Früher waren Jim und Tommy unzertrennlich. Jim, der Gymnasiast, wuchs bei seiner frommen Mutter ziemlich wohlbehütet auf. Tommy lebte bei einem Pflegevater und arbeitete in der Sägemühle. Nun treffen sie einander nach über dreißig Jahren wieder: Tommy hat es in der Finanzbranche zu Wohlstand gebracht, aber der Job ist ihm zuwider. Jim ist Bibliothekar geworden, seit einem Jahr jedoch ist er krankgeschrieben und angelt am Fluss. In unvergesslichen Szenen schildert Petterson die Freundschaft der beiden Männer, ihre Frauen, ihre Einsamkeit, ihre Wut und ihren Trotz. Wie kein anderer erzählt der vielfach ausgezeichnete Autor aus Norwegen vom ganz Alltäglichen auf ganz ungewöhnliche Weise.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Ein großes Buch über die Macht des Schicksals ist Per Pettersons Roman für Claus-Ulrich Bielefeld. Wie der Autor lakonisch geballtes Unglück erzählt, erscheint dem Rezensenten zwar mitunter als Zumutung für den Leser, der Umstand, dass Petterson seine Figuren nie ausstellt, sondern ihnen trotz Niederlagen immer auch eine gewisse Unabhängigkeit zugesteht, macht die rückblickend und mit vielen Wendungen erzählte Geschichte vom Erwachsenwerden im Norwegen der 60er, von einer Freundschaft und ihrem Ende für Bielefeld jedoch zu einer intensiven, einprägsamen Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2015Bleibt, was war?
„Nicht mit mir“ – der neue
Roman von Per Petterson
Vielleicht ist die Zeit nichts anderes als ein Sack, in den man alles Mögliche hineinstopfen kann – und so läuft sie nicht einfach von hier nach da, sondern bleibt an einem Fleck, und man kommt immer wieder dorthin zurück, von wo man aufgebrochen ist. So jedenfalls denkt es sich Tommy, eine der Hauptfiguren in Per Pettersons neuem Roman. Doch tief in seinem Inneren ahnt er, dass er sich irrt. Denn die Zeit hat alle Charaktere verändert. Und obwohl sie die Metamorphosen eher spüren, als sie voll im Bewusstsein zu halten, wissen sie, dass es kein Leben in der Vergangenheit gibt.
Der Norweger Per Petterson hat ein Faible für Figuren, die scheinbar aus der Welt gefallen sind. Wie Arvid aus dem Roman „Im Kielwasser“ (2007), der fast seine ganze Familie bei einem Schiffsunglück verloren hat. Bislang gab es bei ihm vor allem isolierte Erzähler, aber diesmal faltet Petterson ein ganzes Ensemble von Perspektiven auf. Da gibt es die beiden Freunde Jim und Tommy, die sich nach mehr als 30 Jahren wiedersehen, Tommys Schwester Siri, die nach ihrer harten Jugend in einer Hilfsorganisation arbeitet, den alten Jonsen, bei dem Tommy aufgewachsen ist – und Tommys Mutter, die den gewalttätigen Vater und die Kinder verlassen hat. Sie alle erzählen ihren Teil der Geschichte, mal in der Ich-Perspektive, mal in der dritten Person.
Petterson hat ein Buch über das Echo der Erinnerung geschrieben, über Freundschaft und die feinen Risslinien der Liebe. Sein Erzählen speist sich aus der „bewussten Unbestimmtheit“, von der einmal die Rede ist. Ob im Blick auf die Gefühlszustände der Figuren oder die Beschaffenheit der Landschaft – immer hält Petterson seine Sätze in einer genau kalkulierten Schwebe. Manchmal, meint Siri an einer Stelle, könne man sich nicht erinnern, was in einer bestimmten Lebensphase geschehen sei. Aber man erinnere sich an den Ton dieser Tage, an einzelne Dinge wie Steine, Bäume oder das Wasser. So ähnlich ergeht es einem mit diesem Roman. Wen man ihn ausgelesen hat, weiß man gar nicht mehr genau, wie die Handlung verlaufen ist, aber seine Atmosphäre bleibt im Gedächtnis: die Umrisse einzelner Momente, die Färbung der Sätze und das dunkle Licht über dem Fjord.
