1915 kommt ein Zwillingspaar zur Welt, das gegensätzlicher nicht sein könnte: Max und Karl sind zeit ihres Lebens Kontrahenten und bleiben doch eng verbunden. Als es ihnen im Deutschland der dreißiger Jahre zu eng wird, fliehen sie mit der Prostituierten Ellie nach Frankreich. Als Illegale suchen sie in Paris ihr Glück - und finden das Leben. Zwischen liebeshungrigen Hoteliers und Schach spielenden Buchhändlern, zwischen Mordanschlägen und Affären geraten die drei in einen rasenden Reigen, der sie schwindelig werden lässt. Dass Karl aufbricht, um im Spanischen Bürgerkrieg für eine bessere Welt zu kämpfen, macht die Lage nicht einfacher.Helmut Kraussers neuer Roman verflicht meisterhaft die Erschütterungen der 1930er-Jahre mit den turbulenten Lebensläufen dreier Menschen.
"Ein quirliges Buch, das die politischen, ideologischen und geistesgeschichtlichen Strömungen einer Epoche mit Rasanz aufnimmt und anhand der Biographien der Brüder Loewe durcherzählt." -- BUCHJOURNAL
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit gemischten Gefühlen hat Rezensent Ulrich Rüdenauer Helmut Kraussers neuen Roman "Nicht ganz schlechte Menschen" gelesen. Er folgt hier den im Ersten Weltkrieg geborenen Zwillingen Karl und Max, die ihm als Reinkarnationen von Marx und Nietzsche erscheinen. Während der dionysische und libertinäre Max im Paris der Dreißiger Jahre sein Glück als Schriftsteller versucht, sich vor allem aber dem Geschlechtsleben hingibt, erlebt der apollinische und politisch dogmatische Karl als Schachspieler bei der Volksolympiade in Barcelona den spanischen Bürgerkrieg, berichtet Rüdenauer. Der Rezensent hat sich mit Kraussers überraschungsreicher und humorvoller Erzählung zwar bestens amüsiert, dennoch erscheint ihm dieses wenig "subtile" Buch als "Historienschinken im Breitbandformat". Neben den allzu klischeehaften Charakterisierungen der zahlreichen hier auftretenden Schriftsteller, etwa Thomas Mann oder Gottfried Benn, stören Rüdenauer die vielen, ihm platt erscheinenden historischen Erläuterungen, mit denen Krausser seine Geschichte immer wieder unterbricht. Nicht als bedeutenden Roman, aber doch als unterhaltsame "Hommage an die Literatur der Zwanziger und Dreißiger Jahre" kann der Kritiker dieses heitere Buch dennoch empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2012Ein Zwilling stirbt selten allein
Viel Material, viel Konstruktion: Der Roman "Nicht ganz schlechte Menschen" von Helmut Krausser
Wenn ein Roman mit der Information anhebt, dass ein Zwillingspaar am 1. August 1914 - dem Tag der deutschen Mobilmachung - gezeugt worden sei, dann kann kaum Zweifel daran bestehen, dass es sich um zwei symbolisch und historisch aufgeladene Figurenschicksale handelt, die man im Folgenden zu begleiten haben wird. Mit dem geschichtsträchtigen Zeugungsdatum ist es in dem neuen Roman von Helmut Krausser aber noch nicht genug. Am Ende der beinahe sechshundert Seiten, die "Nicht ganz schlechte Menschen" umfasst, sterben die Zwillinge Karl und Max Loewe in derselben Sekunde, als auf der Pariser Pferderennbahn Longchamp eine Zuschauertribüne einstürzt. Beerdigt werden die Brüder am 1. September 1939.
