»Manche Leute sind so langweilig, dass man mit ihnen in fünf Minuten einen ganzen Tag verliert«, notierte Jules Renard in seinem Tagebuch, das als sein literarisches Hauptwerk gilt. 46 Jahre alt ist der Dichter, Schriftsteller und gefürchtete Kritiker der Jahrhundertwende geworden, in seinem kurzen Leben hat er 54 Tagebücher gefüllt: Alltagsbeobachtungen und literarische Miniaturen, Gedankensplitter und Aphorismen, moralische Reflexionen und Naturbeschreibungen, die scheinbar unverbunden nebeneinander stehen. Mit spitzer Feder schreibt Renard über seine Zeitgenossen und die künstlerisch-literarischen Pariser Kreise, in denen er sich bewegt. Mal witzig, mal melancholisch - immer scharfsinnig. Die geistreichsten Notate hat Nikolaus Heidelbach für diesen Band zusammengestellt und illustriert.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Köstlich unterhalten fühlt sich Rezensent Niklas Bender von der nun endlich neu aufgelegten deutschen Ausgabe der Tagebücher des französischen Avantgardisten Jules Renard. Dass man gar nicht so viel vom Privatleben des Schriftstellers erfährt, stört Bender nicht, er ist froh darüber, dass sich die Miniaturen einer strikten Klassifizierung als Tagebucheinträge sogar eher entziehen und stattdessen die Pariser Künstlerkreise, die Natur oder philosophische Abwägungen thematisieren, mit Sätzen, die das Thema wie ein Pfeil aufspießen. Der Kritiker empfiehlt diesen "frischen, schneidenden Text" - noch dazu in der "eleganten" Übersetzung von Liselotte Ronte - als womöglich bestes Buch Renards.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2023Wer Fuchs heißt, pflegt einen rötlichen Stil
Er selbst hielt es für das Sinnvollste, was er je geschaffen hat: Die Tagebucheinträge des französischen Schriftstellers Jules Renard, die jetzt in Auswahl neu auf Deutsch erscheinen, zeigen ihn als einen Meister der pointierten Prosa.
Jules Renard (1864 bis 1910) gehört in die große, etwas obskure Truppe jener französischen Schriftsteller, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf einen unglaublichen Innovationsschub in Roman und Lyrik zurückblickten. Sie empfanden sich oft als Epigonen, sahen Erzählkunst und Lyrik in Erschöpfung und Krise, über die sie nicht konsequent hinauskamen. Sie führten fort oder experimentierten, und im besten Fall entstanden Werke, manchmal nur Passagen, die man als späte Blüten von Realismus, Naturalismus, Symbolismus sehen oder als erste avantgardistische Durchbrüche verstehen kann. Beides trifft auf Renard zu, der heute nur noch durch sein zum (mittlerweile ehemaligen) Schullektüre-Klassiker avanciertes Büchlein "Rotfuchs" (1894) bekannt ist. Dabei lohnten seine durch Ravel vertonten "Histoires naturelles" (Naturgeschichten, 1894) eine Wiederentdeckung.
In seinem erstmals 1925 bis 1927 in fünf Bänden postum (durch Henri Bachelin, nach einer Säuberung durch die Witwe) veröffentlichten Tagebuch zeigt sich Renard von seiner besten Seite. Anders, als man von einem Diaristen erwarten würde, berichtet er recht wenig von seinem Leben, auch wenn er ausführlich Zweifel und Selbstkritik entwickelt - Renard hält sich offenbar für gnadenlos faul. Ein Großteil der Einträge ist vielmehr Bildern und Überlegungen in Form von Aphorismen, Sentenzen, Miniaturen, Kleinstssays und ähnlichen kurzen Prosaformen gewidmet, die es Renard erlauben, Gedanken auf pointierte, überraschende, oft amüsante Weise zu formulieren, frei nach dem Motto: "Die flüchtige Idee beim Schopfe fassen und ihr die Nase auf dem Papier platt drücken." So notiert am 7. Mai 1891.
