WAR DIE NATO-OSTERWEITERUNG ALTERNATIVLOS? MARY E. SAROTTES GRUNDLAGENWERK
Not one inch eastwards - nicht einen Schritt weiter nach Osten. Mit diesen Worten schlug US-Außenminister James Baker Gorbatschow im Rahmen der Verhandlungen um die deutsche Wiedervereinigung einen hypothetischen Handel vor: Ihr gebt euren Teil Deutschlands frei, wir verrücken die Nato nicht nach Osten. Seitdem ranken sich um dieses Gespräch zahlreiche Legenden und Kontroversen. Gab es ein Versprechen des Westens, sich nicht auszudehnen? Und wie kam es zu der heute so umstrittenen Nato-Osterweiterung? Mary Elise Sarotte hat Unmengen von Archivmaterial durchforstet, um eine der großen politischen Streitfragen unserer Zeit zu klären. In ihrem grundlegenden Buch führt sie in das entscheidende Jahrzehnt zwischen dem Mauerfall und dem Aufstieg Putins. Dabei zeigt sie, warum es nicht zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa kam und wie damals die Saat gelegt wurde für die Spannungen, die unsere heutige Welt bestimmen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges träumten viele von einem «gemeinsamen Haus Europa», vom «Ende der Geschichte» und vom Anbruch eines friedlichen Zeitalters. Doch schon bald verdüsterte sich das Bild. Die Sowjetunion zerfiel im Dezember 1991 und hinterließ ein Machtvakuum. Moskaus blutiger Krieg in Tschetschenien verunsicherte seit 1994 Beobachter im Westen, vor allem aber auch in den Nachfolgestaaten des Warschauer Paktes. So setzten sich in Washington schließlich die Befürworter der Nato-Osterweiterung durch. Am Ende war Europa erneut von einer klaren Trennlinie durchzogen, die Mitglieder von Nicht-Mitgliedern trennte. Nur lag diese Linie jetzt einige hundert Kilometer weiter östlich. Wer es in die Nato geschafft hatte, befand sich in Sicherheit. Doch insbesondere für die Ukraine wurde es dadurch schwieriger, sich aus dem russischen Orbit zu lösen. Mary Elise Sarotte erzählt, wie die Entscheidung für die Nato-Osterweiterung zustande kam, und fragt, ob es Alternativen gegeben hätte. Dabei zeigt sie, wie spannend Geschichte sein kann, wenn man es versteht, sie packend zu erzählen.
Eines der politisch umstrittensten Themen unserer Zeit Das hochgelobte Grundlagenwerk jetzt auf Deutsch
Viele unbekannte Archivquellen, spannend geschrieben
Vom Mauerfall bis zum Nato-Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns Die 90er Jahre waren eine Zeit verpasster Gelegenheiten Statt einer neuen Friedensordnung entstand ein konfliktträchtiges Patt Wenn man die Debatte seriös führen will, kommt man an diesem Buch nicht vorbei
Not one inch eastwards - nicht einen Schritt weiter nach Osten. Mit diesen Worten schlug US-Außenminister James Baker Gorbatschow im Rahmen der Verhandlungen um die deutsche Wiedervereinigung einen hypothetischen Handel vor: Ihr gebt euren Teil Deutschlands frei, wir verrücken die Nato nicht nach Osten. Seitdem ranken sich um dieses Gespräch zahlreiche Legenden und Kontroversen. Gab es ein Versprechen des Westens, sich nicht auszudehnen? Und wie kam es zu der heute so umstrittenen Nato-Osterweiterung? Mary Elise Sarotte hat Unmengen von Archivmaterial durchforstet, um eine der großen politischen Streitfragen unserer Zeit zu klären. In ihrem grundlegenden Buch führt sie in das entscheidende Jahrzehnt zwischen dem Mauerfall und dem Aufstieg Putins. Dabei zeigt sie, warum es nicht zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa kam und wie damals die Saat gelegt wurde für die Spannungen, die unsere heutige Welt bestimmen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges träumten viele von einem «gemeinsamen Haus Europa», vom «Ende der Geschichte» und vom Anbruch eines friedlichen Zeitalters. Doch schon bald verdüsterte sich das Bild. Die Sowjetunion zerfiel im Dezember 1991 und hinterließ ein Machtvakuum. Moskaus blutiger Krieg in Tschetschenien verunsicherte seit 1994 Beobachter im Westen, vor allem aber auch in den Nachfolgestaaten des Warschauer Paktes. So setzten sich in Washington schließlich die Befürworter der Nato-Osterweiterung durch. Am Ende war Europa erneut von einer klaren Trennlinie durchzogen, die Mitglieder von Nicht-Mitgliedern trennte. Nur lag diese Linie jetzt einige hundert Kilometer weiter östlich. Wer es in die Nato geschafft hatte, befand sich in Sicherheit. Doch insbesondere für die Ukraine wurde es dadurch schwieriger, sich aus dem russischen Orbit zu lösen. Mary Elise Sarotte erzählt, wie die Entscheidung für die Nato-Osterweiterung zustande kam, und fragt, ob es Alternativen gegeben hätte. Dabei zeigt sie, wie spannend Geschichte sein kann, wenn man es versteht, sie packend zu erzählen.