NICO BLEUTGE
Per Petterson: Nicht mit mir. Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2014. 286 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Nicht mit mir“ – der neue
Roman von Per Petterson
Vielleicht ist die Zeit nichts anderes als ein Sack, in den man alles Mögliche hineinstopfen kann – und so läuft sie nicht einfach von hier nach da, sondern bleibt an einem Fleck, und man kommt immer wieder dorthin zurück, von wo man aufgebrochen ist. So jedenfalls denkt es sich Tommy, eine der Hauptfiguren in Per Pettersons neuem Roman. Doch tief in seinem Inneren ahnt er, dass er sich irrt. Denn die Zeit hat alle Charaktere verändert. Und obwohl sie die Metamorphosen eher spüren, als sie voll im Bewusstsein zu halten, wissen sie, dass es kein Leben in der Vergangenheit gibt.
Der Norweger Per Petterson hat ein Faible für Figuren, die scheinbar aus der Welt gefallen sind. Wie Arvid aus dem Roman „Im Kielwasser“ (2007), der fast seine ganze Familie bei einem Schiffsunglück verloren hat. Bislang gab es bei ihm vor allem isolierte Erzähler, aber diesmal faltet Petterson ein ganzes Ensemble von Perspektiven auf. Da gibt es die beiden Freunde Jim und Tommy, die sich nach mehr als 30 Jahren wiedersehen, Tommys Schwester Siri, die nach ihrer harten Jugend in einer Hilfsorganisation arbeitet, den alten Jonsen, bei dem Tommy aufgewachsen ist – und Tommys Mutter, die den gewalttätigen Vater und die Kinder verlassen hat. Sie alle erzählen ihren Teil der Geschichte, mal in der Ich-Perspektive, mal in der dritten Person.
Petterson hat ein Buch über das Echo der Erinnerung geschrieben, über Freundschaft und die feinen Risslinien der Liebe. Sein Erzählen speist sich aus der „bewussten Unbestimmtheit“, von der einmal die Rede ist. Ob im Blick auf die Gefühlszustände der Figuren oder die Beschaffenheit der Landschaft – immer hält Petterson seine Sätze in einer genau kalkulierten Schwebe. Manchmal, meint Siri an einer Stelle, könne man sich nicht erinnern, was in einer bestimmten Lebensphase geschehen sei. Aber man erinnere sich an den Ton dieser Tage, an einzelne Dinge wie Steine, Bäume oder das Wasser. So ähnlich ergeht es einem mit diesem Roman. Wen man ihn ausgelesen hat, weiß man gar nicht mehr genau, wie die Handlung verlaufen ist, aber seine Atmosphäre bleibt im Gedächtnis: die Umrisse einzelner Momente, die Färbung der Sätze und das dunkle Licht über dem Fjord.
NICO BLEUTGE
Per Petterson: Nicht mit mir. Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2014. 286 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2015Achten Sie auf den dicken Polizisten
Der Norweger Per Petterson tritt mit seinem Roman "Nicht mit mir" über eine ungleiche Freundschaft das Stil-Erbe Hemingways an
Auf einer Brücke bei Oslo treffen sich zufällig zwei alte Freunde wieder, die sich fünfunddreißig Jahre lang nicht gesehen haben. Der eine, Jim, ist Bibliothekar, seit einem Jahr krankgeschrieben, und pflegt dort zu angeln. Der andere, Tommy, kommt in seinem neuen Mercedes langsam über die Brücke gefahren und erzählt dann gleich, dass er sich mehrere dieser Wagen leisten könnte. Es ist aber weniger Protzerei als die Verwunderung darüber, dass die Dinge sich "verkehrt herum entwickelt haben". Denn Tommy hatte die schlechteren Startbedingungen im Leben.
Per Pettersons neuer Roman enthält viele Zutaten, die man aus den bisherigen Werken des Autors kennt und schätzt: die Erinnerungen an die Jugendzeit um 1970, die Gebärden des Trotzes, die Liebe zu ehrlicher Arbeit und "einfachen", aber deshalb nicht unkomplizierten Menschen, die Beschwörung von Freundschaft und Familienkatastrophen. Und natürlich: unzuverlässige Mütter und gefährliche Väter, äußerlich stark, innerlich schwach.
Tommy Berggrens Vater ist Müllmann, ein düsterer Kraftprotz. Aber ungeachtet seiner Muskelspiele mit den schweren Stinketonnen schauen selbst die Müllwagen-Fahrer auf ihn herab. Seinen Frust lässt er an den Kindern aus: Tommy und seine drei Schwestern werden brutal verprügelt. Das Familienleben ist völlig aus dem Ruder gelaufen, seit Tommys Mutter zwei Jahre zuvor, 1964, spurlos verschwand. Nach einem weiteren, drastisch beschriebenen Gewaltausbruch des Vaters schreitet der vierzehnjährige Tommy schließlich mit der Schlagball-Keule zur Gegenwehr und sprengt die Familie endgültig auseinander.
