Aus dem Nachlass der großen Lyrikerin
Im August 2000 brach Sarah Kirsch mit ihrem Sohn zu einer Reise nach Cornwall und Devon auf, das Tagebuch immer parat - auf dem dänischen Schiff bei freundlichem Wetter über die Nordsee reisend, bei Quartiersuche in Penzance, »früher Heimat der Sardinen, dann Eldorado der Maler«, auf Spaziergängen, wo sie vom Wechselspiel der Farben über der See fasziniert ist: »silberweißes Spitzengrau wie für Herrn Turner, später das Meer schwarzer Lack«. Zu Fuß geht es auf die Insel St. Michael's Mount, durch das Rosamunde-Pilcher-Land mit »verzauberte kleene Häuserken und gloriose Gärten« jagt der Zug über Salzwiesen bis nach Torquay.
Die sprachliche Raffinesse, die einzigartigen Naturbeschreibungen und der scharfe Blick Sarah Kirschs machen ihre Reisebeobachtungen zu einem literarischen Kleinod. Einmal mehr zeigt sich das Vermögen der großen Lyrikerin, die sie umgebende Welt mit ihrer kraftvollen Bildsprache in Poesie zu verwandeln.
Ausstattung: mit Abb.
Im August 2000 brach Sarah Kirsch mit ihrem Sohn zu einer Reise nach Cornwall und Devon auf, das Tagebuch immer parat - auf dem dänischen Schiff bei freundlichem Wetter über die Nordsee reisend, bei Quartiersuche in Penzance, »früher Heimat der Sardinen, dann Eldorado der Maler«, auf Spaziergängen, wo sie vom Wechselspiel der Farben über der See fasziniert ist: »silberweißes Spitzengrau wie für Herrn Turner, später das Meer schwarzer Lack«. Zu Fuß geht es auf die Insel St. Michael's Mount, durch das Rosamunde-Pilcher-Land mit »verzauberte kleene Häuserken und gloriose Gärten« jagt der Zug über Salzwiesen bis nach Torquay.
Die sprachliche Raffinesse, die einzigartigen Naturbeschreibungen und der scharfe Blick Sarah Kirschs machen ihre Reisebeobachtungen zu einem literarischen Kleinod. Einmal mehr zeigt sich das Vermögen der großen Lyrikerin, die sie umgebende Welt mit ihrer kraftvollen Bildsprache in Poesie zu verwandeln.
Ausstattung: mit Abb.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2015Ihre Welt romantisiert sich selbst
Zeilen und Wunder: Sarah Kirschs nachgelassenes Reisebuch "Ænglisch" zeigt die kunstvoll verspielte Prosa der großen Dichterin.
Im August 2000 sticht die Dichterin Sarah Kirsch "in die britannische See". Aus ihrem Rückzugsort in Tielenhemme an der Eider geht die Reise diesmal nach Südengland, vom holsteinischen Ende der Welt nach Land's End. Es ist ihre sechste Reise nach Großbritannien, und sie hat ihr Reisetagebuch im Gepäck. 2012 hat sie es überarbeitet, ein Jahr vor ihrem Tod. Jetzt sind die Aufzeichnungen unter dem Titel "Ænglisch"aus Anlass des achtzigsten Geburtstags in einer schönen Ausgabe erschienen - ein guter Grund, noch einmal nach der eigenwilligen Poetik ihres Spätwerks zu fragen.
Schon in Büchern wie "Allerleih-Rauh" von 1988 hatte Sarah Kirsch tagebuchartige Aufzeichnungen mit poetischen Skizzen verbunden, und schon mit "Spreu" 1991 hatte sie dabei auch Beobachtungen zu ökologischen Entwicklungen zunehmend Raum gegeben. Die späten Bände unterscheiden sich davon im kleineren Umfang und in der Reduktion der einzelnen Einträge. Das hatte auch damit zu tun, dass die Prosa nun nicht mehr neue Gedichte flankierte, sondern an ihre Stelle trat. Schon Kirschs letztes Gedichtbuch, die 2001 erschienene "Schwanenliebe", las sich in der Zunahme fragmentarischer Zweizeiler und titelloser Kurzgedichte streckenweise wie ein poetisches Notizbuch, in dem die Übergänge zwischen lyrischem und Prosa-Gedicht verschwammen. "Zeilen und Wunder" nannte sie diese Texte, es war ihre Gattungsbezeichnung.