Eines der politisch umstrittensten Themen unserer Zeit Das hochgelobte Grundlagenwerk jetzt auf Deutsch
Viele unbekannte Archivquellen, spannend geschrieben
Vom Mauerfall bis zum Nato-Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns Die 90er Jahre waren eine Zeit verpasster Gelegenheiten Statt einer neuen Friedensordnung entstand ein konfliktträchtiges Patt Wenn man die Debatte seriös führen will, kommt man an diesem Buch nicht vorbei
Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension
Der Tagesspiegel und die FR interviewen die amerikanische Historikerin Mary Sarotte über die Verhandlungen zur NATO-Ost-Erweiterung in den 1990ern, über die sie jüngst ein Buch veröffentlicht hat. Der Vertrag sah letztendlich ein Versprechen der USA vor, die Ukraine nicht aufzunehmen, Russland kassierte überdies noch Geld, erklärt Sarotte im FR-Interview mit Michael Heese.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2023Wider Moskaus Mythen
Mary Elise Sarotte schlägt Putin seine Waffe der Geschichtsklitterung aus der Hand und erzählt die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung.
Haben sie, oder haben sie nicht? Haben die Amerikaner den Russen versprochen, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, oder haben sie nicht? Damals, Anfang der 1990er-Jahre, als sie noch miteinander verhandelten - anders als heute, wo sie in der Ukraine indirekt gegeneinander Krieg führen, was Moskaus Propaganda unter anderem mit dem angeblich gebrochenen Versprechen der Amerikaner vor mehr drei Jahrzehnten begründet. Mary Elise Sarotte ist dieser bis heute umstrittenen Frage nachgegangen. Und sie hat Antworten gefunden. Antworten, die nicht jedem gefallen werden - je nach Standpunkt. Sarotte, die den Kravis-Lehrstuhl für Geschichte an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies innehat und dem Center for European Studies in Harvard und dem Council on Foreign Relations angehört, hat Einsichten erhalten, die nicht nur ihr bislang nicht möglich waren, sondern der Forschung an sich. Sarotte hatte zuvor zwei Jahrzehnte um die Freigabe von Dokumenten zur Geschichte der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland gekämpft. Dann - 2018 - wurden beinahe alle Protokolle der Treffen zwischen Bill Clinton und Boris Jelzin freigegeben.
Auf dieser Grundlage - ergänzt durch weitere Quellen - zeichnet Sarotte, die das Wendejahr 1989 als Austauschstudentin in West-Berlin erlebte, die Entwicklungen nach, über deren wahren Verlauf bis heute Uneinigkeit nicht zuletzt unter den damaligen Akteuren herrscht. Nach ihrer Erzählung entstand die Idee, es werde keine NATO-Osterweiterung nach dem Ende des alten Kalten Krieges geben, als Gedankenspiel während der diplomatischen Kontakte, die 1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands führten. Dabei zeigen die Belege, die Sarotte vorliegen, im Gegensatz zu späteren Behauptungen von Michail Gorbatschow, dass James Baker und Hans-Dietrich Genscher das spekulative Konzept einer potentiellen Nichterweiterung nicht nur miteinander, sondern auch mit Gorbatschow als letztem sowjetischen Präsidenten diskutierten.
