»Wenn das gelingt, was mir Arnold empfohlen hat, müsste der Titel lauten: Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Nach nahezu 40 Jahren ein rücksichtsloser Blick auf Verlag, Autoren, Bücher, Manuskripte ...«So beginnt ein Manuskript, das Elisabeth Borchers, die große Lyrikerin und legendäre Lektorin (»Das literarische Gewissen des Suhrkamp Verlags«, pflegte Siegfried Unseld über sie zu sagen), hinterlassen hat. Zwischen 1999 und 2005 hat sie an einem autobiographischen Text gearbeitet, den sie nicht beenden konnte. Auch wenn sie Arnold Stadlers Anregung zunächst folgt und von ihren Begegnungen mit Dichtern wie Bohumil Hrabal, Uwe Johnson, Martin Walser oder Jurek Becker erzählt (und sich dabei nicht vor kräftigen Aussagen und harten Urteilen scheut, nehmen ihre Aufzeichnungen bald eine überraschende Wendung. Mehr und mehr gleitet sie ins eigene Ich, das Ich einer Frau, die sich im hohen Alter noch einmal der Wucht und der quälenden Macht einer großen Liebe aussetzt. Wie sie, eine grande dame par excellence, dieses Lieben erfährt, ist der Kristallisationspunkt dieses Fragment gebliebenen Manuskripts - und ein ergreifendes Dokument.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2018Die Engel fühlen sich nicht mehr zuständig
Späte Notizen: "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt" von der Lyrikerin und Lektorin Elisabeth Borchers
Im Nachlass von Elisabeth Borchers, die 2013 mit 87 Jahren in Frankfurt starb, fand ihr Sohn Ralf ein unveröffentlichtes Manuskript. Der Titel der nun vorliegenden Notizen, "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt", klingt nach Indiskretion. Hat man da womöglich etwas gegen den Wunsch der Verstorbenen veröffentlicht? Ralf Borchers und der Herausgeber Martin Lüdke räumen derartige Deutungen gleich zu Beginn aus dem Weg: Es sei die Autorin selbst gewesen, die auf ihrem Manuskript notiert habe: "Der ,Titel' müsse ,lauten': ,Nicht zur Veröffentlichung bestimmt'" - woran sich die Herausgeber gehalten haben.
Nicht nur als Lyrikerin, auch als Lektorin zählte Elisabeth Borchers zu den maßgeblichen Stimmen der Literatur und seines Betriebs in der alten Bundesrepublik. 1961 veröffentlichte sie ihren ersten zart-surrealistischen Gedichtband, der prompt eine wochenlange Leserbriefdebatte über Für und Wider moderner Lyrik auslöste. Kurz zuvor hatte sie außerdem als Lektorin bei Luchterhand angeheuert. Fortan arbeitete sie zweigleisig und wechselte 1971 zum Suhrkamp Verlag, der damals noch in Frankfurt residierte. In ihren 27 Jahren dort, im legendären Haus in der Lindenstraße, wurde sie zu einer der wichtigsten Repräsentantinnen der Suhrkamp-Kultur. Sie arbeitete mit Autoren wie Peter Handke, Thomas Bernhard, Uwe Johnson und Friederike Mayröcker. Und wie genau und unerbittlich sie als erste Leserin der Texte ihrer Autoren war, das wird in diesem autobiographischen Text immer aufs Neue greifbar.
Ein "rücksichtsloser Blick" auf ihr Leben sollten diese Notizen werden, hatte Borchers notiert, als sie nach ihrem Ausscheiden bei Suhrkamp 1998 damit begann. Es war ein Leben, das vor allem der Literatur gewidmet war, dem eigenen Schreiben wie dem Dienst an Texten anderer. In den Momentaufnahmen, Gedankensplittern und Rückblicken gibt ein sehender, lesender und denkender Mensch Einblicke nicht nur in den Seelenhaushalt einer Lektorenexistenz, die sich bisweilen als dünnhäutig erweist, nicht genug Lob, ja Würdigung für ihre Arbeit erfahren haben will. Die anderseits aber mit eigenen, oft scharfen Urteilen nicht hinter dem Berg hält: "Wohin man auch schaut und liest. Hochstapelei", heißt es in einem Rundumschlag gleich zu Beginn. Auch die damals großen Namen im Verlag bekommen ihr Fett ab: Martin Walser, Marie Luise Kaschnitz oder Jurek Becker. Uwe Johnson sei überhaupt nur vom Verleger Siegfried Unseld "posthum brachialgewaltig zum Helden stilisiert worden", "doch wohl, um sich selbst zu bestätigen. Welch ein Pfusch, wohin man sieht und hört."