Damit eine solche erzählerische Konstruktion, die ihr Geschehen zwischen den zwei Weltkriegen aufhängt, nicht ähnlich ins Wanken gerät wie die Tribüne bei jenem fiktiven Rennbahnunglück, bedarf es nicht nur einer anständigen und passgenauen Verschraubung. Es bedarf zudem eines massiven Fundaments, oder nennen wir es schlicht einen hinreichenden Grund dafür, die Einbettung des Erzählten derart aufzuladen. Auf den ersten Seiten von "Nicht ganz schlechte Menschen" hat es den Anschein, als wolle Krausser eine Art Lehrstück erzählen, in dem die charakterlich so verschiedenen Zwillinge Karl und Max zu symptomatischen Vertretern der beiden großen Ideologien werden: Auf der einen Seite der hagere, bisexuelle Bohemien Max - an ein "Schiele-Motiv" erinnernd, so Krausser -, der zunächst für den aufkommenden Nationalsozialismus empfänglich ist, sich dann aber dem homoerotischen Nachtleben rund um den Berliner Nollendorfplatz, der wesentlich älteren Prostituierten Ellie und ersten verhaltenen Romanversuchen verschreibt. Auf der anderen Seite Karl, der körperlich kompakte und weitgehend abstinente Zwilling, der Quartier im Arbeiterviertel Wedding bezieht, wo er sich, da er sich für den Kommunismus begeistert, zugehörig glaubt.
Je weiter aber der Roman voranschreitet, desto mehr schwindet der Eindruck, dass hier historische Verläufe in Figurenschicksalen gespiegelt und an ihnen erklärt werden sollen. Stattdessen scheint es, als habe Krausser sich kopfüber in die Fülle des Materials gestürzt, bedauerlicherweise ohne einen überzeugenden inhaltlichen oder sprachlichen Zugang zu diesem zu finden. Schon in den Episoden aus Berlin - über die verruchten und schillernden "Goldenen Zwanziger" - werden sämtliche Klischees ebenso unbedarft wie ungebrochen herbeizitiert. "In Berlin konnte jeder nach seiner Façon glücklich werden", heißt es bei Krausser in bester Kolportagemanier. "Was es an Begierden gab, wurde bedient." Hier kommt auch die halbe Berliner Künstlerszene auf eine Stippvisite vorbei. Alfred Döblin weigert sich in seiner Signierstunde, dem Jungautor Max altväterliche Ratschläge zu geben. Auch Gottfried Benn zeigt sich in der Sprechstunde seiner Hautarztpraxis einigermaßen wortkarg.
Das alles mag als Parodie gedacht sein. Heikel aber wird es dann, wenn nicht mehr mit letzter Sicherheit zu entscheiden ist, wo Absicht vorliegt und wo unfreiwillig Komik unterläuft und wo darüber hinaus die vermeintlich mit leichter Hand hingebaute historische Kulisse in Wahrheit aus Pappmaché besteht. Dass Gustaf Gründgens seit 1924 das "f" im Vornamen führte, bei Krausser aber Anfang der dreißiger Jahre noch mit "v" auftaucht, mag man in diesem Zusammenhang als - womöglich bewussten - Lapsus abtun.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten flüchten Karl und Max mit dessen Geliebter Ellie nach Paris. Während Karl zwischenzeitlich (wenn auch in letzter Konsequenz einigermaßen zögerlich in der zweiten Reihe) im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco kämpft, tauschen Ellie und Max durch einen ausgebufften Trick ihr provisorisches Leben im Souterrain gegen eine noble Existenz im Hotel: Ellie hat eine Affäre mit dem Besitzer und macht ihm weis, Max sei nur ihr Halbbruder. Krausser hat als Szenerie somit einen weiteren symptomatischen Ort der dreißiger Jahre zur Verfügung, nicht erst seit Vicki Baum eine ideale Möglichkeit, heterogenes Personal an einem Schauplatz zusammenzubringen und in kleine und größere Verwicklungen geraten zu lassen.
So treffen sich hier bald nicht nur Ellie und ihr hintergangener Liebhaber, die Zwillinge, ein anarchistischer Veteran aus dem Spanien-Krieg und allerlei Halbweltfiguren. Auch die historische Figur Herschel Grynszpan taucht dort auf, ebenso wie der deutsche Diplomat Ernst Eduard vom Rath, den der siebzehn Jahre alte Grynszpan 1938 erschoss, was die Nationalsozialisten zur propagandistischen Rechtfertigung für die Reichspogromnacht nutzten.