Doch bereits im Februar 1990 legte George H. W. Bush nach der Schilderung von Sarotte seinem Außenminister nahe, mit solchen Erörterungen aufzuhören. Bush habe die hypothetische Idee eines Versprechens, das eine künftige Bewegung der NATO nach Osten blockierte, für unnötig und unklug gehalten. In der Folge informierte Baker das Auswärtige Amt in Bonn, man solle derlei Ideen fallen lassen.
Wie konnte sich dann der bis heute höchst lebendige Mythos bilden, die Amerikaner hätten ein gegenteiliges Versprechen gegeben? Für Sarotte war es Genscher, der die Idee am Leben hielt. Der bundesdeutsche Außenminister habe weiterhin angedeutet, die NATO werde entweder die Erweiterung stoppen oder in einer größeren Organisation "aufgehen". Diplomaten der unteren Ebenen hätten dann Genschers Gedanken in ihren Kontakten mit sowjetischen Kollegen wiederholt. Nach der Beobachtung von Sarotte taten sie es in der irrtümlichen Überzeugung, es sei immer noch offizielle Politik, oder nutzten es als Hilfsmittel in den Verhandlungen. Allerdings war es in beiden Fällen nicht mehr die Linie ihrer Regierungschefs.
So führte Genschers Hartnäckigkeit laut Sarotte nicht nur zu internen Zusammenstößen mit Helmut Kohl, der von Bush überzeugt worden war, ein Versprechen der Nichterweiterung sei unerwünscht, sondern auch zwischen der Bundesrepublik und ihren Verbündeten. Denn neben den Vereinigten Staaten bestanden Frankreich und Großbritannien ebenfalls darauf, der Abschlussvertrag zur deutschen Einheit müsse drei Ziele erreichen: erstens, die explizite Erlaubnis für die NATO, ihre Sicherheitsgarantie von Artikel 5 auf Ostdeutschland auszudehnen; zweitens, die damit verbundene Erlaubnis für NATO-Truppen, die ehemalige deutsch-deutsche Grenzlinie zu überschreiten; und drittens, kein explizites Verbot einer künftigen Bewegung der NATO nach Osten.
Genscher und Baker ergänzten den Vertragsentwurf durch eine Protokollnotiz, die festlegte, dass nichtdeutsche NATO-Truppen die frühere innerdeutsche Grenze dann überschreiten dürften, wenn dies nicht als Verlegung bezeichnet würde. Für die Definition einer solchen sollte die Regierung des vereinten Deutschlands verantwortlich sein. Dem stimmten alle Verhandlungspartner zu. Auch Moskau ratifizierte den Vertrag.
Sehr anschaulich führt Sarotte vor Augen, wie schließlich die Auflösung der Sowjetunion Ende Dezember 1991 und die rasche Entstehung zahlreicher Nachfolgestaaten neue Unsicherheiten und Streitigkeiten schufen: Während die NATO der Auffassung war, dass der Zwei-plus-vier-Vertrag eine Erweiterung auf Länder östlich von Deutschland erlaube, weil er den Präzedenzfall gesetzt habe, Sicherheitsgarantie und NATO-Truppen über die Grenzlinie des alten Kalten Krieges vorzuschieben, und darüber hinaus eine weitere Vergrößerung des Bündnisgebietes nicht ausschloss, vertrat Russland als Nachfolger der Sowjetunion die Position, der Vertrag verbiete die Erweiterung östlich von Deutschland. Hier spielten zwei Faktoren eine Rolle: zum einen weiterhin die spekulativen Äußerungen über ein solches Verbot während der Verhandlungen Anfang 1990; zum anderen die Passage im Vertrag, die eine begrenzte Aktivität der Atlantischen Allianz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erlaubte, wobei die Implikation war, dass solche Sätze für andere Länder fehlten.