Mit zertrümmertem Schienbein verschwindet nun auch der Vater. Die Geschwister kommen bei Pflegeeltern unter. Schlechte Bedingungen; und doch bringt es der trotzige Tommy später in der Finanzbranche zu Geld, zu großen Autos und vielen Frauen. Auch Jim wächst ohne Vater auf, bei seiner frömmelnden, behüteten Mutter, was ihm offenbar einen größeren psychischen Schaden beibringt. Er ist ein guter Schüler, aber viel sensibler, labiler, depressiver als sein resoluter Freund. Die Erinnerung an die Zeit um 1970 ist für ihn auch die Erinnerung an einen knapp gescheiterten Selbstmordversuch und einen langen Aufenthalt in der Psychiatrie: "Ich hatte versucht, mich im Holzschuppen zu erhängen, daran erinnere ich mich genau, an die Holzscheite dort, überwiegend Birke, aber auch Espe und Tanne, und ich erinnerte mich und dachte, dass Birkenscheite eindeutig allen anderen Holzsorten vorzuziehen waren, wenn man einen Ofen oder Kamin befeuern wollte. Daran dachte ich. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, warum ich mich hatte erhängen wollen."
Das ist charakteristisch für Pettersons Erzählstil: der genaue, manchmal befremdliche Blick auf Details, die dicht neben der Hauptsache liegen wie hier die Holzscheite, deren Bild klar vor Augen steht, während das Motiv für den Selbstmordversuch unausgesprochen bleibt. Kaum ein anderer Autor nach Hemingway hat das Herumschreiben um das Eigentliche und die Poetik der Lücke so sehr zum Programm gemacht wie Per Petterson. Seine Figuren sind verschwiegene, den Worten misstrauende Zeitgenossen. Auch sie wissen, dass vieles von dem, was zwischen Menschen vorgeht, mit Sätzen eher zugedeckt als ausgedrückt wird.
Die Geschichte einer ungleichen, ein paar Jahre den wichtigsten Lebensinhalt bietenden Freundschaft ist von großer poetischer Kraft. Sie verdankt sich gerade einem Erzählen, das nicht auf übersichtliche Chronologie vertraut, sondern auf die intensive Darstellung symbolischer Szenen. Nun ist es gerade ziemlich in Mode, Romane in Form eines Zeitpuzzles darzubieten, das der Leser gefälligst selbst zusammenzusetzen hat. Autoren springen durch die Jahrzehnte, motivieren das aber nicht innerhalb der Handlung (etwa durch Rückblicke oder Erinnerungsschübe), sondern überschreiben ihre Kapitel einfach mit Namen und Jahreszahl, wie "Tommy 1966" oder "Jim 2006".
In Pettersons Fall hat diese fragmentierte Art des Erzählens allerdings ihre Berechtigung. Schließlich ist es die Fragilität des Lebens selbst, von der die Romane dieses Autors handeln. Die Gegenwart der Menschen ist ein Resonanzkörper, in dem ständig Vergangenes mitschwingt, die Realität ist durchsetzt mit Träumen und Traumata. Vor allem aber verstärkt Per Petterson auf diese Weise die Inszenierung von Schwellensituationen, von Momenten der Initiation oder des Abschieds. Herzzerreißend, wenn Tommys Mutter am Morgen, bevor sie Norwegen still und heimlich (aber mit der Hilfe eines Liebhabers aus der Nachbarschaft) für immer verlässt, zum letzten Mal für ein paar Sekunden die eigenen Kinder im vorbeifahrenden Schulbus erblickt.
Auch bittere Komik gehört zum Erzählton, etwa wenn Tommy nach vier Jahrzehnten seinen längst totgeglaubten Vater auf der Polizei abholen muss. Der alte Mann erklärt sein Hinken mit einem Autounfall, beide aber wissen, dass es ihm vom Hieb des rebellischen Sohnes geblieben ist. Oder wenn Jim in einem Schuhgeschäft plötzlich keine Luft mehr bekommt, kollabiert und in der Panik ausgerechnet seine geschiedene Frau anruft, von der er sich trotzig abgewandt hat (Zusammen alt werden? Nicht mit mir!), und um Beistand fleht. Jim ist ein psychosomatischer Schmerzensmann; auf dem Arbeitsamt gilt er als Querulant. Immerhin geht er einer radikalen Lösung seiner Probleme entgegen.
In Pettersons Romanen ist die Handlung nicht das Entscheidende, es geht um prägnante, prägende Momente, um Stimmungen, Gemütsverdunklungen, Charakterschattierungen, und sei es nur in der beiläufigen Darstellung eines Dorfpolizisten, der Tommy nach einer Brandstiftung zum Verhör bringt. Die Beleibtheit des Polizisten, seine Müdigkeit, sein krankes Aussehen, sein resignierter Ton sind wichtiger als das Verhör selbst.
