REZENSION - Ein sprachlich und atmosphärisch wunderbares und beeindruckendes Buch ist der 1970 erstveröffentlichte Roman „Nicht Anfang und nicht Ende“ des Schweizer Schriftstellers Plinio Martini (1923-1979), der zuletzt 2016 in deutschsprachiger Neuausgabe im Limmat-Verlag (Zürich) erschien. In
seinem 240-seitigen „Klassiker der Schweizer Literatur“, einer berührenden Liebes- und…mehrREZENSION - Ein sprachlich und atmosphärisch wunderbares und beeindruckendes Buch ist der 1970 erstveröffentlichte Roman „Nicht Anfang und nicht Ende“ des Schweizer Schriftstellers Plinio Martini (1923-1979), der zuletzt 2016 in deutschsprachiger Neuausgabe im Limmat-Verlag (Zürich) erschien. In seinem 240-seitigen „Klassiker der Schweizer Literatur“, einer berührenden Liebes- und Auswanderergeschichte, erzählt uns Martini, der selbst im kleinen Dorf Cavergno im Maggiatal als Sohn eines Bäckers mit sieben Brüdern in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und später dort und im Nachbarort Cevio als Volksschullehrer tätig war, vom kargen und harten Leben der alpinen Dorfbewohner in den Jahren zwischen den Weltkriegen.
Während heute die Schweiz im Ruf steht, ein Steuerparadies, das Land der Reichen und ein teures Urlaubsziel zu sein, schildert Martini in seiner melancholischen Liebeserklärung an die Heimat eine trostlose Region voller Armut, in dem die Bewohner mangels anderer Nahrung von Kastanien und Polenta, die Ärmsten oft sogar nur von Wassersuppe leben mussten. „Wir waren eine Insel außerhalb der Zeit, die letzte Hand voll Mehl auf dem Grunde des Sackes", lässt der Autor seinen Ich-Erzähler Gori sagen. "Schon damals begannen die Sommergäste ins Val Bavona und bis auf die Alpweiden vorzudringen, um uns zu besichtigen, als ob wir Rothäute wären.“ Damals träumten die jungen Männer des Maggiatals nur noch von der Auswanderung ins gelobte Land Amerika und einer späteren Rückkehr mit vielen Dollars in den Taschen.
Der Autor lässt uns Gori aus Cavergno seine Lebensgeschichte im Rückblick erzählen. Er war - wie viele junge Männer des Maggiatals schon vor ihm - tatsächlich 1929 nach Kalifornien ausgewandert, da er in der Heimat nur Hunger und Armut kannte und keine Aussicht auf Arbeit hatte. Nach einem langweiligen Leben als einsamer Cowboy auf einer Farm weitab jeglicher Zivilisation, kehrte er erst 20 Jahre später, krank vor Heimweh, in sein geliebtes Maggiatal zurück, in dem er einst seine einzige große Liebe Maddalena zurückgelassen hatte. Bei seiner Rückkehr findet er sein Maggiatal nicht mehr so vor, wie er es einst kannte. Maddalena ist schon vor Jahren gestorben, seine alte Mutter ist behindert und der Vater gebrechlich. Das ganze Maggiatal hat sich verändert. Die in der Fremde ersehnte Heimat ist selbst fremd geworden. Am liebsten würde er wieder in die USA zurückkehren. „Mein Friede besteht in dem Wissen, dass ich, wo ich auch sein mag, immer an das denken werde, was ich verloren habe.“
Dieser Roman, der mich in seiner Poesie und Liebe zum Maggiatal, seiner Ausdruckskraft, der Naturverbundenheit und auch gelegentlichen Härte stellenweise an den grandiosen Roman „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ (2016) des Österreichers Gerhard Jäger (1966-2018) erinnerte, wirkt so ungemein authentisch, als wäre es Plinio Martinis Autobiographie. Tatsächlich ist es etwas Ähnliches. Zwar sind alle Figuren fiktiv – mit Ausnahme des katholischen Pfarrer Don Giuseppe, der seine Dorfgemeinde fest im Griff hat. Doch die Handlung basiert auf realen Erlebnissen und tatsächlichen Begebenheiten. Schließlich hatte der Autor als Einwohner des kleinen Dorfes Cavergno selbst unter ärmlichen Verhältnissen leben müssen und war als dessen späterer Dorfschullehrer über viele Jahre ein Teil des dortigen Geschehens.
„Nicht Anfang und nicht Ende“ ist die ergreifende Geschichte von sehnsüchtigem Fernweh und krankhaftem Heimweh. „Häuschen, die sich mit offenen Türen eng zusammendrängten, um einander Gesellschaft zu leisten; zu einer Tür hinaus, zur nächsten hinein, und überall bist du zu Hause, unter Leuten deiner Art, die dich kennen und gern haben", heißt es in Martinis Roman über das Leben im Maggiatal. Erscheint diese Enge zwar bedrückend, bleibt sie doch vertraute Heimat und sichert Geborgenheit, während sich die Auswanderer in den Weiten Kaliforniens verlieren.