Sarotte ruft die vielen Gespräche zwischen West und Ost in Erinnerung, um den russischen Widerstand gegen die Erweiterung in Mittel- und Osteuropa abzumildern. Ein Ergebnis war 1997 die NATO-Russland-Grundakte. Doch auch sie wurde zum Zankapfel: Direkt nach der Unterzeichnung schrieb Jelzin ihr Befugnisse zu, die sie nicht besaß, wie auch Sarotte betont, etwa, es sei der NATO verboten, militärische Infrastruktur des früheren Warschauer Pakts zu nutzen.
Wie sehr Jelzins Nachfolger Putin auf dieser Klaviatur falscher Behauptungen weitergespielt hat und bis heute spielt, spiegelt sich in seinen Reden vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, zur Annexion der Krim 2014 und vor der Invasion der Ukraine. Im Dezember 2021 versuchte er in der Lesart von Sarotte sogar, bestimmte Konflikte aus der Geschichte der NATO-Erweiterung neu auszukämpfen, doch dieses Mal mit Russland als "Sieger". Und in der Tat ließ Putin einen "Vertragsentwurf" an die NATO senden, in dem er darauf bestand, dass die Truppen der Nordatlantischen Allianz auf ihre Standorte vom 27. Mai 1997 zurückkehren - dem Tag der Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte. Damit versuchte Putin nach dem Urteil von Sarotte, die falsche Behauptung von Jelzin, die Grundakte verbiete es der NATO, Infrastruktur des früheren Warschauer Pakts in ihr Bündnis zu integrieren, nachträglich durchzusetzen.
Dabei hatten die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas nach dem Ende des alten Kalten Krieges jedes Recht gehabt, den Beitritt anzustreben, ebenso wie die Allianz jedes Recht hatte, sie aufzunehmen - wie Sarotte wohltuend herausarbeitet, ergänzend um den Hinweis, dass Moskau bereits 1975 in der KSZE-Schlussakte zugestimmt hatte, dass Länder ihre Sicherheitsallianzen wählen könnten. Und das war noch mitten im alten Kalten Krieg - im neuen scheint sich der Kreml daran nicht mehr erinnern zu wollen. THOMAS SPECKMANN
Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 397 S., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mary Elise Sarotte schlägt Putin seine Waffe der Geschichtsklitterung aus der Hand und erzählt die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung.
Haben sie, oder haben sie nicht? Haben die Amerikaner den Russen versprochen, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, oder haben sie nicht? Damals, Anfang der 1990er-Jahre, als sie noch miteinander verhandelten - anders als heute, wo sie in der Ukraine indirekt gegeneinander Krieg führen, was Moskaus Propaganda unter anderem mit dem angeblich gebrochenen Versprechen der Amerikaner vor mehr drei Jahrzehnten begründet. Mary Elise Sarotte ist dieser bis heute umstrittenen Frage nachgegangen. Und sie hat Antworten gefunden. Antworten, die nicht jedem gefallen werden - je nach Standpunkt. Sarotte, die den Kravis-Lehrstuhl für Geschichte an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies innehat und dem Center for European Studies in Harvard und dem Council on Foreign Relations angehört, hat Einsichten erhalten, die nicht nur ihr bislang nicht möglich waren, sondern der Forschung an sich. Sarotte hatte zuvor zwei Jahrzehnte um die Freigabe von Dokumenten zur Geschichte der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland gekämpft. Dann - 2018 - wurden beinahe alle Protokolle der Treffen zwischen Bill Clinton und Boris Jelzin freigegeben.
Auf dieser Grundlage - ergänzt durch weitere Quellen - zeichnet Sarotte, die das Wendejahr 1989 als Austauschstudentin in West-Berlin erlebte, die Entwicklungen nach, über deren wahren Verlauf bis heute Uneinigkeit nicht zuletzt unter den damaligen Akteuren herrscht. Nach ihrer Erzählung entstand die Idee, es werde keine NATO-Osterweiterung nach dem Ende des alten Kalten Krieges geben, als Gedankenspiel während der diplomatischen Kontakte, die 1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands führten. Dabei zeigen die Belege, die Sarotte vorliegen, im Gegensatz zu späteren Behauptungen von Michail Gorbatschow, dass James Baker und Hans-Dietrich Genscher das spekulative Konzept einer potentiellen Nichterweiterung nicht nur miteinander, sondern auch mit Gorbatschow als letztem sowjetischen Präsidenten diskutierten.
