Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass nichts mehr normal ist? Der Soziologe Stephan Lessenich zeigt, wie die Überwindung einer überholten Normalität gelingen kann.
Die Welt befindet sich im permanenten Ausnahmezustand. Nach der Finanzkrise, der Migrationskrise, der Klimakrise hat die Coronakrise den Alltag jedes Einzelnen erfasst. Und dann gibt es auch noch Krieg in Europa. Es wird immer deutlicher, dass die bewährte Normalität, nach der wir uns sehnen, nicht mehr zurückkehren wird. Stattdessen herrscht allgemeine Verunsicherung. Mit klarem Blick analysiert Stephan Lessenich die Reaktion unserer Gesellschaft auf ihre Krisen und denkt über die Fragen nach, die uns alle umtreiben. Wenn die alte Normalität nicht mehr trägt und auch nicht mehr zu ertragen ist: Was tritt dann an ihre Stelle? Und welche Dynamiken setzen ein, wenn gesellschaftliche Mehrheiten sich an Gewissheiten klammern, die immer drängender in Frage gestellt werden?
Die Welt befindet sich im permanenten Ausnahmezustand. Nach der Finanzkrise, der Migrationskrise, der Klimakrise hat die Coronakrise den Alltag jedes Einzelnen erfasst. Und dann gibt es auch noch Krieg in Europa. Es wird immer deutlicher, dass die bewährte Normalität, nach der wir uns sehnen, nicht mehr zurückkehren wird. Stattdessen herrscht allgemeine Verunsicherung. Mit klarem Blick analysiert Stephan Lessenich die Reaktion unserer Gesellschaft auf ihre Krisen und denkt über die Fragen nach, die uns alle umtreiben. Wenn die alte Normalität nicht mehr trägt und auch nicht mehr zu ertragen ist: Was tritt dann an ihre Stelle? Und welche Dynamiken setzen ein, wenn gesellschaftliche Mehrheiten sich an Gewissheiten klammern, die immer drängender in Frage gestellt werden?
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Gespannt folgt Rezensentin Ulrike Winkelmann den Beobachtungen des Soziologen Stephan Lessenich, was Normalität, Norm und Normativität in unserer Gesellschaft betrifft. Etwas ist in Brüche gegangen und könnte gesellschaftlich noch erhebliche Folgen nach sich ziehen - diesen diffusen Eindruck seit Beginn der Coronapandemie, die nahtlos in den Ukrainefeldzug Russlands mündete, unterfüttert und bestätigt der in Frankfurt lehrende Soziologe durchaus plausibel, findet die Kritikerin. Lessenich argumentiert, dass die Politik zumal seit der Finanzkrise 2008 zusehends ratlos vor den Krisen steht und weniger Lösungen, sondern vielmehr den Zeitaufschub sucht. Winkelmanns Lektürefazit fällt daher nüchtern bis pessimistisch aus: Von der Normalität, die bis Ende 2019 noch galt, heißt es wohl endgültig Abschied zu nehmen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2022Das Ganze ist das Unvernünftige
Andere Formen der Vergesellschaftung gesucht: Stephan Lessenich gibt Zeitdiagnose im Krisenmodus
Mit der "Zeitenwende" hat Olaf Scholz aus Anlass des Ukrainekrieges ein Wort in den politischen Diskurs eingeführt, das in den Sozialwissenschaften seit Jahren ein Thema ist. Es ist verknüpft mit der These, dass die Krisen, die wir derzeit auf vielen Gebieten erleben, miteinander verbunden und nicht Folgen des üblichen "normalen" Wandels seien, sondern Anfänge einer tiefgreifenden Umwälzung - Vorzeichen eines neuen Zeitalters. Stephan Lessenich, Soziologe und Direktor des traditionsreichen Frankfurter Instituts für Sozialforschung, hat seine Zeitdiagnose unter den Titel "Nicht mehr normal" gestellt. Er stellt sich die Frage, warum und wie die Gesellschaft von diesen Erschütterungen aus ihrer "Normallage" gekippt wird. Es steht dahin, ob der Untertitel von der "Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs" eine valide Diagnose ist - "die Gesellschaft" ist ja kein leidendes (oder gar handelndes) Subjekt - oder doch eher auf die Unsicherheit von Sozialwissenschaftlern hindeutet, von denen mehr und besserer Rat verlangt wird, als sie geben können.