Diese realen historischen Grausamkeiten finden bei Krausser aber allenfalls im Hintergrund statt. Das mag seinen Grund darin haben, dass sie hinlänglich bekannt sind. Wenn es aber beispielsweise über den Rezeptionisten des Hotels heißt: "Von Hitlers Beispiel inspiriert, verlangte Chapelle eine neue Gehaltserhöhung. Das war angesichts seiner Arbeitsverweigerung der Gipfel der Dreistigkeit", dann zeugt das zudem von einem eigenartigen Humor. Zumal auch nie ganz klar ist, wessen Humor das sein soll. Immer wieder weiß man in diesem Roman nicht, wer eigentlich gerade spricht. Das gilt auch für die eingeschobenen, kursiv gestellten Passagen, in denen historisches Geschehen gerafft, aber dennoch nicht aufs Faktische reduziert, referiert wird. Zeitungmeldungen sind es nicht, Passagen aus einem Geschichtsbuch ebenso wenig.
In der Nachbemerkung, in der Krausser verrät, dass er einige Gestalten seines Personals getroffen und nicht zuletzt wohl dadurch zu seinem Roman inspiriert worden ist, weist der Autor auch - wie durchaus üblich - auf die Abweichungen von der historischen Realität und die Zugaben seiner literarischen Phantasie hin, der alle Details entstammten. Und auf die Details, so Krausser, komme letzten Endes alles an. Dem können wir nur zustimmen.
WIEBKE POROMBKA
Helmut Krausser: "Nicht ganz schlechte Menschen". Roman.
Dumont Literaturverlag, Köln 2012. 573 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viel Material, viel Konstruktion: Der Roman "Nicht ganz schlechte Menschen" von Helmut Krausser
Wenn ein Roman mit der Information anhebt, dass ein Zwillingspaar am 1. August 1914 - dem Tag der deutschen Mobilmachung - gezeugt worden sei, dann kann kaum Zweifel daran bestehen, dass es sich um zwei symbolisch und historisch aufgeladene Figurenschicksale handelt, die man im Folgenden zu begleiten haben wird. Mit dem geschichtsträchtigen Zeugungsdatum ist es in dem neuen Roman von Helmut Krausser aber noch nicht genug. Am Ende der beinahe sechshundert Seiten, die "Nicht ganz schlechte Menschen" umfasst, sterben die Zwillinge Karl und Max Loewe in derselben Sekunde, als auf der Pariser Pferderennbahn Longchamp eine Zuschauertribüne einstürzt. Beerdigt werden die Brüder am 1. September 1939.
Damit eine solche erzählerische Konstruktion, die ihr Geschehen zwischen den zwei Weltkriegen aufhängt, nicht ähnlich ins Wanken gerät wie die Tribüne bei jenem fiktiven Rennbahnunglück, bedarf es nicht nur einer anständigen und passgenauen Verschraubung. Es bedarf zudem eines massiven Fundaments, oder nennen wir es schlicht einen hinreichenden Grund dafür, die Einbettung des Erzählten derart aufzuladen. Auf den ersten Seiten von "Nicht ganz schlechte Menschen" hat es den Anschein, als wolle Krausser eine Art Lehrstück erzählen, in dem die charakterlich so verschiedenen Zwillinge Karl und Max zu symptomatischen Vertretern der beiden großen Ideologien werden: Auf der einen Seite der hagere, bisexuelle Bohemien Max - an ein "Schiele-Motiv" erinnernd, so Krausser -, der zunächst für den aufkommenden Nationalsozialismus empfänglich ist, sich dann aber dem homoerotischen Nachtleben rund um den Berliner Nollendorfplatz, der wesentlich älteren Prostituierten Ellie und ersten verhaltenen Romanversuchen verschreibt. Auf der anderen Seite Karl, der körperlich kompakte und weitgehend abstinente Zwilling, der Quartier im Arbeiterviertel Wedding bezieht, wo er sich, da er sich für den Kommunismus begeistert, zugehörig glaubt.
