28,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in über 4 Wochen
  • Gebundenes Buch

»Schlussendlich müssen wir entscheiden, welche Art von Menschen wir sein möchten, als Individuen ebenso wie als Kollektiv. Die Philosophie kann dabei eine Rolle spielen, aber wir sollten darüber hinaus auf Ressourcen zurückgreifen, die breiter sind als diejenigen, die die Philosophie zur Verfügung stellen kann.«
Für die meisten Menschen im »Westen« ist der Liberalismus zu einer Gegebenheit quasinatürlicher Art geworden, zu einem auf Dauer gestellten Hintergrundrauschen. Und doch gibt es in jeder Gesellschaft Winkel abseits des kulturellen Mainstreams. Der Philosoph Raymond Geuss ist in
…mehr

Produktbeschreibung
»Schlussendlich müssen wir entscheiden, welche Art von Menschen wir sein möchten, als Individuen ebenso wie als Kollektiv. Die Philosophie kann dabei eine Rolle spielen, aber wir sollten darüber hinaus auf Ressourcen zurückgreifen, die breiter sind als diejenigen, die die Philosophie zur Verfügung stellen kann.«

Für die meisten Menschen im »Westen« ist der Liberalismus zu einer Gegebenheit quasinatürlicher Art geworden, zu einem auf Dauer gestellten Hintergrundrauschen. Und doch gibt es in jeder Gesellschaft Winkel abseits des kulturellen Mainstreams. Der Philosoph Raymond Geuss ist in einem solchen Winkel aufgewachsen und zeichnet in seinem Buch nach, wie er in jungen Jahren mit einer ethisch-politischen Perspektive vertraut gemacht wurde, die sein Denken nachhaltig geprägt hat.

1959 kommt der begabte Sohn eines tiefkatholischen Stahlarbeiters auf ein Internat am Stadtrand von Philadelphia. Umgeben von Eisenhowers Amerika, versuchen ungarische Priester dort, den jungen Geuss zu immunisieren: gegen den repressiv-autoritären Kommunismus, dem sie entflohen waren, aber auch gegen den geistlosen liberalen Kapitalismus, in dem sie nun leben. Danach - es ist Vietnamkrieg und »1968« - geht Geuss zum Studium nach New York, wo er auf legendäre akademische Lehrer wie Sidney Morgenbesser trifft, und nach Westdeutschland, wo er das erste Mal Adorno liest.

Nicht wie ein Liberaler denken führt mit analytischer Klarheit durch die intellektuellen Strömungen, die Geuss' ablehnende Haltung zu Liberalismus und Autoritarismus geformt haben. Eine faszinierende persönliche Ideengeschichte und eine fesselnde Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen der Philosophie.
Autorenporträt
Raymond Geuss, geboren 1946 in Evansville, Indiana, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität von Cambridge. Er studierte an der Columbia Universityin New York, wo er 1971 promovierte, sowie in Freiburg und lehrte u. a. in Heidelberg, Chicago und Princeton. Geuss war Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin und ist Mitglied der British Academy.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der hier rezensierende Philosoph Otfried Höffe folgt Raymond Geuss' intellektueller Biografie und lernt, wie der Autor unter dem Eindruck persönlicher Erfahrungen zum Kritiker des Liberalismus wurde. Dennoch entgeht Höffe nicht die Anlage des Buches als Provokation. Der Philosoph kritisiert die Dichotomie aus Liberalismus und Autoritarismus und Habermas' Diskurstheorie und präsentiert sich als Begriffsskeptiker, so Höffe. Auch Geuss' Lehrer wie Robert Paul Wolff haben ihren Auftritt, schreibt Höffe. Warum der Autor nicht die guten Seiten des Liberalismus bzw. die kontinentaleuropäischen Demokratien mit ihrer Sozialstaatlichkeit aus seiner Kritik herauslöst, kann sich Höffe allerdings nicht erklären.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2023