Da Lessenich alles über den Leisten des Begriffs Normalität schlägt, ohne dass klar würde, welchen Erkenntnisgewinn das bringt, beginnt er mit einem Proseminar über die Bedeutung dieses Wortes. Danach analysiert er Ursache und Folgen zeitgenössischer Krisen. Speziell die deutsche Gesellschaft, so glaubt er, sei wegen einer "postnationalsozialistischen" Disposition von einer Nervenkrise befallen; Lessenich verkneift sich nicht einmal das vermeintliche Bonmot, dass "aus der nationalsozialistischen Ordnung des Grauens (. . .) die bundesrepublikanische Ordnung des Grauen erwachsen" sei. Auch das erklärt wenig bis nichts, denn die Stimmung in anderen Demokratien ist nicht viel anders, wie die Wahlerfolge von Rechtsextremisten und -populisten überall zeigen.
Lessenichs überwölbende Generalthese betrifft eine "Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann, die an ihren Gewissheiten zu zweifeln und an der Zukunft zu verzweifeln beginnt". Das war allerdings in allen Phasen historischer Umbrüche so und ist insofern ein "normales" Symptom. Dass wir in einer Zeitenwende leben, dafür steht heute vor allem die "Klimakrise". Sie ist, wie auch die diversen Finanzkrisen, für Lessenich das sichere Vorzeichen dafür, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem an seine Grenzen gekommen ist. Als Begründung dafür tauchen alte Bekannte auf: der Neoliberalismus und ein Wirtschaften, das auf einer "Logik des Illusionären aufbaut". Da lehnt sich Lessenich an Wolfgang Streeck an (F.A.Z. vom 16. Juli 2021), obwohl er diesen Autor wegen dessen Abneigung gegen die EU und sein Bekenntnis zum Nationalstaat der Rechtsabweichung verdächtigt. Immerhin nennt er nicht nur anonyme Mächte wie den Finanzkapitalismus und Spekulanten als Ursache, sondern auch "die Leute selbst", die "das finanzkapitalistische Spiel mitspielten", weil es über Jahrzehnte dabei geholfen hat, den zu verteilenden Kuchen zu vergrößern.
Es ist in der Tat die zentrale Frage, ob Institutionen, die auf Wachstum beruhen, es fertigbekommen, die "Ökonomie mit der Ökologie zu versöhnen". Lessenich hält das für eine zweifelhafte Leerformel, aber welche anderen Lösungen es gäbe, darüber schweigt er. Erst gegen Ende des Buches ist die Rede von "einer Ökonomie, die (. . .) die Bestimmung gesellschaftlicher Bedarfe nicht Märkten überlässt, sondern zum Gegenstand demokratischer Entscheidungen macht". Dass diese sozialistische Utopie noch nirgends funktioniert hat, sondern überall ein frommer Wunsch geblieben ist und die Freiheit untergraben hat, scheint Lessenich nicht anzufechten.
Auch im Blick auf die Flüchtlingskrise gibt es wenig Neues. Inzwischen weiß jeder, dass die Formel, Deutschland sei kein Einwanderungsland, eine Selbsttäuschung war. Damit lassen sich die Probleme des Jahres 2015 nun wirklich nicht mehr erklären, zumal sie auch in typischen Einwanderungsländern aufgetaucht sind. Lessenich nimmt zwar die Hilfsbereitschaft großer Teile der Bevölkerung zur Kenntnis, konstatiert aber vor allem, dass das Auftauchen immer neuer Fremder die gesellschaftliche Normalität durchkreuzt habe - das ist wenig überraschend und gilt immer und überall. Mit keinem Wort geht Lessenich auf die wirklichen Probleme ein: etwa die Überforderung von Kommunen, Landkreisen, Ländern und die Lasten für die Sozialsysteme. Dass mit der massenhaften Migration von Menschen aus anderen Kulturen auch Probleme reimportiert werden, von denen wir geglaubt hatten, sie seien seit Jahrzehnten überwunden, wird nicht erwähnt, Phänomene wie "Parallelgesellschaften" oder Clankriminalität kommen nicht vor. Es kommt hinzu, dass Lessenich die "Integration" der Ankömmlinge als eine Art Zwangsnormalisierung ablehnt. Da ist er paradoxerweise gar nicht so weit von Erdogan entfernt. Dass eine Gesellschaft einheitsstiftende Organisationen haben muss, dass es keine Vielfalt ohne Reibungen und Konflikte gibt, ist für Lessenich hauptsächlich ein Ausdruck von Angst der Privilegierten vor gesellschaftlichem Kontroll- und eigenem Statusverlust. Das ist, empirisch gesehen, ziemlich daneben, wenn man sich anschaut, wer bei uns die AfD oder in Frankreich Frau Le Pen wählt.