Je weiter aber der Roman voranschreitet, desto mehr schwindet der Eindruck, dass hier historische Verläufe in Figurenschicksalen gespiegelt und an ihnen erklärt werden sollen. Stattdessen scheint es, als habe Krausser sich kopfüber in die Fülle des Materials gestürzt, bedauerlicherweise ohne einen überzeugenden inhaltlichen oder sprachlichen Zugang zu diesem zu finden. Schon in den Episoden aus Berlin - über die verruchten und schillernden "Goldenen Zwanziger" - werden sämtliche Klischees ebenso unbedarft wie ungebrochen herbeizitiert. "In Berlin konnte jeder nach seiner Façon glücklich werden", heißt es bei Krausser in bester Kolportagemanier. "Was es an Begierden gab, wurde bedient." Hier kommt auch die halbe Berliner Künstlerszene auf eine Stippvisite vorbei. Alfred Döblin weigert sich in seiner Signierstunde, dem Jungautor Max altväterliche Ratschläge zu geben. Auch Gottfried Benn zeigt sich in der Sprechstunde seiner Hautarztpraxis einigermaßen wortkarg.
Das alles mag als Parodie gedacht sein. Heikel aber wird es dann, wenn nicht mehr mit letzter Sicherheit zu entscheiden ist, wo Absicht vorliegt und wo unfreiwillig Komik unterläuft und wo darüber hinaus die vermeintlich mit leichter Hand hingebaute historische Kulisse in Wahrheit aus Pappmaché besteht. Dass Gustaf Gründgens seit 1924 das "f" im Vornamen führte, bei Krausser aber Anfang der dreißiger Jahre noch mit "v" auftaucht, mag man in diesem Zusammenhang als - womöglich bewussten - Lapsus abtun.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten flüchten Karl und Max mit dessen Geliebter Ellie nach Paris. Während Karl zwischenzeitlich (wenn auch in letzter Konsequenz einigermaßen zögerlich in der zweiten Reihe) im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco kämpft, tauschen Ellie und Max durch einen ausgebufften Trick ihr provisorisches Leben im Souterrain gegen eine noble Existenz im Hotel: Ellie hat eine Affäre mit dem Besitzer und macht ihm weis, Max sei nur ihr Halbbruder. Krausser hat als Szenerie somit einen weiteren symptomatischen Ort der dreißiger Jahre zur Verfügung, nicht erst seit Vicki Baum eine ideale Möglichkeit, heterogenes Personal an einem Schauplatz zusammenzubringen und in kleine und größere Verwicklungen geraten zu lassen.
So treffen sich hier bald nicht nur Ellie und ihr hintergangener Liebhaber, die Zwillinge, ein anarchistischer Veteran aus dem Spanien-Krieg und allerlei Halbweltfiguren. Auch die historische Figur Herschel Grynszpan taucht dort auf, ebenso wie der deutsche Diplomat Ernst Eduard vom Rath, den der siebzehn Jahre alte Grynszpan 1938 erschoss, was die Nationalsozialisten zur propagandistischen Rechtfertigung für die Reichspogromnacht nutzten.
Diese realen historischen Grausamkeiten finden bei Krausser aber allenfalls im Hintergrund statt. Das mag seinen Grund darin haben, dass sie hinlänglich bekannt sind. Wenn es aber beispielsweise über den Rezeptionisten des Hotels heißt: "Von Hitlers Beispiel inspiriert, verlangte Chapelle eine neue Gehaltserhöhung. Das war angesichts seiner Arbeitsverweigerung der Gipfel der Dreistigkeit", dann zeugt das zudem von einem eigenartigen Humor. Zumal auch nie ganz klar ist, wessen Humor das sein soll. Immer wieder weiß man in diesem Roman nicht, wer eigentlich gerade spricht. Das gilt auch für die eingeschobenen, kursiv gestellten Passagen, in denen historisches Geschehen gerafft, aber dennoch nicht aufs Faktische reduziert, referiert wird. Zeitungmeldungen sind es nicht, Passagen aus einem Geschichtsbuch ebenso wenig.