Dass zwischen den Zeilen die Wunder warteten, blieb ihre Hoffnung bis in die letzten Blätter. "Die Welt muß romantisirt werden" - aus der Spannung zwischen dem Postulat des Novalis und der Wirklichkeit der Welt, in der sie sich vorfand, war die Poesie der Sarah Kirsch hervorgegangen. Und wie ihre Mitstreiterinnen in der real existierenden DDR, wie Irmtraud Morgner oder Christa Wolf, mobilisierte sie mit der Berufung auf die Romantik auch die Kräfte der Phantasie zur Verteidigung des Individuellen, zur Selbstbehauptung der Poesie. Doch je länger sie schrieb, erst recht seit der Umsiedlung ins ländliche Dithmarschen, desto mehr nahm die Spannung zu zwischen Romantisierung und Welt, zwischen Eiderlandschaft und "dem entzückenden Atomkraftwerk Brunsbüttel". Da wird dann nur noch die Geste der poetischen Verwandlung zitiert, in provozierender Niedlichkeit.
Manche Leser argwöhnten, ihre Kraft reiche nicht mehr für durchgearbeitete Bände. Manchmal im britannischen Reisetagebuch scheint sie selbst die Angst zu beschleichen, ihr fiele nichts mehr ein. "Ja, so isses alles gewesen", notiert sie dann - und fügt, als falle ihr ein Stein vom Herzen, hinzu: "Und mir fällt immer was uffzuschreiben ein." Wirklich fällt ihr immer was ein, weil ihr überall was auffällt. "Im Zoo gestern hatten alle Thiere einen rosa Schein von der schönen umgebenden Erde." Das ist buchstäblich zu nehmen: Der rote Sandstein der Gegend ist schon zuvor ein paarmal aufgefallen, und nun schimmern also alle Zootiere rot, "alles leicht pink, das war lustig. Von denen Flamingos ganz zu schweigen, die standen im roten Wasser." Wie von selbst ergibt sich aus der sachlichen Beobachtung ein Bild der Verklärung. Im rosa Schein erscheint der Zoo wie ein wiedergekehrtes Paradies, und die eingesperrten Tiere sehen aus, als seien sie frei und zu Hause auf der "schönen umgebenden Erde" - dieser Erde, deren Glanz sich spiegelt im unmerklich daktylischen Rhythmus dieser Kadenz.
Die Dichterin, die das schreibt, hat Naturwissenschaften studiert; immer schon haben Sachkenntnis und Beobachtungsschärfe ihre Naturgedichte zuverlässig geerdet. Und immer schon konnte diese Erde vor ihrem poetischen Blick auf einmal aufleuchten im Schein des Schönen. Zauberhaft ist ihre Sprachkunst, im wörtlichen Sinne; als Fachliteratur für Hexen hatte sie selbst 1973 ihren Gedichtband "Zaubersprüche" empfohlen. Und wie bei den romantischen Vorläufern, so geht das auch bei ihr nur unter den Bedingungen ironischer Brechungen ab. Darum schreibt sie inmitten der Epiphanie "isses" und "uffzuschreiben", darum verbindet sie die forcierte Alltagssprache mit dem altmodisch behauchten "Thiere", und darum spricht sie mit der graziösen Flexionsform des achtzehnten Jahrhunderts "von denen Flamingos". Zwei Buchstaben genügen, um die rosa Vögel der Gegenwart entschweben zu lassen ins Zeitlos-Ungewisse.
Manche Kritiker haben Anstoß genommen an diesem Sprachspiel in Permanenz, das Sarah Kirsch seit 1965 gegen jeden Jargon entwickelt hatte und von dem sie zeitlebens nicht mehr abließ. Aber die manieristische Kunstsprache bleibt doch bis zuletzt produktiv, weil sie so reich und polyphon ist. Im englischen Tagebuch vermischt sich kindliche Orthographie wie "bekwehm" und "Erwaxene" mit der Liebe zu Luthers "Noth", zur barocken "Insul" und zum Mayröckerschen "diesz" und mit dem Vergnügen an Morgensterns Nonsens, mit "Mistwoch" und "Mohn-Tach". Auch die Fremdsprachen bezieht das Spiel ein: Eben weil ihr das Englische so wenig vertraut ist, sieht sie den "Ufersaum und cottages druff". Und in einem Satz wie "Jetzt sieht der Himmel trügerisch blanc aus" verbinden sich das Helle und das Blanke anmutig in einem kleinen Wort. Der von Peter Hacks so benannte und seither allzu oft zitierte "Sarah-Sound" - er blieb wandelbar bis zum Schluss, in ironischer Schnoddrigkeit und romantischem Märchenton.
