Der Privatdetektiv Arthur Koenen erhält einen schier unmöglichen Auftrag: Er soll herausfinden, ob der Vorsitzende einer großen Partei eine Affäre hat. Koenen hat Erfolg - und erfährt die Geschichte einer jungen Frau, eine Abgeordnete, die leidenschaftlich für ihre Überzeugungen und um eine hoffnungslose Liebe kämpft. Kurbjuweit ist mit Nicht ganz die Wahrheit ein fesselnder Berlin-Roman gelungen über eine große Liebe im Schatten der Politik, über drei Menschen in einem Gespinst aus Sehnsucht, Lügen und der Angst vor Entdeckung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2008Unter Verdacht
Dirk Kurbjuweit, Leiter des Hauptstadtbüros des "Spiegels", hat einen Roman über die heimliche Liebe des Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei geschrieben
Am Anfang ist man vor allem damit beschäftigt, alles und jeden zu entschlüsseln. Das wird aber relativ schnell langweilig, weil auf der einen Seite "der Bundeskanzler" als "der Automann" beschrieben wird und mit allen anderen Insignien so eindeutig als Gerhard Schröder gekennzeichnet ist und der Außenminister mit dem Abspeckwahn und der Sucht nach dem Blick in den Spiegel so klar dem Vorbild Joschka Fischer folgt, dass es da gar nichts groß zu entschlüsseln gibt: die Vorbilder liegen allzu offen zu Tage.
Und von diesen beiden erfährt man auch nicht wesentlich mehr, als damals, als Schröder und Fischer an der Macht waren, ohnehin in den Zeitungen stand. Sie bilden nur den Rahmen der Wirklichkeit, in die Dirk Kurbjuweit, einer der renommiertesten Journalisten des politischen Berlin, seinen neuen Roman "Nicht die ganze Wahrheit" gestellt hat. Es ist ein Roman aus der Regierungszentrale, der Roman eines Journalisten, der Tag für Tag die politischen Oberflächengeschichten des Hauptstadtalltags recherchiert und beschreibt und den jenseits dieser Oberflächen offenbar noch etwas ganz anderes interessiert. Was ist das? Es ist - die verborgene Seite in einem Geschäft, das täglich vor den Augen der Öffentlichkeit scheinbar bis in die letzten Seelenporen hinein ausgeleuchtet wird. Es ist die Geschichte eines Duells - zwischen den Politikern, die jede persönliche Regung, jede Emotion zwanghaft aus der Öffentlichkeit herauszuhalten versuchen - und dem Mann, der dahinter schauen will, der die Maskengesichter des politischen Alltags verabscheut, der das Duell endlich einmal für sich entscheiden will.
Es gibt einen Moment im Roman, den Moment, bevor der Protagonist, der SPD-Vorsitzende Leo Schilf, den man nicht so leicht entschlüsseln kann und auch nicht wirklich entschlüsseln muss, das Ergebnis seiner Wiederwahl erfährt. Ein schlechtes Ergebnis, 72 Prozent. Die Journalisten lauern vor seinem Gesicht: "Alle Objektive sind auf sein Gesicht gerichtet, damit sie den Moment einfangen können, in dem er das Urteil über sich hört. Sie wollen Regung, Schmerz, Freude. Schilf will Reglosigkeit. Das ist das Duell."
Es ist das Duell dieses Romans. Der Ich-Erzähler ist allerdings nicht Journalist, sondern Detektiv. Ein Mann also, der aus beruflichen Gründen die geheimsten Geheimnisse ausspionieren muss. So lautet sein Auftrag. Vielleicht eine etwas billige Verkleidung, kann sein. Vielleicht hätte es den Roman noch etwas abgründiger und gleichzeitig glaubwürdiger gemacht, wenn da einfach ein Journalist gesprochen hätte, ein Journalist aus der Welt der Alltagspolitik, mit dem unbändigen Drang, die wahren Geheimnisse seiner Berichterstattungsgegenstände zu erfahren.
Aber gut, es ist also ein Detektiv, und der bekommt zu Beginn des Buches ganz klassisch den Auftrag von der Frau des Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD, ihrem Mann eine Affäre nachzuweisen. Sie habe da so einen Verdacht.
Das Duell beginnt. Niemand ist so vorsichtig beim Verbergen seiner Geheimnisse wie ewig ausgeleuchtete Politiker. Der Detektiv droht zu scheitern, ist bereit, an die Affärenlosigkeit von Schilf zu glauben. Da fallen ihm die regelmäßigen Fahrstuhlfahrten auf, die der Spitzenpolitiker im Abgeordnetentrakt des Paul-Löbe-Hauses unternimmt. Immer 58 Sekunden sind es. Und diese 58 Sekunden sind die romantischen Sekunden im Leben des Vorsitzenden. Die Sekunden der Begegnung mit der schönen Rebellin aus den Reihen der Partei. Kurze Küsse im Aufzug - das ist der Beginn.