In der Nachbemerkung, in der Krausser verrät, dass er einige Gestalten seines Personals getroffen und nicht zuletzt wohl dadurch zu seinem Roman inspiriert worden ist, weist der Autor auch - wie durchaus üblich - auf die Abweichungen von der historischen Realität und die Zugaben seiner literarischen Phantasie hin, der alle Details entstammten. Und auf die Details, so Krausser, komme letzten Endes alles an. Dem können wir nur zustimmen.
WIEBKE POROMBKA
Helmut Krausser: "Nicht ganz schlechte Menschen". Roman.
Dumont Literaturverlag, Köln 2012. 573 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2012Munter durch die
Kulissen geschubst
Helmut Kraussers neuer Roman ist ein swingender
Historienschinken im Breitwandformat
VON ULRICH RÜDENAUER
Helmut Kraussers neuer Roman „Nicht ganz schlechte Menschen“ beginnt, wie ein großer Roman beginnen könnte. Mit einem erzählerischen Paukenschlag. „Am 1. August 1914, dem Tag der Mobilmachung des deutschen Reiches, als der Kaiser keine Parteien mehr kannte und der Jubel in den Straßen keine Grenzen, wurden, motiviert vor allem durch patriotisch-erhabene Gefühlswallungen – auch weniger hochgestochene Beweggründe spielten eine gewisse Rolle – in Potsdam zwei Brüder gezeugt, die am
26. Februar des darauffolgenden Jahres im Abstand weniger Minuten den Leib der erschöpften Mutter verließen.“
Die literarische Sturzgeburt beschert uns eineiige Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten – dionysisch der eine, apollinisch der andere, libertinär und dem Sinnlichen zugeneigt Max, verklemmt und politisch dogmatisch Karl. Man könnte auch sagen: Nietzsche und Marx haben von den beiden Besitz ergriffen. Das 20. Jahrhundert der Ideologien bringt Krausser in Max und Karl Loewe auf den Punkt, und die Brüder haben gewiss nicht zufällig in Max Stirner und Karl Marx ihre Namenspaten und im Löwen ihr Wappentier. Richtig subtil ist das nicht unbedingt immer, aber draufgängerisch.
Krausser, der mit knapp fünfzig Jahren schon auf ein imposantes und durchaus disparates Werk zurückblicken kann, möchte mit seinem Historienschinken so richtig in die Vollen gehen. Mehr Technicolor-Breitwand-Kino als puristischer Schwarzweiß-Arthaus-Film. Man ahnt dann schon, was auf der 600-Seiten-Strecke bleibt: Seine Figuren sind von der gröberen Art, und auch der historische Hintergrund der Zwanziger- und Dreißigerjahre wird formal eher wie beim Telekolleg Geschichte inszeniert. Die Handlung ist immer wieder unterbrochen von etwas lieblos in den Text eingesetzten Erläuterungen – das wirkt ein bisschen wie im Oberstufengeschichtsbuch, wo die wichtigsten Fakten noch mal in einem Extra-Kasten zusammengefasst sind. Es ist auch nicht so, dass Krausser seinen Lesern allzu tiefgreifende historische Kenntnis zutraut. „Als ‚rechts‘ galten übrigens Stahlhelm und Deutschnationale, als ‚links‘ SPD und KPD, als mittig das katholische Zentrum und ein paar unbedeutende liberale Parteien. Die NSDAP, offiziell extrem-rechts eingeordnet, war dabei, objektiv betrachtet, irgendetwas anderes, mit dem konventionellen Parteien-Spektrum nicht zu fassen.“
Es sind, so viel ist sicher, unwägbare Zeiten angebrochen. Max und Karl, verbandelt mit der Prostituierten Ellie, flüchten 1935 nach Paris – aus politischen und hedonistischen Gründen. Gar nicht so stille Tage im Klischee sind das: Das Trio findet die Metropole „schlichtweg großartig“, denn die Stadt erweist sich als „noch liberaler, als es selbst Berlin in den goldenen Jahren vor den Nazis gewesen war“. Während Max sich ins pralle Geschlechtsleben stürzt, reist Karl als Schachspieler zur Volksolympiade nach Barcelona und gerät mitten hinein in den spanischen Bürgerkrieg.
