Im Oktober 1902 macht sich der 24jährige bretonische Marinearzt Victor Segalen auf den Weg zu seinem ersten Posten: für zwei Jahre wird er auf Tahiti stationiert sein. Er schifft sich in Le Havre nach New York ein und durchquert den amerikanischen Kontinent bis nach San Francisco. An Typhus erkrankt, bleibt er einen weiteren Monat in San Francisco. Er erkundet die Stadt, deren Umgebung und - von entscheidender Bedeutung für sein weiteres Leben und Schreiben - China Town. Am 11. Januar 1903 schifft er sich nach Tahiti ein ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2005Streulicht auf den Wellen
Gestufte Bilder: Victor Segalens Reisenotizen „New York - San Francisco - Tahiti”
Passagierdampfer, Zollschiffe, „Vergnügungsyachten in ausgewaschenen Farben” - bei der Ankunft in New York überschlagen sich die Sätze fast. Doch man lasse sich von der Lust an den Bildern nicht täuschen. In seinem Reisetagebuch wird der französische Schriftsteller Victor Segalen (1878-1919) die Metropolen der Neuen Welt so gründlich sezieren, dass sein Bonmot über das amerikanische Museum („ein Spind mit Anschauungsmaterial für Grundschüler”) glatt als Kompliment durchgehen kann.
Gerade 24 Jahre ist der Dichter aus Brest, als er im Oktober 1902 in Richtung Amerika aufbricht. Nach der Promotion will er für zwei Jahre auf den Inseln Polynesiens als Marinearzt arbeiten. Bevor er sich nach Tahiti einschifft, durchreist er den amerikanischen Kontinent, sammelt Bilder und sprachliche „Wunderlichkeiten”, die später in seine Werke eingehen werden. „Der weite Ozean, die Zonen zwischen den Wendekreisen, Polynesien, diese Staubkörner der Welt - als ich sie früher mit dem Blick auf einer großen Weltkarte durchquerte, habe ich mehr Staunen empfunden, als wenn ich sie jetzt in ihrer trübseligen Gegenwart durchfahre.” Hier spricht ein Ästhet, dem die Darstellung der Dinge das Wichtigste ist. Oft genügen Segalen ein paar Linien, ein Leuchtturm oder das Streulicht auf den Wellen - und aus seiner Beschreibung erwächst nach und nach eine Landschaft.
„Gestufte Bildebenen”, nennt er es einmal, dann „Kulissen des Alltags”, in denen die Erinnerung sich einnistet. Zuletzt geht es ihm stets um das subjektive Element im ästhetischen Vergnügen, um eine Wahrnehmung, die ihre kulturellen Filter kennt und sich niemals den Klischees des Touristischen hingibt.
In der Friedenauer Presse ist jetzt eine kleine Auswahl aus diesen Reisenotizen erschienen. Auf den ersten Blick ähneln die Einträge ein wenig jenem Wirrwarr der Bauformen, das Segalen einmal böse als „amerikanischen Stil” beschreibt. Gleichwohl ist es seine grandiose Sprache, die das Tagebuch im Innersten zusammenhält. Pointiert, ironisch, bisweilen verdreht, doch stets genau - als hätten ihm Heine und Flaubert gleichzeitig über die Schulter geschaut.
NICO BLEUTGE
VICTOR SEGALEN: New York - San Francisco - Tahiti. Aus dem Reisetagebuch Oktober 1902- Januar 1903. Hrsg. von Maria Zinfert. Friedenauer Presse, Berlin 2005. 32 Seiten, 9,50 Euro.
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Gestufte Bilder: Victor Segalens Reisenotizen „New York - San Francisco - Tahiti”
Passagierdampfer, Zollschiffe, „Vergnügungsyachten in ausgewaschenen Farben” - bei der Ankunft in New York überschlagen sich die Sätze fast. Doch man lasse sich von der Lust an den Bildern nicht täuschen. In seinem Reisetagebuch wird der französische Schriftsteller Victor Segalen (1878-1919) die Metropolen der Neuen Welt so gründlich sezieren, dass sein Bonmot über das amerikanische Museum („ein Spind mit Anschauungsmaterial für Grundschüler”) glatt als Kompliment durchgehen kann.
Gerade 24 Jahre ist der Dichter aus Brest, als er im Oktober 1902 in Richtung Amerika aufbricht. Nach der Promotion will er für zwei Jahre auf den Inseln Polynesiens als Marinearzt arbeiten. Bevor er sich nach Tahiti einschifft, durchreist er den amerikanischen Kontinent, sammelt Bilder und sprachliche „Wunderlichkeiten”, die später in seine Werke eingehen werden. „Der weite Ozean, die Zonen zwischen den Wendekreisen, Polynesien, diese Staubkörner der Welt - als ich sie früher mit dem Blick auf einer großen Weltkarte durchquerte, habe ich mehr Staunen empfunden, als wenn ich sie jetzt in ihrer trübseligen Gegenwart durchfahre.” Hier spricht ein Ästhet, dem die Darstellung der Dinge das Wichtigste ist. Oft genügen Segalen ein paar Linien, ein Leuchtturm oder das Streulicht auf den Wellen - und aus seiner Beschreibung erwächst nach und nach eine Landschaft.
„Gestufte Bildebenen”, nennt er es einmal, dann „Kulissen des Alltags”, in denen die Erinnerung sich einnistet. Zuletzt geht es ihm stets um das subjektive Element im ästhetischen Vergnügen, um eine Wahrnehmung, die ihre kulturellen Filter kennt und sich niemals den Klischees des Touristischen hingibt.
In der Friedenauer Presse ist jetzt eine kleine Auswahl aus diesen Reisenotizen erschienen. Auf den ersten Blick ähneln die Einträge ein wenig jenem Wirrwarr der Bauformen, das Segalen einmal böse als „amerikanischen Stil” beschreibt. Gleichwohl ist es seine grandiose Sprache, die das Tagebuch im Innersten zusammenhält. Pointiert, ironisch, bisweilen verdreht, doch stets genau - als hätten ihm Heine und Flaubert gleichzeitig über die Schulter geschaut.
NICO BLEUTGE
VICTOR SEGALEN: New York - San Francisco - Tahiti. Aus dem Reisetagebuch Oktober 1902- Januar 1903. Hrsg. von Maria Zinfert. Friedenauer Presse, Berlin 2005. 32 Seiten, 9,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Hingerissen schwärmt Hans-Jürgen Heinrichs von der Wiederentdeckung des großen Reiseschriftstellers und brillanten wie vielseitigen Amateurs Victor Segalen, der 1902 mit nur 24 Jahren als Arzt der Marine von Frankreich aus über New York und San Francisco nach Tahiti reiste, und dort unter anderem auch die Wege Gauguins beschritt. Das vorliegende Buch präsentiert einen Ausschnitt aus dem großen Reisebericht Journal des Iles, an dem sich gleichwohl sehr schön Segalens ethnologischer Blick, seine Begabung für die Fremde und für die Zusammenschau von Wirklichkeit und Imagination studieren lasse, begeistert sich der Rezensent und verweist auf zwei weitere in diesem Jahr erschienene Publikationen von Segalen, in die einen Blick zu werfen ebenfalls lohne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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