Diskussion
beendet
Der amerikanische Philosoph
Raymond Geuss erzählt, wie er es
schaffte, kein Liberaler zu werden.
War das eigentlich nötig?
VON GUSTAV SEIBT
Wer eine philosophische Autobiografie schreibt, muss mit dem Problem der Kontingenz, der lebensgeschichtlichen Zufälligkeit auf einem Gebiet zurechtkommen, in dem das Ideal der Stringenz, der argumentativen, problemorientierten Notwendigkeit regiert. Zufällig mögen die Anlässe zum Eintritt ins Denken sein, danach aber, so das verbreitete Schema, entwickelte sich ein „Denkweg“ mit gebührender, auch für andere überzeugender Folgerichtigkeit.
Raymond Geuss, inzwischen fast achtzig Jahre alter politischer Philosoph (geboren 1946 in den USA, zuletzt im britischen Cambridge lehrend), verschmäht das Schema. Ja, er dreht es geradezu um: Er feiert die Kontingenz einer biografischen Konstellation, die ihn vor dem kulturellen Zwang bewahrte, der schier übermächtigen Notwendigkeit, „wie ein Liberaler zu denken“. Denn, so lautet fast die einzige harte These seiner Selbstdarstellung, das „Vokabalur des Liberalismus“ sei „zweifellos das beherrschende und praktisch alles durchdringende Idiom unseres Denkens und Sprechens“. Es sei also kaum möglich, dieser Denkweise zu entkommen, so tief sei sie in den kulturellen Vorverständnissen von Geuss' amerikanischer Herkunftswelt verankert.
So im Allgemeinen mag diese These von Europa und Deutschland aus gesehen allerdings verwundern, nach einem Jahrhundert totalitärer Erfahrungen samt linken und rechten Ideengebäuden, die bis heute nachwirken – man denke nur an Carl Schmitt, an die heutige programmatische Renaissance des Illiberalismus in der europäischen Rechten, beispielsweise in Ungarn. Aber Geuss berichtet von einer Jugend in den USA im Kalten Krieg. Welchen Liberalismus meint er? Sein Kern sei die Vorstellung eines „souveränen Individuum“ (oder auch „Subjekts“) mit ihm zustehenden Freiheitsrechten und der Wahlmöglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben. Das Gegenüber sind autoritäre, auf Gewalt gegründete Verhältnisse. Außerdem kennzeichne den Liberalismus der Glaube ans Argumentieren, an eine freie Diskussion, die dann gewaltfrei zu irgendwie zwingenden Resultaten führe.
Mit dem „irgendwie“ haben wir hier schon mal eine beherrschende Stilmarotte von Geuss aufgegriffen, die absichtsvolle Verwischung und Verweigerung von definitorischer Präzision - ausgedruckt in unzähligen Einschränkungen wie „in gewisser Weise“, „bis zu einem gewissen Grad“, „mehr oder weniger“. Denn Geuss verschmäht genau das Ideal zwingenden Argumentierens, das er dem kommunen Liberalismus unterstellt. Er will nicht „beweisen“, er möchte „nur“ beschreiben und zeigen - am besonderen Fall seiner eigenen intellektuellen Biografie. Es war möglich, trotz allem, kein Liberaler zu werden.
Tun wir einmal so überrascht, wie Geuss es für seinen Zweck voraussetzen muss und fragen: Wie das? Der bildungshungrige Sohn eines Stahlarbeiters geriet in eine katholische Privatschule nach 1956 emigrierter ungarischer Jesuiten am Stadtrand von Philadelphia. Geuss beschreibt diese Schule als letzten Außenposten der österreichisch-ungarischen Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Zeitkapsel. Hier wurde über den liberalen Glauben an individuelle Autonomie nur gelächelt – weder sei der Einzelne unabhängig, sondern bestimmt von Familie, Umwelt, Geschichte, noch sei er sich selbst durchsichtig. Eine reizvolle Mischung von Katholizismus, Existenzphilosophie und sogar Psychoanalyse lässt liberale Illusionen gar nicht erst aufkommen. Béla Kriger, der charismatische Lehrer, ist die am häufigsten genannte Person in dem Buch von Geuss.
Ihm folgt eine längere Reihe anderer, teils persönlich erlebter, teils in Lektüren adoptierter Lehrer, die in Theodor W. Adorno gipfelt. Dessen „Negativität“ mit ihrer Verweigerung positiver Alternativen zum schlechten Bestehenden macht Geuss sich enthusiastisch (sofern dieser im Ton absichtsvoll übelgelaunte Brummbär enthusiastisch sein kann) zu eigen. Alle diese Meister tragen weitere Steine zum antiliberalen Affekt des Helden bei, womit eine leichte Dissonanz zur Ausgangsthese ins Spiel kommt - aber solches „Argumentieren“ gilt im Raum dieses Buchs ja nicht. Die besondere Verachtung von Geuss gilt der Theorie von John Rawls, deren Verwandlung von „Gerechtigkeit“ in „Fairness“ mit „Rechten“ unterm „Schleier der Nichtwissens“ samt Billigung von nutzbringender Ungleichheit Geuss für ideologisches Gewäsch hält.