Krausser erzählt von diesen Jahren mit Freude an kuriosen Wendungen, mit Lust an der Kolportage, durchaus auch mit großer Leichtigkeit und Witz. Wie sich Karl inmitten des historischen Strudels selbst seiner Bedeutsamkeit bewusst wird und jede Gelegenheit zu bedeutsamem Handeln fahren lässt, ist ausgesprochen lustig. In Paris nehmen Max und Ellie unterdessen einen französischen Hotelier aus, genießen die mondänen Vergnügungen und begegnen unter anderem dem Kulturattaché Ernst Eduard von Rath und seinem Attentäter Herschel Grynszpan. Der Mord diente den Nazis bekanntlich als Rechtfertigung der Reichspogromnacht.
Das alles sind mehr oder minder geschickt einmontierte geschichtliche Details, und ein ganzes Arsenal an historischen Figuren wird dabei munter durch die Kulissen geschubst. Zuweilen erinnert das an das Künstler-Dropping in Woody Allens „Midnight in Paris“. Wenn man denkt, nun fehlt nur noch Klaus Mann oder Joseph Roth, kommt einer von beiden garantiert im nächsten Absatz um die Ecke gebogen.
Dass Krausser oft aufs Naheliegende verfällt, verdirbt ein bisschen den Spaß an diesem opulenten Spiel. Auch dass die Charakterisierungen der auftretenden Berühmtheiten, die ja Zeitkolorit versprühen sollen, zu sehr aus unserer heutigen, klischierten Warte gezeichnet sind, stört: „Max meinte, dass jede Zeile von Thomas Mann mit abgespreiztem kleinen Finger geschrieben wirke, schwules Geschwülst, wer nur die mindeste Ahnung von Literatur habe, könne daran nicht vorbeisehen.“
Max indes glaubt, dass er eine Menge von Literatur versteht. Er hat sogar literarische Ambitionen und sucht die Nähe seiner Vorbilder. Einmal – noch in Berlin – konsultiert er unter einem Vorwand den bewunderten Lyriker, Haut- und Geschlechtsarzt Gottfried Benn in seiner Praxis. Alfred Döblin belästigt er nach einer Lesung mit der Bitte, das erste und einzige Kapitel seines Romans „Die Sinnlosigkeit“ zu lesen. Dieses Machwerk, das Ausdruck von Maxens Lebenspathos ist, spielt keine unwichtige Rolle. Es illustriert nicht nur die Traumgespinste des Nietzscheaners; es kommentiert auch auf gewisse Weise Kraussers Buch selbst: „Ich muss einen Roman schreiben, dachte er. Essays reichen längst nicht hin für diese Zeit. Ein monströses, bunt flirrendes Gewölle voll Abscheu und Ekel, aber auch Neugier und Majestät. Ein großer und neuer Roman. Notwendig muss er sein. Nicht unbedingt schön."
Kraussers „Nicht ganz schlechte Menschen“ endet abrupt im Jahr 1939 mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es ist weder ein großer noch ein neuer Roman, schön und unterhaltsam ist er aber doch, eine stilistische Parodie und Hommage an die Literatur der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Als Vorlage für einen turbulenten Kostümfilm in den Kulissen des swingenden Berlin und Paris ist das Buch jedenfalls wunderbar geeignet. Man müsste nur aufpassen, dass nicht Nico Hofmann („Rommel“) die Produktion übernimmt.