Themen sind die Natur, Landschaftsbilder - "Am Himmel eine kleine Wolke wie eine verirrte Gans" (13. Juni 1897) -, Flora und Fauna, besonders jedoch das Gesellschaftsleben. Renard, der vom Vermögen seiner Frau lebt, hat sich in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts einen Namen als Schriftsteller gemacht, erringt dann Anerkennung in Form von Ehrenlegion und Mitgliedschaft in der Jury des kurz zuvor gegründeten Prix Goncourt. Obwohl er später eine Lokalpolitikerlaufbahn in der Provinz einschlägt, kennt er das Pariser Milieu und kommt häufig auf Kollegen zu sprechen, etwa auf Barrès, Blum, die Daudets, Gide, Mallarmé, Rostand, Schwob, Zola. Oder auf Maler - eindrücklich die Zeilen zu Toulouse-Lautrec. Mit George Sand ("die bretonische Kuh der Literatur") und Cézanne ("Zimmermann der Farbe") muss man Mitleid haben, ebenso mit Alfred Jarry, den er für kindisch hält, obwohl er Renards Interesse für Radfahren und Jagd teilt; viele andere werden zumindest vordergründig gut behandelt. Es berühren Renards andauernde Liebe zu seiner Frau und sein Umgang mit dem eigenen frühen Altern.
Renard sucht eine äußerst verdichtete, kunstvolle Sprache: "Prosa, das sollte ein Vers sein, der die Zeile nicht einhält." (13. Oktober 1891) Dahinter steht nicht eine übermäßige Verehrung der Dichter, sondern ein in der Folge Flauberts gesteigertes Stil-Ideal: "der vertikale, wie Diamanten strahlende, makellose Stil" (11. November 1887). Den seinen stellte Renard sich rötlich vor - seines Nachnamens halber, der "Fuchs" bedeutet? Wie Flaubert lehnt er "den Realismus" ab, den beide in vieler Hinsicht jedoch selbst betrieben; an anderer Stelle sieht Renard sich als "Taschenbuchausgabe von Maupassant" und damit als Schüler des Flaubert-Schülers - ein doppelter Epigone.
Allerdings tun sich im Tagebuch noch ganz andere Filiationen auf. "Es genügt nicht, selbst glücklich zu sein; die anderen müssen dazu noch unglücklich sein." (16. Mai 1894) In Sentenzen wie dieser klingt die klassische Moralistik des siebzehnten Jahrhunderts an, welche die Eigenliebe des Menschen gnadenlos offenlegt. Das will Renard ebenfalls, obschon ohne jeden religiösen Hintergrund. Er formuliert es zudem ungleich drastischer und moderner: "meinen Satz laden, gut zielen und ins Schwarze treffen" (21. März 1901). Konsequent nennt Renard als Vorbild immer wieder den späten Moralisten La Bruyère, der bereits sozialkritische Töne anschlägt.
So wichtig die literarische Herkunft sein mag, zu strikte Einstufungen verbergen die Originalität. Die Wahl des Tagebuchs ist zunächst die einer großen Freiheit, die zugleich Renards Scheu vor dem einen großen Werk entspricht; auch "Rotfuchs" beschränkt sich auf Episoden. Im Tagebuch kommt thematische Offenheit hinzu, eine Herausforderung, denn "eine größere Kunst ist es wohl, in kleinen Schritten über unzählige Themen zu schreiben, die unverhofft auftauchen, sozusagen die eigenen Gedanken zu zerbröseln. Auf diese Weise ist nichts erzwungen, alles behält den Reiz des Ungewollten, des Natürlichen." (13. September 1887) "Es gibt nur Unzusammenhängendes" (5. November 1895): In Verbindung mit einem verknappten, trockenen Stil entsteht dank diesem Motto ein frischer, schneidender Text, der durchaus moderne Züge trägt.