Als Scheinkrise tut Lessenich die Debatten über die "Identitätspolitik" mit ihren Facetten ab, von der Wokeness über das Gendern bis zur Cancel Culture. Er sieht darin ganz normale (und demzufolge legitime) Verteilungskämpfe, wobei es neben der Teilhabe an der Gesellschaft auch um materielle Güter geht. Dass Wissenschaftler, deren Ergebnisse oder Meinungen manchen Gruppen nicht passen, von Veranstaltungen ausgeladen werden oder gar nicht erst kommen, weil sie Unverschämtheiten und Anwürfe befürchten müssen, sind für ihn vereinzelte Exzesse, die von "den Feuilletons" zum Problem hochgejazzt werden.
Lessenich will den Lesern seines Buches "die Irrationalität des Ganzen" vor Augen führen. Letztlich geht es ihm um "andere Formen der Vergesellschaftung", um ein "Neudenken der korrektiven Möglichkeiten einer Befreiung von Zwängen, die uns noch immer als Freiheiten erscheinen". Kaum anzunehmen, dass er mit seiner wenig differenzierten Verdammung der Verhältnisse und seinen inhaltsarmen bis utopischen Vorstellungen einer möglichen Zukunft skeptische Leser überzeugt. GÜNTHER NONNENMACHER
Stephan Lessenich: "Nicht mehr normal". Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Hanser Verlag, Berlin 2022. 160 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andere Formen der Vergesellschaftung gesucht: Stephan Lessenich gibt Zeitdiagnose im Krisenmodus
Mit der "Zeitenwende" hat Olaf Scholz aus Anlass des Ukrainekrieges ein Wort in den politischen Diskurs eingeführt, das in den Sozialwissenschaften seit Jahren ein Thema ist. Es ist verknüpft mit der These, dass die Krisen, die wir derzeit auf vielen Gebieten erleben, miteinander verbunden und nicht Folgen des üblichen "normalen" Wandels seien, sondern Anfänge einer tiefgreifenden Umwälzung - Vorzeichen eines neuen Zeitalters. Stephan Lessenich, Soziologe und Direktor des traditionsreichen Frankfurter Instituts für Sozialforschung, hat seine Zeitdiagnose unter den Titel "Nicht mehr normal" gestellt. Er stellt sich die Frage, warum und wie die Gesellschaft von diesen Erschütterungen aus ihrer "Normallage" gekippt wird. Es steht dahin, ob der Untertitel von der "Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs" eine valide Diagnose ist - "die Gesellschaft" ist ja kein leidendes (oder gar handelndes) Subjekt - oder doch eher auf die Unsicherheit von Sozialwissenschaftlern hindeutet, von denen mehr und besserer Rat verlangt wird, als sie geben können.
Da Lessenich alles über den Leisten des Begriffs Normalität schlägt, ohne dass klar würde, welchen Erkenntnisgewinn das bringt, beginnt er mit einem Proseminar über die Bedeutung dieses Wortes. Danach analysiert er Ursache und Folgen zeitgenössischer Krisen. Speziell die deutsche Gesellschaft, so glaubt er, sei wegen einer "postnationalsozialistischen" Disposition von einer Nervenkrise befallen; Lessenich verkneift sich nicht einmal das vermeintliche Bonmot, dass "aus der nationalsozialistischen Ordnung des Grauens (. . .) die bundesrepublikanische Ordnung des Grauen erwachsen" sei. Auch das erklärt wenig bis nichts, denn die Stimmung in anderen Demokratien ist nicht viel anders, wie die Wahlerfolge von Rechtsextremisten und -populisten überall zeigen.
Lessenichs überwölbende Generalthese betrifft eine "Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann, die an ihren Gewissheiten zu zweifeln und an der Zukunft zu verzweifeln beginnt". Das war allerdings in allen Phasen historischer Umbrüche so und ist insofern ein "normales" Symptom. Dass wir in einer Zeitenwende leben, dafür steht heute vor allem die "Klimakrise". Sie ist, wie auch die diversen Finanzkrisen, für Lessenich das sichere Vorzeichen dafür, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem an seine Grenzen gekommen ist. Als Begründung dafür tauchen alte Bekannte auf: der Neoliberalismus und ein Wirtschaften, das auf einer "Logik des Illusionären aufbaut". Da lehnt sich Lessenich an Wolfgang Streeck an (F.A.Z. vom 16. Juli 2021), obwohl er diesen Autor wegen dessen Abneigung gegen die EU und sein Bekenntnis zum Nationalstaat der Rechtsabweichung verdächtigt. Immerhin nennt er nicht nur anonyme Mächte wie den Finanzkapitalismus und Spekulanten als Ursache, sondern auch "die Leute selbst", die "das finanzkapitalistische Spiel mitspielten", weil es über Jahrzehnte dabei geholfen hat, den zu verteilenden Kuchen zu vergrößern.