Nach einem kulturkritisch schlecht gelaunten Rundblick auf den heutigen Überwachungskapitalismus, der entgrenzten Finanzindustrie und zementierten Eigentumsrechten hält Geuss abschließend fest: „Es ist schwer zu sehen, wie uns die traditionellen Heilmittel des Liberalismus in der Welt, in der wir jetzt leben, irgendwie eine Hilfe sein sollen.“ Nicht zuletzt das Ideal freier Diskussion zerschellt hier - was gibt es in Shitstorms mit Bots zu diskutieren?
Nun, Gegenrede gilt in Geuss' Deskription eigentlich nicht, aber man darf doch fragen, ob sein Begriff des Liberalismus nicht ein erstaunlicher Pappkamerad ist. Historisch trifft es zu, dass der Liberalismus in vielen ursprünglichen Formen aus dem Widerstand gegen ständische Vergemeinschaftungen und den absolutistischen Maßnahmenstaat entstanden. Das amerikanische Streben nach Glück, die deutsche Bildung, die atlantischen Menschenrechtskataloge rechnen mit tüchtigen Individuen. Aber schon der deutsche Bildungsroman beschreibt alle jene Voraussetzungen bürgerlicher Subjektivität, die Geuss gegen den Liberalismus allgemein ins Feld führt. Hier bildet sich das Individuum an der Welt und ihren Möglichkeiten, und am Ende lief es eigentlich immer auf Entsagung hinaus und nicht auf „Souveränität“.
Politisch aber waren Gewaltenteilung, Machtstreuung und Rechtsstaat im Staatsaufbau mindestens ebenso wichtig wie die Individualrechte. In Amerika mag das wie eine dysfunktionale Entmächtigung des Staats als Gerechtigkeitsinstanz aussehen, zugunsten des Rechts der Stärkeren; in der von Diktaturerfahrungen geprägten europäischen Sicht – immerhin mussten Krigler und seine Ordensgefährten emigrieren - wird man über solche „Rechte“ weniger lässig denken, nicht zuletzt im Angesicht neuer technologischer Bedrohungen.
Es gibt längst antitotalitäre Varianten des Liberalismus, die sein Subjekt nicht von einer in der Tat illusionären „Souveränität“ aus denken, sondern von seiner grundlegenden Verletzlichkeit, als Ort der Schmerzerfahrung. Judith Shklars „Liberalismus der Furcht“ mit seinem Grausamkeitsverbot als Grundlage jeder politischen Ordnung hat nichts vom Hochfahrenden eines „souveränen Individuum“. Die hier angelegten Schutzrechte werden immer wichtiger je übermächtiger die technischen Systeme werden.
Geuss macht in seinem Buch, das nicht Traktat, sondern Historie sein will, noch einen anderen Kriegsschauplatz auf. Er verteidigt einen ursprünglich römischen, später katholischen, nicht gewaltsamen Begriff von „Autorität“ und den Reichtum der Tradition. Das sind schöne, besinnliche Seiten, die nur daran kranken, dass ihr polemisches Gegenüber, das protestantische Prinzip von „sola scriptura“, der exklusiven Autorität der „Schrift“, wiederum als grotesker Pappkamerad aufgebaut ist.
Geuss trägt hier Eulen nach Athen, wenn er auf die Zufälligkeit des biblischen Kanons und die Fülle der Auslegungsmöglichkeiten in der Tradition verweist. Als hätte die protestantische Philologisierung und Historisierung des Bibeltextes nicht alle fundamentalistische Wörtlichkeit längst destruiert. Der Rückgang zu den Quellen ist ein Rückgang zur Geschichte, hinter der die Offenbarung ins Geheimnis gerückt ist und damit in die Vieldeutigkeit.
Der protestantische Widerstand gegen die kirchliche Heilsverwaltung (samt Gebührenordnung und Geldtresoren) ähnelt tatsächlich der liberalen Ursituation im Kampf mit Staat und Ständestaat. Insofern ist die Geuss’sche Mixtur aus sanfter katholischer Geborgenheit und adornitischer Grantelei durchaus folgerichtig. Aber wer wollte hier auf Folgerichtigkeit viel geben? Es geht ja um ein Leben in seinem Widerspruch.
Der Liberalismus-Begriff,
den er bekämpft, ist doch arg
holzschnitthaft
Raymond Geuss wurde 1946 als Sohn eines Stahlarbeiters in Indiana geboren. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Philosophie an der University of Cambridge.
Foto: Univers. of Cambridge
„Es ist schwer zu sehen, wie uns die traditionellen Heilmittel des Liberalismus in der Welt, in der wir jetzt leben, irgendwie eine Hilfe sein sollen.“ – Londoner Finanzviertel „City of London“.
Foto: Imago
Raymond Geuss:
Nicht wie ein Liberaler denken. Aus dem
Englischen von
Karin Wördemann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 268 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2023