Renard irrt wohl nicht, wenn er festhält, sein Tagebuch sei "das Beste und das Sinnvollste, was ich in meinem Leben geschaffen habe" (14. November 1900). Auf jeden Fall freut es, dass die elegant übertragene und mit kundigem Nachwort versehene Winkler-Auswahl von 1986 nun durch den Kampa Verlag wieder aufgelegt worden ist, ergänzt durch Zeichnungen von Nikolaus Heidelbach, die Renards Gedanken visuell aufspießen. Aber der Kritiker kann und darf in seinem Urteil irren, zumindest gesteht ihm Renard das ironisch zu: "Es ist das gute Recht eines jeden Kritikers, seine Artikel einen nach dem anderen wieder zu verwerfen, und seine Pflicht, keinerlei Überzeugung zu haben." (21. Februar 1890) Wie erfreulich. NIKLAS BENDER
Jules Renard: "Nicht so laut, bitte! Wenn Sie die Wahrheit sagen, schreien Sie immer so." Tagebuch 1887-1909.
Illustriert von Nikolaus Heidelbach. Aus dem Französischen von Liselotte Ronte. Kampa Verlag, Zürich 2022. 416 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er selbst hielt es für das Sinnvollste, was er je geschaffen hat: Die Tagebucheinträge des französischen Schriftstellers Jules Renard, die jetzt in Auswahl neu auf Deutsch erscheinen, zeigen ihn als einen Meister der pointierten Prosa.
Jules Renard (1864 bis 1910) gehört in die große, etwas obskure Truppe jener französischen Schriftsteller, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf einen unglaublichen Innovationsschub in Roman und Lyrik zurückblickten. Sie empfanden sich oft als Epigonen, sahen Erzählkunst und Lyrik in Erschöpfung und Krise, über die sie nicht konsequent hinauskamen. Sie führten fort oder experimentierten, und im besten Fall entstanden Werke, manchmal nur Passagen, die man als späte Blüten von Realismus, Naturalismus, Symbolismus sehen oder als erste avantgardistische Durchbrüche verstehen kann. Beides trifft auf Renard zu, der heute nur noch durch sein zum (mittlerweile ehemaligen) Schullektüre-Klassiker avanciertes Büchlein "Rotfuchs" (1894) bekannt ist. Dabei lohnten seine durch Ravel vertonten "Histoires naturelles" (Naturgeschichten, 1894) eine Wiederentdeckung.
In seinem erstmals 1925 bis 1927 in fünf Bänden postum (durch Henri Bachelin, nach einer Säuberung durch die Witwe) veröffentlichten Tagebuch zeigt sich Renard von seiner besten Seite. Anders, als man von einem Diaristen erwarten würde, berichtet er recht wenig von seinem Leben, auch wenn er ausführlich Zweifel und Selbstkritik entwickelt - Renard hält sich offenbar für gnadenlos faul. Ein Großteil der Einträge ist vielmehr Bildern und Überlegungen in Form von Aphorismen, Sentenzen, Miniaturen, Kleinstssays und ähnlichen kurzen Prosaformen gewidmet, die es Renard erlauben, Gedanken auf pointierte, überraschende, oft amüsante Weise zu formulieren, frei nach dem Motto: "Die flüchtige Idee beim Schopfe fassen und ihr die Nase auf dem Papier platt drücken." So notiert am 7. Mai 1891.
Themen sind die Natur, Landschaftsbilder - "Am Himmel eine kleine Wolke wie eine verirrte Gans" (13. Juni 1897) -, Flora und Fauna, besonders jedoch das Gesellschaftsleben. Renard, der vom Vermögen seiner Frau lebt, hat sich in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts einen Namen als Schriftsteller gemacht, erringt dann Anerkennung in Form von Ehrenlegion und Mitgliedschaft in der Jury des kurz zuvor gegründeten Prix Goncourt. Obwohl er später eine Lokalpolitikerlaufbahn in der Provinz einschlägt, kennt er das Pariser Milieu und kommt häufig auf Kollegen zu sprechen, etwa auf Barrès, Blum, die Daudets, Gide, Mallarmé, Rostand, Schwob, Zola. Oder auf Maler - eindrücklich die Zeilen zu Toulouse-Lautrec. Mit George Sand ("die bretonische Kuh der Literatur") und Cézanne ("Zimmermann der Farbe") muss man Mitleid haben, ebenso mit Alfred Jarry, den er für kindisch hält, obwohl er Renards Interesse für Radfahren und Jagd teilt; viele andere werden zumindest vordergründig gut behandelt. Es berühren Renards andauernde Liebe zu seiner Frau und sein Umgang mit dem eigenen frühen Altern.