Es ist in der Tat die zentrale Frage, ob Institutionen, die auf Wachstum beruhen, es fertigbekommen, die "Ökonomie mit der Ökologie zu versöhnen". Lessenich hält das für eine zweifelhafte Leerformel, aber welche anderen Lösungen es gäbe, darüber schweigt er. Erst gegen Ende des Buches ist die Rede von "einer Ökonomie, die (. . .) die Bestimmung gesellschaftlicher Bedarfe nicht Märkten überlässt, sondern zum Gegenstand demokratischer Entscheidungen macht". Dass diese sozialistische Utopie noch nirgends funktioniert hat, sondern überall ein frommer Wunsch geblieben ist und die Freiheit untergraben hat, scheint Lessenich nicht anzufechten.
Auch im Blick auf die Flüchtlingskrise gibt es wenig Neues. Inzwischen weiß jeder, dass die Formel, Deutschland sei kein Einwanderungsland, eine Selbsttäuschung war. Damit lassen sich die Probleme des Jahres 2015 nun wirklich nicht mehr erklären, zumal sie auch in typischen Einwanderungsländern aufgetaucht sind. Lessenich nimmt zwar die Hilfsbereitschaft großer Teile der Bevölkerung zur Kenntnis, konstatiert aber vor allem, dass das Auftauchen immer neuer Fremder die gesellschaftliche Normalität durchkreuzt habe - das ist wenig überraschend und gilt immer und überall. Mit keinem Wort geht Lessenich auf die wirklichen Probleme ein: etwa die Überforderung von Kommunen, Landkreisen, Ländern und die Lasten für die Sozialsysteme. Dass mit der massenhaften Migration von Menschen aus anderen Kulturen auch Probleme reimportiert werden, von denen wir geglaubt hatten, sie seien seit Jahrzehnten überwunden, wird nicht erwähnt, Phänomene wie "Parallelgesellschaften" oder Clankriminalität kommen nicht vor. Es kommt hinzu, dass Lessenich die "Integration" der Ankömmlinge als eine Art Zwangsnormalisierung ablehnt. Da ist er paradoxerweise gar nicht so weit von Erdogan entfernt. Dass eine Gesellschaft einheitsstiftende Organisationen haben muss, dass es keine Vielfalt ohne Reibungen und Konflikte gibt, ist für Lessenich hauptsächlich ein Ausdruck von Angst der Privilegierten vor gesellschaftlichem Kontroll- und eigenem Statusverlust. Das ist, empirisch gesehen, ziemlich daneben, wenn man sich anschaut, wer bei uns die AfD oder in Frankreich Frau Le Pen wählt.
Als Scheinkrise tut Lessenich die Debatten über die "Identitätspolitik" mit ihren Facetten ab, von der Wokeness über das Gendern bis zur Cancel Culture. Er sieht darin ganz normale (und demzufolge legitime) Verteilungskämpfe, wobei es neben der Teilhabe an der Gesellschaft auch um materielle Güter geht. Dass Wissenschaftler, deren Ergebnisse oder Meinungen manchen Gruppen nicht passen, von Veranstaltungen ausgeladen werden oder gar nicht erst kommen, weil sie Unverschämtheiten und Anwürfe befürchten müssen, sind für ihn vereinzelte Exzesse, die von "den Feuilletons" zum Problem hochgejazzt werden.
Lessenich will den Lesern seines Buches "die Irrationalität des Ganzen" vor Augen führen. Letztlich geht es ihm um "andere Formen der Vergesellschaftung", um ein "Neudenken der korrektiven Möglichkeiten einer Befreiung von Zwängen, die uns noch immer als Freiheiten erscheinen". Kaum anzunehmen, dass er mit seiner wenig differenzierten Verdammung der Verhältnisse und seinen inhaltsarmen bis utopischen Vorstellungen einer möglichen Zukunft skeptische Leser überzeugt. GÜNTHER NONNENMACHER
Stephan Lessenich: "Nicht mehr normal". Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Hanser Verlag, Berlin 2022. 160 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Lesenswert ... Auf rund 150 Seiten untersucht Lessenich in so komprimierter wie anregender Form die Reaktionen der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf krisenhafte Veränderungen." Oliver Pfohlmann, Neue Zürcher Zeitung, 21.12.2022