Per Pettersons schlichten, aber immer sorgsam formulierten, mit biblisch vielen "und" verbundenen Sätzen ist deutlich das Vorbild Hemingways anzumerken. Aber seine stimmungsvolle Prosa ist eigenständig und - in der geschmeidigen Übersetzung von Ina Kronenberger - faszinierend genug, dass dies nicht als Epigonalität stört. Man muss sich Zeit lassen mit diesem labyrinthisch erzählten Freundschafts- und Familienroman voller Leerstellen und Verrätselungen, um von seinem Lebensschmerz und seiner Melancholie gebannt zu sein.
WOLFGANG SCHNEIDER
Per Petterson:
"Nicht mit mir". Roman.
Aus dem Norwegischen
von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2014. 286 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Norweger Per Petterson tritt mit seinem Roman "Nicht mit mir" über eine ungleiche Freundschaft das Stil-Erbe Hemingways an
Auf einer Brücke bei Oslo treffen sich zufällig zwei alte Freunde wieder, die sich fünfunddreißig Jahre lang nicht gesehen haben. Der eine, Jim, ist Bibliothekar, seit einem Jahr krankgeschrieben, und pflegt dort zu angeln. Der andere, Tommy, kommt in seinem neuen Mercedes langsam über die Brücke gefahren und erzählt dann gleich, dass er sich mehrere dieser Wagen leisten könnte. Es ist aber weniger Protzerei als die Verwunderung darüber, dass die Dinge sich "verkehrt herum entwickelt haben". Denn Tommy hatte die schlechteren Startbedingungen im Leben.
Per Pettersons neuer Roman enthält viele Zutaten, die man aus den bisherigen Werken des Autors kennt und schätzt: die Erinnerungen an die Jugendzeit um 1970, die Gebärden des Trotzes, die Liebe zu ehrlicher Arbeit und "einfachen", aber deshalb nicht unkomplizierten Menschen, die Beschwörung von Freundschaft und Familienkatastrophen. Und natürlich: unzuverlässige Mütter und gefährliche Väter, äußerlich stark, innerlich schwach.
Tommy Berggrens Vater ist Müllmann, ein düsterer Kraftprotz. Aber ungeachtet seiner Muskelspiele mit den schweren Stinketonnen schauen selbst die Müllwagen-Fahrer auf ihn herab. Seinen Frust lässt er an den Kindern aus: Tommy und seine drei Schwestern werden brutal verprügelt. Das Familienleben ist völlig aus dem Ruder gelaufen, seit Tommys Mutter zwei Jahre zuvor, 1964, spurlos verschwand. Nach einem weiteren, drastisch beschriebenen Gewaltausbruch des Vaters schreitet der vierzehnjährige Tommy schließlich mit der Schlagball-Keule zur Gegenwehr und sprengt die Familie endgültig auseinander.
Mit zertrümmertem Schienbein verschwindet nun auch der Vater. Die Geschwister kommen bei Pflegeeltern unter. Schlechte Bedingungen; und doch bringt es der trotzige Tommy später in der Finanzbranche zu Geld, zu großen Autos und vielen Frauen. Auch Jim wächst ohne Vater auf, bei seiner frömmelnden, behüteten Mutter, was ihm offenbar einen größeren psychischen Schaden beibringt. Er ist ein guter Schüler, aber viel sensibler, labiler, depressiver als sein resoluter Freund. Die Erinnerung an die Zeit um 1970 ist für ihn auch die Erinnerung an einen knapp gescheiterten Selbstmordversuch und einen langen Aufenthalt in der Psychiatrie: "Ich hatte versucht, mich im Holzschuppen zu erhängen, daran erinnere ich mich genau, an die Holzscheite dort, überwiegend Birke, aber auch Espe und Tanne, und ich erinnerte mich und dachte, dass Birkenscheite eindeutig allen anderen Holzsorten vorzuziehen waren, wenn man einen Ofen oder Kamin befeuern wollte. Daran dachte ich. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, warum ich mich hatte erhängen wollen."
Das ist charakteristisch für Pettersons Erzählstil: der genaue, manchmal befremdliche Blick auf Details, die dicht neben der Hauptsache liegen wie hier die Holzscheite, deren Bild klar vor Augen steht, während das Motiv für den Selbstmordversuch unausgesprochen bleibt. Kaum ein anderer Autor nach Hemingway hat das Herumschreiben um das Eigentliche und die Poetik der Lücke so sehr zum Programm gemacht wie Per Petterson. Seine Figuren sind verschwiegene, den Worten misstrauende Zeitgenossen. Auch sie wissen, dass vieles von dem, was zwischen Menschen vorgeht, mit Sätzen eher zugedeckt als ausgedrückt wird.