Renard sucht eine äußerst verdichtete, kunstvolle Sprache: "Prosa, das sollte ein Vers sein, der die Zeile nicht einhält." (13. Oktober 1891) Dahinter steht nicht eine übermäßige Verehrung der Dichter, sondern ein in der Folge Flauberts gesteigertes Stil-Ideal: "der vertikale, wie Diamanten strahlende, makellose Stil" (11. November 1887). Den seinen stellte Renard sich rötlich vor - seines Nachnamens halber, der "Fuchs" bedeutet? Wie Flaubert lehnt er "den Realismus" ab, den beide in vieler Hinsicht jedoch selbst betrieben; an anderer Stelle sieht Renard sich als "Taschenbuchausgabe von Maupassant" und damit als Schüler des Flaubert-Schülers - ein doppelter Epigone.
Allerdings tun sich im Tagebuch noch ganz andere Filiationen auf. "Es genügt nicht, selbst glücklich zu sein; die anderen müssen dazu noch unglücklich sein." (16. Mai 1894) In Sentenzen wie dieser klingt die klassische Moralistik des siebzehnten Jahrhunderts an, welche die Eigenliebe des Menschen gnadenlos offenlegt. Das will Renard ebenfalls, obschon ohne jeden religiösen Hintergrund. Er formuliert es zudem ungleich drastischer und moderner: "meinen Satz laden, gut zielen und ins Schwarze treffen" (21. März 1901). Konsequent nennt Renard als Vorbild immer wieder den späten Moralisten La Bruyère, der bereits sozialkritische Töne anschlägt.
So wichtig die literarische Herkunft sein mag, zu strikte Einstufungen verbergen die Originalität. Die Wahl des Tagebuchs ist zunächst die einer großen Freiheit, die zugleich Renards Scheu vor dem einen großen Werk entspricht; auch "Rotfuchs" beschränkt sich auf Episoden. Im Tagebuch kommt thematische Offenheit hinzu, eine Herausforderung, denn "eine größere Kunst ist es wohl, in kleinen Schritten über unzählige Themen zu schreiben, die unverhofft auftauchen, sozusagen die eigenen Gedanken zu zerbröseln. Auf diese Weise ist nichts erzwungen, alles behält den Reiz des Ungewollten, des Natürlichen." (13. September 1887) "Es gibt nur Unzusammenhängendes" (5. November 1895): In Verbindung mit einem verknappten, trockenen Stil entsteht dank diesem Motto ein frischer, schneidender Text, der durchaus moderne Züge trägt.
Renard irrt wohl nicht, wenn er festhält, sein Tagebuch sei "das Beste und das Sinnvollste, was ich in meinem Leben geschaffen habe" (14. November 1900). Auf jeden Fall freut es, dass die elegant übertragene und mit kundigem Nachwort versehene Winkler-Auswahl von 1986 nun durch den Kampa Verlag wieder aufgelegt worden ist, ergänzt durch Zeichnungen von Nikolaus Heidelbach, die Renards Gedanken visuell aufspießen. Aber der Kritiker kann und darf in seinem Urteil irren, zumindest gesteht ihm Renard das ironisch zu: "Es ist das gute Recht eines jeden Kritikers, seine Artikel einen nach dem anderen wieder zu verwerfen, und seine Pflicht, keinerlei Überzeugung zu haben." (21. Februar 1890) Wie erfreulich. NIKLAS BENDER
Jules Renard: "Nicht so laut, bitte! Wenn Sie die Wahrheit sagen, schreien Sie immer so." Tagebuch 1887-1909.
Illustriert von Nikolaus Heidelbach. Aus dem Französischen von Liselotte Ronte. Kampa Verlag, Zürich 2022. 416 S., Abb., geb., 28,- Euro.
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