Illusionen locken überall
Statt Liberalismus: Der Philosoph Raymond Geuss im Clinch mit Weltanschauungen

Menschen sind orientierungsbedürftig, sie suchen ihren Kompass nicht selten in Weltanschauungen, in "allumfassenden" Lehren, Überzeugungen, Meinungsgebilden oder Glaubenssystemen, die es erleichtern, sich zurechtzufinden - oder dies zumindest versprechen. Solche Orientierungsrahmen seien "sowohl unentbehrlich als auch unhaltbar", schreibt Raymond Geuss in seinem neuesten Buch, das davon handelt, wie man es anstellt, "nicht wie ein Liberaler" zu denken. Mit den grundsätzlichen Überlegungen zum Phänomen der Weltanschauungen knüpft er an seine vor drei Jahren veröffentlichte Essaysammlung an, die den Titel "Who Needs a World View?" trägt.

Der amerikanisch-britische Philosoph, der eine fein geschliffene Feder führt, hat sich als skeptischer Freigeist einen Namen gemacht hat. Darum mag es verwundern, dass die Antwort auf die Titelfrage beinahe so etwas wie eine anthropologische Wesensaussage einschließt. Das menschliche Leben, so lässt sich dem älteren Buch entnehmen, sei durch das stets wiederkehrende Bedürfnis charakterisiert, in einer "imaginären Einheit" aufgehoben zu sein, und durch das ebenso immer wiederkehrende Scheitern aller Bemühungen, dieses Bedürfnis zu befriedigen.

Der Liberalismus als die totale Ideologie unserer Ära

Die Versuche, in einer sinn- und identitätsstiftenden Weltanschauung Halt zu finden, scheiterten nicht zuletzt deswegen, deutet Geuss an, weil eine solche allumfassende Einheit nur "konstruiert" sein könne, menschengemacht. So sieht er uns Orientierungswaisen in einem Zirkel gefangen, der zwar durchschaut werden könne, den zu durchschauen jedoch "die Wiederkehr der Illusion" ebenso wenig verhindere wie das Essen die Wiederkehr des Hungers. Der Mensch - ein Eichhörnchen im Laufrad der Sinnbedürfnisse und Illusionen.