Dem Detektiv gelingt es, sich Zugang zum Mail-Account der Geliebten zu verschaffen. Die Mails, die die beiden wechseln, bilden das Gerüst des Romans. Die erste Mail schreibt er: ",Habe ich dich erschreckt?' Das ist der erste Satz. So beginnt ein Betrug", kommentiert der Detektiv. Kurbjuweit findet hier den treffenden Ton, als Leser erschaudert man, weil die Fiktion hier echter wirkt als jede echte Mail. Man durchlebt die langsame Annäherung, die Leidenschaft, die Heimlichkeit, das Leiden, die Suche nach dem Verborgenen, die Angst, und das Herz geht einem schneller beim Lesen. Die Mails, die die beiden wechseln, sind ein grandioser Briefroman der Liebe in Zeiten des Internets, der Liebe in der Politik, der Heimlichkeit im Unheimlichen.
Und je weiter diese Liebe geht, desto mehr liebt der Leser mit. Und auch der Detektiv, kühler Beobachter der größten Leidenschaften aus Profession, erleidet schwerste Mitgefühlsattacken.
Und immer wieder bricht die Politik hinein in das Geschehen. Im Hintergrund der Liebeszeit wütet der Kampf um ein Gesetz, das die Geliebte, die Parteirebellin, ein Gesetz zum Abwracken des Sozialstaats nennt und er, der Vorsitzende, einen notwendigen Schritt, um der Globalisierung zu begegnen. Eine Art Agenda 2010. Vor diesem Hintergrund schreiben sich die beiden ihre Liebesmails. Es geht um Parteigehorsam und romantische Folgsamkeit, geht um Eigensinn und wahre Liebe. Der Kanzler, bester Freund des Parteivorsitzenden, lässt die Rebellin ins Kanzleramt kommen. Doch sie bleibt widerständig.
Dass dieses Buch, das die letzten Geheimnisse der Geheimnisträger enthüllen will, trotzdem ein ungemein diskretes, romantisches Buch aus dem politischen Berlin der jüngsten Vergangenheit geworden ist, liegt an der Liebe des Autors zu den Figuren, die er beschreibt. Wie er sich die über die Jahre seiner professionellen Beobachtungswut des politischen Personals bewahrt hat, bleibt sein Geheimnis und seine große Kunst.
VOLKER WEIDERMANN
Dirk Kurbjuweit: "Nicht die ganze Wahrheit". Nagel und Kimche, 220 S., 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dirk Kurbjuweit, Leiter des Hauptstadtbüros des "Spiegels", hat einen Roman über die heimliche Liebe des Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei geschrieben
Am Anfang ist man vor allem damit beschäftigt, alles und jeden zu entschlüsseln. Das wird aber relativ schnell langweilig, weil auf der einen Seite "der Bundeskanzler" als "der Automann" beschrieben wird und mit allen anderen Insignien so eindeutig als Gerhard Schröder gekennzeichnet ist und der Außenminister mit dem Abspeckwahn und der Sucht nach dem Blick in den Spiegel so klar dem Vorbild Joschka Fischer folgt, dass es da gar nichts groß zu entschlüsseln gibt: die Vorbilder liegen allzu offen zu Tage.
Und von diesen beiden erfährt man auch nicht wesentlich mehr, als damals, als Schröder und Fischer an der Macht waren, ohnehin in den Zeitungen stand. Sie bilden nur den Rahmen der Wirklichkeit, in die Dirk Kurbjuweit, einer der renommiertesten Journalisten des politischen Berlin, seinen neuen Roman "Nicht die ganze Wahrheit" gestellt hat. Es ist ein Roman aus der Regierungszentrale, der Roman eines Journalisten, der Tag für Tag die politischen Oberflächengeschichten des Hauptstadtalltags recherchiert und beschreibt und den jenseits dieser Oberflächen offenbar noch etwas ganz anderes interessiert. Was ist das? Es ist - die verborgene Seite in einem Geschäft, das täglich vor den Augen der Öffentlichkeit scheinbar bis in die letzten Seelenporen hinein ausgeleuchtet wird. Es ist die Geschichte eines Duells - zwischen den Politikern, die jede persönliche Regung, jede Emotion zwanghaft aus der Öffentlichkeit herauszuhalten versuchen - und dem Mann, der dahinter schauen will, der die Maskengesichter des politischen Alltags verabscheut, der das Duell endlich einmal für sich entscheiden will.
Es gibt einen Moment im Roman, den Moment, bevor der Protagonist, der SPD-Vorsitzende Leo Schilf, den man nicht so leicht entschlüsseln kann und auch nicht wirklich entschlüsseln muss, das Ergebnis seiner Wiederwahl erfährt. Ein schlechtes Ergebnis, 72 Prozent. Die Journalisten lauern vor seinem Gesicht: "Alle Objektive sind auf sein Gesicht gerichtet, damit sie den Moment einfangen können, in dem er das Urteil über sich hört. Sie wollen Regung, Schmerz, Freude. Schilf will Reglosigkeit. Das ist das Duell."
