aus der apokalyptischen Nachzeit kollidieren. Und doch findet man derzeit kaum einen anderen Roman, der so mitreißend und gewitzt, so atmosphärisch dicht und von innen heraus den zwischen Überdruss und Untergangsängsten, zwischen blindem Systemvertrauen und depressiver Ziellosigkeit schwankenden emotionalen Seelenzustand der Generation Y, die sich wie die geisterhafte Nachhut einer an sich selbst erstickten Ideologie vorkommen muss, auf den Punkt bringt. OLIVER JUNGEN.
Ling Ma: "New York Ghost". Roman.
Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks Verlag, Hamburg 2021. 360 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main