Eine parodistische Hommage
an die Literatur der Zwanziger-
und Dreißigerjahre
Helmut Krausser:
Nicht ganz schlechte
Menschen. Roman.
Dumont Buchverlag,
Köln 2012. 575 Seiten.
22,99 Euro.
Wenn die Brüder Max und Karl im Paris der dreißiger Jahre das Tanzbein schwingen, wird das für den Leser zum heiteren Prominentenraten.
FOTO: GETTY IMAGES
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kulissen geschubst
Helmut Kraussers neuer Roman ist ein swingender
Historienschinken im Breitwandformat
VON ULRICH RÜDENAUER
Helmut Kraussers neuer Roman „Nicht ganz schlechte Menschen“ beginnt, wie ein großer Roman beginnen könnte. Mit einem erzählerischen Paukenschlag. „Am 1. August 1914, dem Tag der Mobilmachung des deutschen Reiches, als der Kaiser keine Parteien mehr kannte und der Jubel in den Straßen keine Grenzen, wurden, motiviert vor allem durch patriotisch-erhabene Gefühlswallungen – auch weniger hochgestochene Beweggründe spielten eine gewisse Rolle – in Potsdam zwei Brüder gezeugt, die am
26. Februar des darauffolgenden Jahres im Abstand weniger Minuten den Leib der erschöpften Mutter verließen.“
Die literarische Sturzgeburt beschert uns eineiige Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten – dionysisch der eine, apollinisch der andere, libertinär und dem Sinnlichen zugeneigt Max, verklemmt und politisch dogmatisch Karl. Man könnte auch sagen: Nietzsche und Marx haben von den beiden Besitz ergriffen. Das 20. Jahrhundert der Ideologien bringt Krausser in Max und Karl Loewe auf den Punkt, und die Brüder haben gewiss nicht zufällig in Max Stirner und Karl Marx ihre Namenspaten und im Löwen ihr Wappentier. Richtig subtil ist das nicht unbedingt immer, aber draufgängerisch.
Krausser, der mit knapp fünfzig Jahren schon auf ein imposantes und durchaus disparates Werk zurückblicken kann, möchte mit seinem Historienschinken so richtig in die Vollen gehen. Mehr Technicolor-Breitwand-Kino als puristischer Schwarzweiß-Arthaus-Film. Man ahnt dann schon, was auf der 600-Seiten-Strecke bleibt: Seine Figuren sind von der gröberen Art, und auch der historische Hintergrund der Zwanziger- und Dreißigerjahre wird formal eher wie beim Telekolleg Geschichte inszeniert. Die Handlung ist immer wieder unterbrochen von etwas lieblos in den Text eingesetzten Erläuterungen – das wirkt ein bisschen wie im Oberstufengeschichtsbuch, wo die wichtigsten Fakten noch mal in einem Extra-Kasten zusammengefasst sind. Es ist auch nicht so, dass Krausser seinen Lesern allzu tiefgreifende historische Kenntnis zutraut. „Als ‚rechts‘ galten übrigens Stahlhelm und Deutschnationale, als ‚links‘ SPD und KPD, als mittig das katholische Zentrum und ein paar unbedeutende liberale Parteien. Die NSDAP, offiziell extrem-rechts eingeordnet, war dabei, objektiv betrachtet, irgendetwas anderes, mit dem konventionellen Parteien-Spektrum nicht zu fassen.“
Es sind, so viel ist sicher, unwägbare Zeiten angebrochen. Max und Karl, verbandelt mit der Prostituierten Ellie, flüchten 1935 nach Paris – aus politischen und hedonistischen Gründen. Gar nicht so stille Tage im Klischee sind das: Das Trio findet die Metropole „schlichtweg großartig“, denn die Stadt erweist sich als „noch liberaler, als es selbst Berlin in den goldenen Jahren vor den Nazis gewesen war“. Während Max sich ins pralle Geschlechtsleben stürzt, reist Karl als Schachspieler zur Volksolympiade nach Barcelona und gerät mitten hinein in den spanischen Bürgerkrieg.