Doch bereits im Februar 1990 legte George H. W. Bush nach der Schilderung von Sarotte seinem Außenminister nahe, mit solchen Erörterungen aufzuhören. Bush habe die hypothetische Idee eines Versprechens, das eine künftige Bewegung der NATO nach Osten blockierte, für unnötig und unklug gehalten. In der Folge informierte Baker das Auswärtige Amt in Bonn, man solle derlei Ideen fallen lassen.
Wie konnte sich dann der bis heute höchst lebendige Mythos bilden, die Amerikaner hätten ein gegenteiliges Versprechen gegeben? Für Sarotte war es Genscher, der die Idee am Leben hielt. Der bundesdeutsche Außenminister habe weiterhin angedeutet, die NATO werde entweder die Erweiterung stoppen oder in einer größeren Organisation "aufgehen". Diplomaten der unteren Ebenen hätten dann Genschers Gedanken in ihren Kontakten mit sowjetischen Kollegen wiederholt. Nach der Beobachtung von Sarotte taten sie es in der irrtümlichen Überzeugung, es sei immer noch offizielle Politik, oder nutzten es als Hilfsmittel in den Verhandlungen. Allerdings war es in beiden Fällen nicht mehr die Linie ihrer Regierungschefs.
So führte Genschers Hartnäckigkeit laut Sarotte nicht nur zu internen Zusammenstößen mit Helmut Kohl, der von Bush überzeugt worden war, ein Versprechen der Nichterweiterung sei unerwünscht, sondern auch zwischen der Bundesrepublik und ihren Verbündeten. Denn neben den Vereinigten Staaten bestanden Frankreich und Großbritannien ebenfalls darauf, der Abschlussvertrag zur deutschen Einheit müsse drei Ziele erreichen: erstens, die explizite Erlaubnis für die NATO, ihre Sicherheitsgarantie von Artikel 5 auf Ostdeutschland auszudehnen; zweitens, die damit verbundene Erlaubnis für NATO-Truppen, die ehemalige deutsch-deutsche Grenzlinie zu überschreiten; und drittens, kein explizites Verbot einer künftigen Bewegung der NATO nach Osten.
Genscher und Baker ergänzten den Vertragsentwurf durch eine Protokollnotiz, die festlegte, dass nichtdeutsche NATO-Truppen die frühere innerdeutsche Grenze dann überschreiten dürften, wenn dies nicht als Verlegung bezeichnet würde. Für die Definition einer solchen sollte die Regierung des vereinten Deutschlands verantwortlich sein. Dem stimmten alle Verhandlungspartner zu. Auch Moskau ratifizierte den Vertrag.
Sehr anschaulich führt Sarotte vor Augen, wie schließlich die Auflösung der Sowjetunion Ende Dezember 1991 und die rasche Entstehung zahlreicher Nachfolgestaaten neue Unsicherheiten und Streitigkeiten schufen: Während die NATO der Auffassung war, dass der Zwei-plus-vier-Vertrag eine Erweiterung auf Länder östlich von Deutschland erlaube, weil er den Präzedenzfall gesetzt habe, Sicherheitsgarantie und NATO-Truppen über die Grenzlinie des alten Kalten Krieges vorzuschieben, und darüber hinaus eine weitere Vergrößerung des Bündnisgebietes nicht ausschloss, vertrat Russland als Nachfolger der Sowjetunion die Position, der Vertrag verbiete die Erweiterung östlich von Deutschland. Hier spielten zwei Faktoren eine Rolle: zum einen weiterhin die spekulativen Äußerungen über ein solches Verbot während der Verhandlungen Anfang 1990; zum anderen die Passage im Vertrag, die eine begrenzte Aktivität der Atlantischen Allianz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erlaubte, wobei die Implikation war, dass solche Sätze für andere Länder fehlten.