Manche Sätze lesen sich darum wie komische Kürzestgeschichten: "Als wir an Bord gingen geleitete uns ein brauner aufrechter Hund, worinnen wahrscheinlich ein Mensch gesteckt hat." Darauf folgt nur die lapidare Feststellung: "So geht es so steht es." Der Satz, der diese Aufzeichnungen in Varianten durchzieht wie ein Leitmotiv, ist charakteristisch für ihre Haltung zur Welt: halb noch Staunen, halb schon achselzuckende Hinnahme, im Ton eines diskret ironischen Zitats. Das könnte auch von H. C. Artmann sein oder aus einem vergessenen Märchen der Brüder Grimm.
Nur lässt die späte Prosa immer mehr Banales ein als früher. Sie vermerkt Reisewege und wechselnde Qualitäten der Unterkünfte, Lektüren und Museumsbesuche, Reiseüblichkeiten, flüchtige Notizen. Dagegen müssen die Epiphanien ankommen, und wenn sie es tun, dann im kleinen Format und wie nebenbei. Nicht unter den Menschen entstehen sie zumeist, sondern abseits, zum Beispiel draußen auf See. "Ich sitze im Pub und schaue über das Wasser", notiert sie einmal, und wer diesem Blick folgt, bekommt immer wieder die erstaunlichsten Anblicke zu sehen. Das britannische Meer, das eben noch "so blau so blau in der Nacht" schimmerte, entzieht sich dem sehnsüchtigen Blick: "Später das Meer schwarzer Lack." Und manchmal ergeben sich kleine Gedichte ohne Verse: "Sehr sehr schön perlmuttfarben ist die See nach Westen hin, wo die Sonne nun versinkt, erhöht wie ein Gepürg." Und wie die Zeilen eines Haiku lesen sich die drei kurzen Sätze: "Nun kann ich das Wetter sehen. Sehr zart bewölkt, es wird sicher noch prachtvoll. Die Autos schlafen noch." Hier muss die Welt nicht romantisiert werden, hier romantisiert sie sich selbst.
Doch auch dann bleibt das Schöne nur der Anfang des Schrecklichen. Wer dem lackschwarzen Meer zu nahe kommt, den holt es, beim arglosen Spaziergang zum Beispiel, "die ganze Mole entlang, als die See schon nach uns leckte". Und wer den Schaum treiben sieht wie "weiße Lachen", ist schon im Bannkreis magischer Mächte: "Wurde auch versucht, das Schiff einzuwickeln in diese feingesponnenen kostbaren Tücher." Hier ist es das Passiv, in dem sich der Übergang ins Unheimliche vollzieht; der kleine Kunstgriff einer großen Dichterin.
Frank Trende, der diesen Band mit einem klugen Nachwort versehen hat, ist zuzustimmen, wenn er den eigenwilligen Rang dieser poetischen Tagebücher gegenüber dem lyrischen Lebenswerk hervorhebt. Das Letztere liegt in einer Gesamtausgabe vor, das Erstere ist noch immer über diverse Bände verstreut. Wenn sich zum achtzigsten Geburtstag der Dichterin auch ihre Leser etwas wünschen dürften, so wäre es eine Sammlung ihres prosaischen Spätwerks, so kundig und sensibel kommentiert wie dieses ænglische Diary.
HEINRICH DETERING
Sarah Kirsch: "Ænglisch". Prosa.
Mit einem Nachwort von Frank Trende. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 93 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeilen und Wunder: Sarah Kirschs nachgelassenes Reisebuch "Ænglisch" zeigt die kunstvoll verspielte Prosa der großen Dichterin.
Im August 2000 sticht die Dichterin Sarah Kirsch "in die britannische See". Aus ihrem Rückzugsort in Tielenhemme an der Eider geht die Reise diesmal nach Südengland, vom holsteinischen Ende der Welt nach Land's End. Es ist ihre sechste Reise nach Großbritannien, und sie hat ihr Reisetagebuch im Gepäck. 2012 hat sie es überarbeitet, ein Jahr vor ihrem Tod. Jetzt sind die Aufzeichnungen unter dem Titel "Ænglisch"aus Anlass des achtzigsten Geburtstags in einer schönen Ausgabe erschienen - ein guter Grund, noch einmal nach der eigenwilligen Poetik ihres Spätwerks zu fragen.