Es ist das Duell dieses Romans. Der Ich-Erzähler ist allerdings nicht Journalist, sondern Detektiv. Ein Mann also, der aus beruflichen Gründen die geheimsten Geheimnisse ausspionieren muss. So lautet sein Auftrag. Vielleicht eine etwas billige Verkleidung, kann sein. Vielleicht hätte es den Roman noch etwas abgründiger und gleichzeitig glaubwürdiger gemacht, wenn da einfach ein Journalist gesprochen hätte, ein Journalist aus der Welt der Alltagspolitik, mit dem unbändigen Drang, die wahren Geheimnisse seiner Berichterstattungsgegenstände zu erfahren.
Aber gut, es ist also ein Detektiv, und der bekommt zu Beginn des Buches ganz klassisch den Auftrag von der Frau des Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD, ihrem Mann eine Affäre nachzuweisen. Sie habe da so einen Verdacht.
Das Duell beginnt. Niemand ist so vorsichtig beim Verbergen seiner Geheimnisse wie ewig ausgeleuchtete Politiker. Der Detektiv droht zu scheitern, ist bereit, an die Affärenlosigkeit von Schilf zu glauben. Da fallen ihm die regelmäßigen Fahrstuhlfahrten auf, die der Spitzenpolitiker im Abgeordnetentrakt des Paul-Löbe-Hauses unternimmt. Immer 58 Sekunden sind es. Und diese 58 Sekunden sind die romantischen Sekunden im Leben des Vorsitzenden. Die Sekunden der Begegnung mit der schönen Rebellin aus den Reihen der Partei. Kurze Küsse im Aufzug - das ist der Beginn.
Dem Detektiv gelingt es, sich Zugang zum Mail-Account der Geliebten zu verschaffen. Die Mails, die die beiden wechseln, bilden das Gerüst des Romans. Die erste Mail schreibt er: ",Habe ich dich erschreckt?' Das ist der erste Satz. So beginnt ein Betrug", kommentiert der Detektiv. Kurbjuweit findet hier den treffenden Ton, als Leser erschaudert man, weil die Fiktion hier echter wirkt als jede echte Mail. Man durchlebt die langsame Annäherung, die Leidenschaft, die Heimlichkeit, das Leiden, die Suche nach dem Verborgenen, die Angst, und das Herz geht einem schneller beim Lesen. Die Mails, die die beiden wechseln, sind ein grandioser Briefroman der Liebe in Zeiten des Internets, der Liebe in der Politik, der Heimlichkeit im Unheimlichen.
Und je weiter diese Liebe geht, desto mehr liebt der Leser mit. Und auch der Detektiv, kühler Beobachter der größten Leidenschaften aus Profession, erleidet schwerste Mitgefühlsattacken.
Und immer wieder bricht die Politik hinein in das Geschehen. Im Hintergrund der Liebeszeit wütet der Kampf um ein Gesetz, das die Geliebte, die Parteirebellin, ein Gesetz zum Abwracken des Sozialstaats nennt und er, der Vorsitzende, einen notwendigen Schritt, um der Globalisierung zu begegnen. Eine Art Agenda 2010. Vor diesem Hintergrund schreiben sich die beiden ihre Liebesmails. Es geht um Parteigehorsam und romantische Folgsamkeit, geht um Eigensinn und wahre Liebe. Der Kanzler, bester Freund des Parteivorsitzenden, lässt die Rebellin ins Kanzleramt kommen. Doch sie bleibt widerständig.
Dass dieses Buch, das die letzten Geheimnisse der Geheimnisträger enthüllen will, trotzdem ein ungemein diskretes, romantisches Buch aus dem politischen Berlin der jüngsten Vergangenheit geworden ist, liegt an der Liebe des Autors zu den Figuren, die er beschreibt. Wie er sich die über die Jahre seiner professionellen Beobachtungswut des politischen Personals bewahrt hat, bleibt sein Geheimnis und seine große Kunst.
VOLKER WEIDERMANN
Dirk Kurbjuweit: "Nicht die ganze Wahrheit". Nagel und Kimche, 220 S., 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Sehr schön" und dicht findet Rezensent Jochen Jung diesen Roman, der seinen Informationen zufolge im politischen Milieu der deutschen Hauptstadt angesiedelt ist. Aber "schön" bedeutet für den Rezensenten noch immer nicht "wirklich gut", wie man dem Ton seiner Kritik recht deutlich entnehmen kann. Es gehe um einen Bundeskanzler und seine Liebesaffäre, lesen wir. Und zu den Qualitäten dieses aus der "fast altmodisch anmutenden Perspektive" eines Privatdetektivs geschriebenen Buchs zählt für den Rezensenten, dass es Dirk Kurbjuweit nicht um das Große und Ganze geht, sondern um die Verquickung von Politik und Leidenschaft. Aber es hätte wohl ruhig ein bisschen mehr sein dürfen. Ein politischer Roman zum Beispiel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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