Krausser erzählt von diesen Jahren mit Freude an kuriosen Wendungen, mit Lust an der Kolportage, durchaus auch mit großer Leichtigkeit und Witz. Wie sich Karl inmitten des historischen Strudels selbst seiner Bedeutsamkeit bewusst wird und jede Gelegenheit zu bedeutsamem Handeln fahren lässt, ist ausgesprochen lustig. In Paris nehmen Max und Ellie unterdessen einen französischen Hotelier aus, genießen die mondänen Vergnügungen und begegnen unter anderem dem Kulturattaché Ernst Eduard von Rath und seinem Attentäter Herschel Grynszpan. Der Mord diente den Nazis bekanntlich als Rechtfertigung der Reichspogromnacht.
Das alles sind mehr oder minder geschickt einmontierte geschichtliche Details, und ein ganzes Arsenal an historischen Figuren wird dabei munter durch die Kulissen geschubst. Zuweilen erinnert das an das Künstler-Dropping in Woody Allens „Midnight in Paris“. Wenn man denkt, nun fehlt nur noch Klaus Mann oder Joseph Roth, kommt einer von beiden garantiert im nächsten Absatz um die Ecke gebogen.
Dass Krausser oft aufs Naheliegende verfällt, verdirbt ein bisschen den Spaß an diesem opulenten Spiel. Auch dass die Charakterisierungen der auftretenden Berühmtheiten, die ja Zeitkolorit versprühen sollen, zu sehr aus unserer heutigen, klischierten Warte gezeichnet sind, stört: „Max meinte, dass jede Zeile von Thomas Mann mit abgespreiztem kleinen Finger geschrieben wirke, schwules Geschwülst, wer nur die mindeste Ahnung von Literatur habe, könne daran nicht vorbeisehen.“
Max indes glaubt, dass er eine Menge von Literatur versteht. Er hat sogar literarische Ambitionen und sucht die Nähe seiner Vorbilder. Einmal – noch in Berlin – konsultiert er unter einem Vorwand den bewunderten Lyriker, Haut- und Geschlechtsarzt Gottfried Benn in seiner Praxis. Alfred Döblin belästigt er nach einer Lesung mit der Bitte, das erste und einzige Kapitel seines Romans „Die Sinnlosigkeit“ zu lesen. Dieses Machwerk, das Ausdruck von Maxens Lebenspathos ist, spielt keine unwichtige Rolle. Es illustriert nicht nur die Traumgespinste des Nietzscheaners; es kommentiert auch auf gewisse Weise Kraussers Buch selbst: „Ich muss einen Roman schreiben, dachte er. Essays reichen längst nicht hin für diese Zeit. Ein monströses, bunt flirrendes Gewölle voll Abscheu und Ekel, aber auch Neugier und Majestät. Ein großer und neuer Roman. Notwendig muss er sein. Nicht unbedingt schön."
Kraussers „Nicht ganz schlechte Menschen“ endet abrupt im Jahr 1939 mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es ist weder ein großer noch ein neuer Roman, schön und unterhaltsam ist er aber doch, eine stilistische Parodie und Hommage an die Literatur der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Als Vorlage für einen turbulenten Kostümfilm in den Kulissen des swingenden Berlin und Paris ist das Buch jedenfalls wunderbar geeignet. Man müsste nur aufpassen, dass nicht Nico Hofmann („Rommel“) die Produktion übernimmt.
Eine parodistische Hommage
an die Literatur der Zwanziger-
und Dreißigerjahre
Helmut Krausser:
Nicht ganz schlechte
Menschen. Roman.
Dumont Buchverlag,
Köln 2012. 575 Seiten.
22,99 Euro.
Wenn die Brüder Max und Karl im Paris der dreißiger Jahre das Tanzbein schwingen, wird das für den Leser zum heiteren Prominentenraten.
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