Schon in Büchern wie "Allerleih-Rauh" von 1988 hatte Sarah Kirsch tagebuchartige Aufzeichnungen mit poetischen Skizzen verbunden, und schon mit "Spreu" 1991 hatte sie dabei auch Beobachtungen zu ökologischen Entwicklungen zunehmend Raum gegeben. Die späten Bände unterscheiden sich davon im kleineren Umfang und in der Reduktion der einzelnen Einträge. Das hatte auch damit zu tun, dass die Prosa nun nicht mehr neue Gedichte flankierte, sondern an ihre Stelle trat. Schon Kirschs letztes Gedichtbuch, die 2001 erschienene "Schwanenliebe", las sich in der Zunahme fragmentarischer Zweizeiler und titelloser Kurzgedichte streckenweise wie ein poetisches Notizbuch, in dem die Übergänge zwischen lyrischem und Prosa-Gedicht verschwammen. "Zeilen und Wunder" nannte sie diese Texte, es war ihre Gattungsbezeichnung.
Dass zwischen den Zeilen die Wunder warteten, blieb ihre Hoffnung bis in die letzten Blätter. "Die Welt muß romantisirt werden" - aus der Spannung zwischen dem Postulat des Novalis und der Wirklichkeit der Welt, in der sie sich vorfand, war die Poesie der Sarah Kirsch hervorgegangen. Und wie ihre Mitstreiterinnen in der real existierenden DDR, wie Irmtraud Morgner oder Christa Wolf, mobilisierte sie mit der Berufung auf die Romantik auch die Kräfte der Phantasie zur Verteidigung des Individuellen, zur Selbstbehauptung der Poesie. Doch je länger sie schrieb, erst recht seit der Umsiedlung ins ländliche Dithmarschen, desto mehr nahm die Spannung zu zwischen Romantisierung und Welt, zwischen Eiderlandschaft und "dem entzückenden Atomkraftwerk Brunsbüttel". Da wird dann nur noch die Geste der poetischen Verwandlung zitiert, in provozierender Niedlichkeit.
Manche Leser argwöhnten, ihre Kraft reiche nicht mehr für durchgearbeitete Bände. Manchmal im britannischen Reisetagebuch scheint sie selbst die Angst zu beschleichen, ihr fiele nichts mehr ein. "Ja, so isses alles gewesen", notiert sie dann - und fügt, als falle ihr ein Stein vom Herzen, hinzu: "Und mir fällt immer was uffzuschreiben ein." Wirklich fällt ihr immer was ein, weil ihr überall was auffällt. "Im Zoo gestern hatten alle Thiere einen rosa Schein von der schönen umgebenden Erde." Das ist buchstäblich zu nehmen: Der rote Sandstein der Gegend ist schon zuvor ein paarmal aufgefallen, und nun schimmern also alle Zootiere rot, "alles leicht pink, das war lustig. Von denen Flamingos ganz zu schweigen, die standen im roten Wasser." Wie von selbst ergibt sich aus der sachlichen Beobachtung ein Bild der Verklärung. Im rosa Schein erscheint der Zoo wie ein wiedergekehrtes Paradies, und die eingesperrten Tiere sehen aus, als seien sie frei und zu Hause auf der "schönen umgebenden Erde" - dieser Erde, deren Glanz sich spiegelt im unmerklich daktylischen Rhythmus dieser Kadenz.
Die Dichterin, die das schreibt, hat Naturwissenschaften studiert; immer schon haben Sachkenntnis und Beobachtungsschärfe ihre Naturgedichte zuverlässig geerdet. Und immer schon konnte diese Erde vor ihrem poetischen Blick auf einmal aufleuchten im Schein des Schönen. Zauberhaft ist ihre Sprachkunst, im wörtlichen Sinne; als Fachliteratur für Hexen hatte sie selbst 1973 ihren Gedichtband "Zaubersprüche" empfohlen. Und wie bei den romantischen Vorläufern, so geht das auch bei ihr nur unter den Bedingungen ironischer Brechungen ab. Darum schreibt sie inmitten der Epiphanie "isses" und "uffzuschreiben", darum verbindet sie die forcierte Alltagssprache mit dem altmodisch behauchten "Thiere", und darum spricht sie mit der graziösen Flexionsform des achtzehnten Jahrhunderts "von denen Flamingos". Zwei Buchstaben genügen, um die rosa Vögel der Gegenwart entschweben zu lassen ins Zeitlos-Ungewisse.