Sarotte ruft die vielen Gespräche zwischen West und Ost in Erinnerung, um den russischen Widerstand gegen die Erweiterung in Mittel- und Osteuropa abzumildern. Ein Ergebnis war 1997 die NATO-Russland-Grundakte. Doch auch sie wurde zum Zankapfel: Direkt nach der Unterzeichnung schrieb Jelzin ihr Befugnisse zu, die sie nicht besaß, wie auch Sarotte betont, etwa, es sei der NATO verboten, militärische Infrastruktur des früheren Warschauer Pakts zu nutzen.
Wie sehr Jelzins Nachfolger Putin auf dieser Klaviatur falscher Behauptungen weitergespielt hat und bis heute spielt, spiegelt sich in seinen Reden vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, zur Annexion der Krim 2014 und vor der Invasion der Ukraine. Im Dezember 2021 versuchte er in der Lesart von Sarotte sogar, bestimmte Konflikte aus der Geschichte der NATO-Erweiterung neu auszukämpfen, doch dieses Mal mit Russland als "Sieger". Und in der Tat ließ Putin einen "Vertragsentwurf" an die NATO senden, in dem er darauf bestand, dass die Truppen der Nordatlantischen Allianz auf ihre Standorte vom 27. Mai 1997 zurückkehren - dem Tag der Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte. Damit versuchte Putin nach dem Urteil von Sarotte, die falsche Behauptung von Jelzin, die Grundakte verbiete es der NATO, Infrastruktur des früheren Warschauer Pakts in ihr Bündnis zu integrieren, nachträglich durchzusetzen.
Dabei hatten die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas nach dem Ende des alten Kalten Krieges jedes Recht gehabt, den Beitritt anzustreben, ebenso wie die Allianz jedes Recht hatte, sie aufzunehmen - wie Sarotte wohltuend herausarbeitet, ergänzend um den Hinweis, dass Moskau bereits 1975 in der KSZE-Schlussakte zugestimmt hatte, dass Länder ihre Sicherheitsallianzen wählen könnten. Und das war noch mitten im alten Kalten Krieg - im neuen scheint sich der Kreml daran nicht mehr erinnern zu wollen. THOMAS SPECKMANN
Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 397 S., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mary Elise Sarotte schlägt Putin seine Waffe der Geschichtsklitterung aus der Hand und erzählt die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung. ... Sie hat Einsichten erhalten, die nicht nur ihr bislang nicht möglich waren, sondern der Forschung an sich."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Thomas Speckmann
"Ist der Westen an allem schuld? Hier wird fachkundig aufgeklärt."
ZEIT Literatur
"Wenn sie jemand mit den Beziehungen zwischen der Nato und Russland auskennt, dann Mary Sarotte ... Ihr Buch dazu unter dem Titel Not One Inch - das im September auf Deutsch erscheint - wurde schnell zu einem Standardwerk."
ZDF-heute-Nachrichtenportale, Florian Neuhann
"Mary Elise Sarotte seziert die Geschichte der Nato-Osterweiterung und beschreibt eine Alternative, die Krieg in Europa vielleicht verhindert hätte."
DIE ZEIT, Elisabeth von Thadden
"Wladimir Putin begründet den Angriff auf die Ukraine auch mit der Nato-Osterweiterung. Aber wie war das damals genau? Die Historikerin Mary Elise Sarotte hat die Ereignisse bis ins Detail rekonstruiert."
wochentaz, Jan Pfaff
"Von hoher Wichtigkeit und Brisanz im internationalen Wettlauf um die Deutungshoheit."
Neues Deutschland, Harald Loch
"Endlich ist das Standardwerk auch auf Deutsch erschienen."
Internationale Politik, Nils Schmidt
"Niemand zuvor recherchierte so gründlich und sichtete so viele Unterlagen zum Thema ... Eines der wichtigsten Bücher jetziger Zeit."
Dresdner Morgenpost
"Ihre maßgebliche Geschichte stützt sich auf Tausende von Memos, Quittungen, Schriftsätze und andere einst geheime Dokumente - darunter viele, die noch nie zuvor veröffentlicht wurden - die beide Seiten ausfüllen und etablierte Erzählungen verkomplizieren."
The New Yorker
"Sarotte hat intensiv in den Quellen geforscht und kommt zu einem differenzierten Urteil."