Das neue Buch - eine Art intellektuelle Autobiographie - weist zwar keinen Ausweg aus der existenziellen Tretmühle, vielleicht aber gibt es Hinweise darauf, wie der Kreislauf sich verlangsamen ließe. Jedenfalls beschreibt es, wie der Autor es geschafft zu haben glaubt, sich von einer Weltanschauung nicht vereinnahmen zu lassen, deren Idiom in den westlichen Gesellschaften "praktisch alles" durchdringe. Im Verbund mit Kapitalismus und Demokratie bilde der Liberalismus "die wirklich totale Ideologie unserer Ära", mit der es die besondere Bewandtnis habe, dass sie vorgebe, "etwas anderes" zu sein als Ideologie - in ihren "raffiniertesten Formen" präsentiere sie sich als "Antiideologie schlechthin".

Das frontale Auftaktverdikt macht neugierig auf Begründungen und Erläuterungen. Doch Geuss geht es, wie er hervorhebt, nicht um "herauslösbare Argumente gegen den Liberalismus". Es fänden sich zwar einige, etwa die Kritik an der liberalen Idee des "souveränen Individuums". Der Autor hält aber, salopp gesagt, Argumente in der Philosophie überhaupt für überbewertet. Argumentierend Argumente anderer zu widerlegen - das erinnert ihn an Gladiatorenkämpfe; und in der unter Philosophen verbreiteten Vorstellung, das bessere Argument wirke wie ein - und sei es: zwangloser - Zwang auf das Gegenüber, macht er "sadomasochistische Elemente" aus. Was er mit seinem Rückblick auf die eigene Bildungsgeschichte - und deren zeitgeschichtliche Kontexte - vergegenwärtigt, stellt sich seinerseits allerdings gleichfalls als eine mentale Dynamik von Einflüssen und Auswirkungen dar, der etwas Unausweichliches - etwas wie ein zwangloser Zwang - anhaftet, auch wenn sie sich "zufälligen" Umständen verdankt.

Am Ende steht eine Aversion gegen die liberale Weltsicht, eine "tiefe, dauerhafte und im Laufe der Jahre reflektierte Aversion", wie Geuss resümiert. Die Abneigung hat der Sohn eines Stahlwerkarbeiters und Student der New Yorker Columbia University als Zögling einer katholischen Internatsschule in Pennsylvania erworben, in der aus Ungarn emigrierte Priester seine Lehrer waren. Unter den Theologen stand der Liberalismus in keinem hohen Ansehen, die Atmosphäre der Bildungsanstalt war gleichwohl keine "illiberale", sie war nicht autoritär oder gar totalitär, so betont der Autor. Die kritische Beurteilung des modernen Liberalismus hat der Schüler verinnerlicht, gläubiger Anhänger einer katholischen Weltanschauung ist er dabei aber nicht geworden.

Aus dieser Konstellation gewinnt Geuss, was er den "Kerngedanken" des Buches nennt. Obgleich er es mit Adorno hält, der die Annahme einer "allgemeinen Kommunizierbarkeit eines jeden Gedankens" als "liberale Fiktion" einstufte, teilt er dem Leser eingangs die Quintessenz mit, auf die seine Schilderungen und Reflexionen hinausliefen: Wer in einem Milieu mit einer elaborierten Weltanschauung aufwachse, die allem und jedem einen Platz im "Ganzen" der Menschheitsgeschichte zuzuordnen beanspruche, könne in den Genuss eines "kognitiven Vorteils" kommen. Der Vorteil zeige sich in der Fähigkeit, "der Verlockung weit verbreiteter Illusionen zu widerstehen".