Die Geschichte einer ungleichen, ein paar Jahre den wichtigsten Lebensinhalt bietenden Freundschaft ist von großer poetischer Kraft. Sie verdankt sich gerade einem Erzählen, das nicht auf übersichtliche Chronologie vertraut, sondern auf die intensive Darstellung symbolischer Szenen. Nun ist es gerade ziemlich in Mode, Romane in Form eines Zeitpuzzles darzubieten, das der Leser gefälligst selbst zusammenzusetzen hat. Autoren springen durch die Jahrzehnte, motivieren das aber nicht innerhalb der Handlung (etwa durch Rückblicke oder Erinnerungsschübe), sondern überschreiben ihre Kapitel einfach mit Namen und Jahreszahl, wie "Tommy 1966" oder "Jim 2006".
In Pettersons Fall hat diese fragmentierte Art des Erzählens allerdings ihre Berechtigung. Schließlich ist es die Fragilität des Lebens selbst, von der die Romane dieses Autors handeln. Die Gegenwart der Menschen ist ein Resonanzkörper, in dem ständig Vergangenes mitschwingt, die Realität ist durchsetzt mit Träumen und Traumata. Vor allem aber verstärkt Per Petterson auf diese Weise die Inszenierung von Schwellensituationen, von Momenten der Initiation oder des Abschieds. Herzzerreißend, wenn Tommys Mutter am Morgen, bevor sie Norwegen still und heimlich (aber mit der Hilfe eines Liebhabers aus der Nachbarschaft) für immer verlässt, zum letzten Mal für ein paar Sekunden die eigenen Kinder im vorbeifahrenden Schulbus erblickt.
Auch bittere Komik gehört zum Erzählton, etwa wenn Tommy nach vier Jahrzehnten seinen längst totgeglaubten Vater auf der Polizei abholen muss. Der alte Mann erklärt sein Hinken mit einem Autounfall, beide aber wissen, dass es ihm vom Hieb des rebellischen Sohnes geblieben ist. Oder wenn Jim in einem Schuhgeschäft plötzlich keine Luft mehr bekommt, kollabiert und in der Panik ausgerechnet seine geschiedene Frau anruft, von der er sich trotzig abgewandt hat (Zusammen alt werden? Nicht mit mir!), und um Beistand fleht. Jim ist ein psychosomatischer Schmerzensmann; auf dem Arbeitsamt gilt er als Querulant. Immerhin geht er einer radikalen Lösung seiner Probleme entgegen.
In Pettersons Romanen ist die Handlung nicht das Entscheidende, es geht um prägnante, prägende Momente, um Stimmungen, Gemütsverdunklungen, Charakterschattierungen, und sei es nur in der beiläufigen Darstellung eines Dorfpolizisten, der Tommy nach einer Brandstiftung zum Verhör bringt. Die Beleibtheit des Polizisten, seine Müdigkeit, sein krankes Aussehen, sein resignierter Ton sind wichtiger als das Verhör selbst.
Per Pettersons schlichten, aber immer sorgsam formulierten, mit biblisch vielen "und" verbundenen Sätzen ist deutlich das Vorbild Hemingways anzumerken. Aber seine stimmungsvolle Prosa ist eigenständig und - in der geschmeidigen Übersetzung von Ina Kronenberger - faszinierend genug, dass dies nicht als Epigonalität stört. Man muss sich Zeit lassen mit diesem labyrinthisch erzählten Freundschafts- und Familienroman voller Leerstellen und Verrätselungen, um von seinem Lebensschmerz und seiner Melancholie gebannt zu sein.
WOLFGANG SCHNEIDER
Per Petterson:
"Nicht mit mir". Roman.
Aus dem Norwegischen
von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2014. 286 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Norweger Per Petterson tritt mit seinem Roman 'Nicht mit mir' über eine ungleiche Freundschaft das Stil-Erbe Hemingways an." Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.15
"Petterson ist ein großer, erschütternder Roman über die schreckliche Macht der Verhältnisse und die Gewalt des Schicksals gelungen." Claus-Ulrich Bielefeld, Die Welt, 17.01.15
"Petterson ist ein großer, erschütternder Roman über die schreckliche Macht der Verhältnisse und die Gewalt des Schicksals gelungen." Claus-Ulrich Bielefeld, Die Welt, 17.01.15