Hans Rauscher, Der Standard
"Mary Sarotte hat die Geschichte der Nato-Erweiterung aufgearbeitet wie keine Zweite."
Jürgen Streihammer, Die Presse
"Neues Standardwerk zu diesem Thema."
Süddeutsche Zeitung, Stefan Kornelius
"Authentische Quellen und bisher unbekannte Dokumente machen Sarottes Recherchen zum Krimi. [...] Sarottes Buch räumt auf mit einem Missverständnis, das bis heute politisch Furore macht."
ARD titel - thesen - temperamente, Ryk Wieland
"Nicht nur in deutschen Medien ist sie zu einer sehr gefragten Koryphäe und Faktencheckerin geworden, wann immer es darum geht, die Gründe für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu erläutern. ... Mit ihrem Buch hat Sarotte die Grundlage für ein besseres Verständnis des neu eskalierten Ost-West-Konfliktes vorgelegt."
WELT am Sonntag, Stefan Aust & Martin Scholz
"Eine spannende Reise vom Mauerfall bis zum Aufstieg Putins."
Berliner Zeitung, Nicolas Butylin
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Thomas Speckmann
"Ist der Westen an allem schuld? Hier wird fachkundig aufgeklärt."
ZEIT Literatur
"Wenn sie jemand mit den Beziehungen zwischen der Nato und Russland auskennt, dann Mary Sarotte ... Ihr Buch dazu unter dem Titel Not One Inch - das im September auf Deutsch erscheint - wurde schnell zu einem Standardwerk."
ZDF-heute-Nachrichtenportale, Florian Neuhann
"Mary Elise Sarotte seziert die Geschichte der Nato-Osterweiterung und beschreibt eine Alternative, die Krieg in Europa vielleicht verhindert hätte."
DIE ZEIT, Elisabeth von Thadden
"Wladimir Putin begründet den Angriff auf die Ukraine auch mit der Nato-Osterweiterung. Aber wie war das damals genau? Die Historikerin Mary Elise Sarotte hat die Ereignisse bis ins Detail rekonstruiert."
wochentaz, Jan Pfaff
"Von hoher Wichtigkeit und Brisanz im internationalen Wettlauf um die Deutungshoheit."
Neues Deutschland, Harald Loch
"Endlich ist das Standardwerk auch auf Deutsch erschienen."
Internationale Politik, Nils Schmidt
"Niemand zuvor recherchierte so gründlich und sichtete so viele Unterlagen zum Thema ... Eines der wichtigsten Bücher jetziger Zeit."
Dresdner Morgenpost
"Ihre maßgebliche Geschichte stützt sich auf Tausende von Memos, Quittungen, Schriftsätze und andere einst geheime Dokumente - darunter viele, die noch nie zuvor veröffentlicht wurden - die beide Seiten ausfüllen und etablierte Erzählungen verkomplizieren."
The New Yorker
"Sarotte hat intensiv in den Quellen geforscht und kommt zu einem differenzierten Urteil."
Hans Rauscher, Der Standard
"Mary Sarotte hat die Geschichte der Nato-Erweiterung aufgearbeitet wie keine Zweite."
Jürgen Streihammer, Die Presse
"Neues Standardwerk zu diesem Thema."
Süddeutsche Zeitung, Stefan Kornelius
"Authentische Quellen und bisher unbekannte Dokumente machen Sarottes Recherchen zum Krimi. [...] Sarottes Buch räumt auf mit einem Missverständnis, das bis heute politisch Furore macht."
ARD titel - thesen - temperamente, Ryk Wieland
"Nicht nur in deutschen Medien ist sie zu einer sehr gefragten Koryphäe und Faktencheckerin geworden, wann immer es darum geht, die Gründe für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu erläutern. ... Mit ihrem Buch hat Sarotte die Grundlage für ein besseres Verständnis des neu eskalierten Ost-West-Konfliktes vorgelegt."
WELT am Sonntag, Stefan Aust & Martin Scholz
"Eine spannende Reise vom Mauerfall bis zum Aufstieg Putins."
Berliner Zeitung, Nicolas Butylin