Manche Kritiker haben Anstoß genommen an diesem Sprachspiel in Permanenz, das Sarah Kirsch seit 1965 gegen jeden Jargon entwickelt hatte und von dem sie zeitlebens nicht mehr abließ. Aber die manieristische Kunstsprache bleibt doch bis zuletzt produktiv, weil sie so reich und polyphon ist. Im englischen Tagebuch vermischt sich kindliche Orthographie wie "bekwehm" und "Erwaxene" mit der Liebe zu Luthers "Noth", zur barocken "Insul" und zum Mayröckerschen "diesz" und mit dem Vergnügen an Morgensterns Nonsens, mit "Mistwoch" und "Mohn-Tach". Auch die Fremdsprachen bezieht das Spiel ein: Eben weil ihr das Englische so wenig vertraut ist, sieht sie den "Ufersaum und cottages druff". Und in einem Satz wie "Jetzt sieht der Himmel trügerisch blanc aus" verbinden sich das Helle und das Blanke anmutig in einem kleinen Wort. Der von Peter Hacks so benannte und seither allzu oft zitierte "Sarah-Sound" - er blieb wandelbar bis zum Schluss, in ironischer Schnoddrigkeit und romantischem Märchenton.
Manche Sätze lesen sich darum wie komische Kürzestgeschichten: "Als wir an Bord gingen geleitete uns ein brauner aufrechter Hund, worinnen wahrscheinlich ein Mensch gesteckt hat." Darauf folgt nur die lapidare Feststellung: "So geht es so steht es." Der Satz, der diese Aufzeichnungen in Varianten durchzieht wie ein Leitmotiv, ist charakteristisch für ihre Haltung zur Welt: halb noch Staunen, halb schon achselzuckende Hinnahme, im Ton eines diskret ironischen Zitats. Das könnte auch von H. C. Artmann sein oder aus einem vergessenen Märchen der Brüder Grimm.
Nur lässt die späte Prosa immer mehr Banales ein als früher. Sie vermerkt Reisewege und wechselnde Qualitäten der Unterkünfte, Lektüren und Museumsbesuche, Reiseüblichkeiten, flüchtige Notizen. Dagegen müssen die Epiphanien ankommen, und wenn sie es tun, dann im kleinen Format und wie nebenbei. Nicht unter den Menschen entstehen sie zumeist, sondern abseits, zum Beispiel draußen auf See. "Ich sitze im Pub und schaue über das Wasser", notiert sie einmal, und wer diesem Blick folgt, bekommt immer wieder die erstaunlichsten Anblicke zu sehen. Das britannische Meer, das eben noch "so blau so blau in der Nacht" schimmerte, entzieht sich dem sehnsüchtigen Blick: "Später das Meer schwarzer Lack." Und manchmal ergeben sich kleine Gedichte ohne Verse: "Sehr sehr schön perlmuttfarben ist die See nach Westen hin, wo die Sonne nun versinkt, erhöht wie ein Gepürg." Und wie die Zeilen eines Haiku lesen sich die drei kurzen Sätze: "Nun kann ich das Wetter sehen. Sehr zart bewölkt, es wird sicher noch prachtvoll. Die Autos schlafen noch." Hier muss die Welt nicht romantisiert werden, hier romantisiert sie sich selbst.
Doch auch dann bleibt das Schöne nur der Anfang des Schrecklichen. Wer dem lackschwarzen Meer zu nahe kommt, den holt es, beim arglosen Spaziergang zum Beispiel, "die ganze Mole entlang, als die See schon nach uns leckte". Und wer den Schaum treiben sieht wie "weiße Lachen", ist schon im Bannkreis magischer Mächte: "Wurde auch versucht, das Schiff einzuwickeln in diese feingesponnenen kostbaren Tücher." Hier ist es das Passiv, in dem sich der Übergang ins Unheimliche vollzieht; der kleine Kunstgriff einer großen Dichterin.
Frank Trende, der diesen Band mit einem klugen Nachwort versehen hat, ist zuzustimmen, wenn er den eigenwilligen Rang dieser poetischen Tagebücher gegenüber dem lyrischen Lebenswerk hervorhebt. Das Letztere liegt in einer Gesamtausgabe vor, das Erstere ist noch immer über diverse Bände verstreut. Wenn sich zum achtzigsten Geburtstag der Dichterin auch ihre Leser etwas wünschen dürften, so wäre es eine Sammlung ihres prosaischen Spätwerks, so kundig und sensibel kommentiert wie dieses ænglische Diary.
HEINRICH DETERING
Sarah Kirsch: "Ænglisch". Prosa.
Mit einem Nachwort von Frank Trende. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 93 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Drei Gründe, die dieses Buch zu einer Empfehlung machen: die sprachliche Raffinesse, die literatur- und zeitgeschichtlichen Beobachtungen und [...] die einzigartigen Naturbetrachtungen.« WDR 3 - Mosaik, 31.03.2014