Vor welch nickeligen Herausforderungen Lektoren im Ringen mit den Autoren um deren Texte stehen, auch das zeigt sich hier ein ums andere Mal. Von Jurek Beckers Eigensinn kann Borchers ein Lied singen, der sogar auf einem orthographischen Fehler besteht. "Der Autor habe immer recht", quittiert sie dies in ihrer ironisch-distanzierten Art. Jakov Lind lässt sich nicht davon abhalten, "Sangvögel" statt "Singvögel" zu schreiben. Gemessen an dessen Erzählband hält seine Gegenleserin dies allerdings noch für eine "Belanglosigkeit".
Was damals im Literaturbetrieb los ist, beschäftigt Elisabeth Borchers: die in Darmstadt ansässige Akademie für Sprache und Dichtung, deren Jury beim Ausknobeln des Büchnerpreises sämtliche Register zieht, oder die Ausstrahlung des "Literarischen Quartetts" mit Marcel Reich-Ranicki. Überhaupt tauchen Kritiker jener Zeit auch aus dieser Zeitung immer wieder bei ihr auf. Die Spiegelung der eigenen Arbeit in der Öffentlichkeit wird wiederum gespiegelt.
Die Vorstellung im Nachwort allerdings, dass Figuren wie der Schriftsteller Arnold Stadler, mit dem sie eine enge Freundschaft verband, oder Marie Luise Kaschnitz, mit der es immer wieder zu Kabbeleien kam, hier gleichsam zu Kunstfiguren werden, scheint wenig plausibel. Zu roh, zu unbearbeitet sind die Notizen, als dass man sie wiederum zur Literatur erklären sollte. Und gerade diese Offenheit ist es, die den Text ausmacht. Auch da, wo es einmal nicht um Autoren, Kollegen, Verleger geht, sondern um die eigene Verfasstheit, die Frage etwa, was es bedeutet, älter zu werden. Da beschreibt sie, voller Klarsicht und ohne Selbstmitleid, wie das ist, wenn der Körper nicht mehr so will wie man selbst und auch die Welt einen ein bisschen mehr in Ruhe lässt, als einem lieb ist. Der Umzug ins Seniorenstift scheint bald unausweichlich.
"Mit großen Schritten der Eiszeit entgegen", heißt es an einer Stelle, und später: "Von einer Seite zur anderen ändert sich die Welt. Die Tür schlägt zu. Die Fenster zerspringen . . . Die beschützenden Engel sind ausgeflogen, fühlen sich nicht mehr zuständig." Das sind starke Sätze. Und mit dem aufgetragenen Titel an die Nachwelt, "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt", hat Elisabeth Borchers die ganze Ambivalenz des Textes ausgespielt. Er soll publiziert werden und soll es doch nicht. Sohn und Herausgeber haben sich für eines entschieden.
SANDRA KEGEL
Elisabeth Borchers: "Nicht zur Veröffentlichung
bestimmt". Ein Fragment.
Hrsg. und mit einem Nachwort von Martin Lüdke. Verlag Weissbooks, Frankfurt am Main 2018. 190 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Späte Notizen: "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt" von der Lyrikerin und Lektorin Elisabeth Borchers
Im Nachlass von Elisabeth Borchers, die 2013 mit 87 Jahren in Frankfurt starb, fand ihr Sohn Ralf ein unveröffentlichtes Manuskript. Der Titel der nun vorliegenden Notizen, "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt", klingt nach Indiskretion. Hat man da womöglich etwas gegen den Wunsch der Verstorbenen veröffentlicht? Ralf Borchers und der Herausgeber Martin Lüdke räumen derartige Deutungen gleich zu Beginn aus dem Weg: Es sei die Autorin selbst gewesen, die auf ihrem Manuskript notiert habe: "Der ,Titel' müsse ,lauten': ,Nicht zur Veröffentlichung bestimmt'" - woran sich die Herausgeber gehalten haben.
Nicht nur als Lyrikerin, auch als Lektorin zählte Elisabeth Borchers zu den maßgeblichen Stimmen der Literatur und seines Betriebs in der alten Bundesrepublik. 1961 veröffentlichte sie ihren ersten zart-surrealistischen Gedichtband, der prompt eine wochenlange Leserbriefdebatte über Für und Wider moderner Lyrik auslöste. Kurz zuvor hatte sie außerdem als Lektorin bei Luchterhand angeheuert. Fortan arbeitete sie zweigleisig und wechselte 1971 zum Suhrkamp Verlag, der damals noch in Frankfurt residierte. In ihren 27 Jahren dort, im legendären Haus in der Lindenstraße, wurde sie zu einer der wichtigsten Repräsentantinnen der Suhrkamp-Kultur. Sie arbeitete mit Autoren wie Peter Handke, Thomas Bernhard, Uwe Johnson und Friederike Mayröcker. Und wie genau und unerbittlich sie als erste Leserin der Texte ihrer Autoren war, das wird in diesem autobiographischen Text immer aufs Neue greifbar.