Soll damit gesagt sein, gegen eine allumfassende Weltanschauung helfe nur eine andere allumfassende (buchstäblich "katholische") Weltanschauung? Dann wäre der Vorteil, auf Distanz zu einer gesellschaftsweit tonangebenden Ideologie gehen zu können, mit dem Nachteil erkauft, lediglich einem anderen geschlossenen Weltbild anzuhängen, das seinerseits Illusionen erzeugt. Für Geuss, der zwischen "Ideologie" und "Weltanschauung" nicht explizit unterscheidet, wäre das gleichbedeutend damit, einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein. Bei seiner Rückbesinnung legt er Wert darauf, dass er eben kein gläubiger Katholik geworden sei. Man gewinnt sogar den Eindruck, die Aversion gegen Religion und Gottesglauben sei noch ausgeprägter - allergischer? - als diejenige gegen den Liberalismus. Mit einer gewissen Vehemenz verkündet er apodiktisch - mithin unvorsichtig-: "Weder das Schicksal noch Gott existieren."

Was Raymond Geuss über Raymond Geuss berichtet, ergibt keine große, es ergibt eine kleine Erzählung, die Erzählung einer individuellen Lebensgeschichte, deren Protagonist Abstand zu allen "Großen Erzählungen" wahrt oder sucht, mit denen er in Kontakt kommt. (Der Sozialismus spielt als Idee und weltanschauliche Bewegung ebenfalls eine Rolle.) Ist es die Geschichte einer freischwebenden Intelligenz - oder eines Intellektuellen, der das freie Schweben als Sehnsucht kennt? Der Autor spricht von einer "Nische", in der er der wurde, der er ist. Bringt eine Nischenexistenz, die sich im Handgemenge konkurrierender Weltanschauungen behauptet, eine eigene Weltanschauung hervor, die Weltanschauung der allseitigen Weltanschauungskritik? Oder benötigt sie keine, weil die Kraft des Neinsagens zu totalisierenden Weltentwürfen sich selbst genug ist?

Selbstkritik, die auf Selbsterkenntnis zielt

Der "Kerngedanke", den die Erzählung vermitteln soll, ist nicht leicht präzise zu fassen und noch weniger leicht zu einer Lebenslehre zu verallgemeinern - es sei denn zu der ebenso plausiblen wie trivialen Durchhalteparole, dass wir weiterhin "guten Grund" haben, "Kritik zu kultivieren", wie es auf der letzten Seite heißt. Farbig und gehaltvoll sind im Kontrast zu ihrer Quintessenz die erzählten Lebensgeschichten. Die Kritik, die der Memoirenschreiber kultiviert, ist eine Selbstkritik, die auf Selbsterkenntnis zielt.

Dem philosophischen Projekt solcher Selbstbesinnung verdankt sich auch das Buch "A Philosopher Looks at Work", das gleichfalls in deutscher Übersetzung erschienen ist - eine (nicht minder lesenswerte) Einführung in die Philosophie der Arbeit, die an die Herkunftswelt des industriellen Philadelphia der Fünfziger- und Sechzigerjahre anknüpft. Raymond Geuss beherzigt, dass der sokratische Appell, Gründe zu geben, Rede und Antwort zu stehen, sich nicht nur auf Behauptungen und Urteile in einer Situation der Wechselrede bezieht, sondern ebenso sehr auf das eigene Leben, das Rechenschaft von dem verlangt, der es gelebt hat. Die philosophische Tugend, die dabei zum Zuge kommt, ist die der Redlichkeit. UWE JUSTUS WENZEL

Raymond Geuss: "Nicht wie ein Liberaler denken".

Aus dem Englischen von Karin Wördemann.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 268 S., geb. 28,- Euro.

Raymond Geuss; "Über die Arbeit". Ein Essay.

Aus dem Englischen von Martin Bauer. Hamburger Edition, Hamburg 2023. 198 S.,

br. 15,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
»Farbig und gehaltvoll sind ... die erzählten Lebensgeschichten. Die Kritik, die der Memoirenschreiber kultiviert, ist eine Selbstkritik, die auf Selbsterkenntnis zielt.« Uwe Justus Wenzel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230825