Ein "rücksichtsloser Blick" auf ihr Leben sollten diese Notizen werden, hatte Borchers notiert, als sie nach ihrem Ausscheiden bei Suhrkamp 1998 damit begann. Es war ein Leben, das vor allem der Literatur gewidmet war, dem eigenen Schreiben wie dem Dienst an Texten anderer. In den Momentaufnahmen, Gedankensplittern und Rückblicken gibt ein sehender, lesender und denkender Mensch Einblicke nicht nur in den Seelenhaushalt einer Lektorenexistenz, die sich bisweilen als dünnhäutig erweist, nicht genug Lob, ja Würdigung für ihre Arbeit erfahren haben will. Die anderseits aber mit eigenen, oft scharfen Urteilen nicht hinter dem Berg hält: "Wohin man auch schaut und liest. Hochstapelei", heißt es in einem Rundumschlag gleich zu Beginn. Auch die damals großen Namen im Verlag bekommen ihr Fett ab: Martin Walser, Marie Luise Kaschnitz oder Jurek Becker. Uwe Johnson sei überhaupt nur vom Verleger Siegfried Unseld "posthum brachialgewaltig zum Helden stilisiert worden", "doch wohl, um sich selbst zu bestätigen. Welch ein Pfusch, wohin man sieht und hört."
Vor welch nickeligen Herausforderungen Lektoren im Ringen mit den Autoren um deren Texte stehen, auch das zeigt sich hier ein ums andere Mal. Von Jurek Beckers Eigensinn kann Borchers ein Lied singen, der sogar auf einem orthographischen Fehler besteht. "Der Autor habe immer recht", quittiert sie dies in ihrer ironisch-distanzierten Art. Jakov Lind lässt sich nicht davon abhalten, "Sangvögel" statt "Singvögel" zu schreiben. Gemessen an dessen Erzählband hält seine Gegenleserin dies allerdings noch für eine "Belanglosigkeit".
Was damals im Literaturbetrieb los ist, beschäftigt Elisabeth Borchers: die in Darmstadt ansässige Akademie für Sprache und Dichtung, deren Jury beim Ausknobeln des Büchnerpreises sämtliche Register zieht, oder die Ausstrahlung des "Literarischen Quartetts" mit Marcel Reich-Ranicki. Überhaupt tauchen Kritiker jener Zeit auch aus dieser Zeitung immer wieder bei ihr auf. Die Spiegelung der eigenen Arbeit in der Öffentlichkeit wird wiederum gespiegelt.
Die Vorstellung im Nachwort allerdings, dass Figuren wie der Schriftsteller Arnold Stadler, mit dem sie eine enge Freundschaft verband, oder Marie Luise Kaschnitz, mit der es immer wieder zu Kabbeleien kam, hier gleichsam zu Kunstfiguren werden, scheint wenig plausibel. Zu roh, zu unbearbeitet sind die Notizen, als dass man sie wiederum zur Literatur erklären sollte. Und gerade diese Offenheit ist es, die den Text ausmacht. Auch da, wo es einmal nicht um Autoren, Kollegen, Verleger geht, sondern um die eigene Verfasstheit, die Frage etwa, was es bedeutet, älter zu werden. Da beschreibt sie, voller Klarsicht und ohne Selbstmitleid, wie das ist, wenn der Körper nicht mehr so will wie man selbst und auch die Welt einen ein bisschen mehr in Ruhe lässt, als einem lieb ist. Der Umzug ins Seniorenstift scheint bald unausweichlich.
"Mit großen Schritten der Eiszeit entgegen", heißt es an einer Stelle, und später: "Von einer Seite zur anderen ändert sich die Welt. Die Tür schlägt zu. Die Fenster zerspringen . . . Die beschützenden Engel sind ausgeflogen, fühlen sich nicht mehr zuständig." Das sind starke Sätze. Und mit dem aufgetragenen Titel an die Nachwelt, "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt", hat Elisabeth Borchers die ganze Ambivalenz des Textes ausgespielt. Er soll publiziert werden und soll es doch nicht. Sohn und Herausgeber haben sich für eines entschieden.
SANDRA KEGEL
Elisabeth Borchers: "Nicht zur Veröffentlichung
bestimmt". Ein Fragment.
Hrsg. und mit einem Nachwort von Martin Lüdke. Verlag Weissbooks, Frankfurt am Main 2018. 190 S., geb., 22,- [Euro].
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