Ein scharfsinniger, fesselnder Unterhaltungsroman um einen ebenso brillianten wie skrupellosen, zynischen Anwalt. Mit ein paar Routinetricks und einer Falschaussage der Frau des Angeklagten bekommt Joseph Antonelli selbstverständlich auch den vorbestraften Betrüger und Drogenhändler Jonny Morel frei, der beschuldigt wird, seine zwölfjährige Stieftochter vergewaltigt zu haben. Zwar ahnt er, dass Morel schuldig ist, aber schließlich ist Recht nicht gleich Gerechtigkeit. Aber eben dieser Fall ist der Grund dafür, dass Joseph Antonelli eines Tages das Liebste verliert, das er je im Leben hatte...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.1999Spinoza nach dem letzten Gericht
Dudley W. Buffas Roman verspricht "Nichts als die Wahrheit"
Der Taumel währte einen Sommer. Als siegreicher Feldherr kehrte Alkibiades 408 v. Chr. in seine Heimat zurück. Er kostete die Freuden, die Athen dem bewunderten Strategen bereitete, bis zur Neige aus. Die Mahnungen seines ehemaligen Lehrers Sokrates, dem Schein zu mißtrauen, hatte er in den Wind geschlagen. Alkibiades war vermögend, erfolgreich und schön. Doch im folgenden Frühjahr schon verließen ihn Schlachtenglück und Charisma, Absetzung war die logische Folge. Drei weitere Jahre später fiel er einem Attentat zum Opfer.
Von seinem Büro aus schaut Joseph Antonelli direkt auf den Mount Hood. Der zwanzig Meilen östlich von Portland gelegene Vulkan, dessen letzte Eruption sich 1865 ereignete, entstand vor rund einer halben Million Jahren. Mit seinen 3400 Metern ist er die höchste Erhebung in Oregon. Das Gebiet um Portland, Heimat und Arbeitsplatz von Joseph Antonelli, wird jedes Jahr von Erdbeben heimgesucht. Wenn der Rechtsanwalt, der einst aus Sizilien an die amerikanische Westküste übersiedelte, aus dem Fenster schaut, stellt er sich einen finalen Ausbruch vor: "Dann würde der Berg sich selbst in die Luft sprengen. Und nichts wäre mehr wie zuvor."
Auch Dudley W. Buffa ist Anwalt und stammt aus Oregon. Nach über hundert Prozessen im Dienste der Demokratie verlegte er seine Tätigkeit von der Praxis auf die Theorie. Seit 1996 widmet er sich als Leiter eines von ihm gegründeten Forschungsinstitutes der Frage, inwieweit die neuen Informationstechniken das politische System beeinflussen. Sein Buch "Taking Control" prophezeit für das nächste Jahrhundert eine Erschütterung, so nachhaltig wie Lavaströme in den Straßen von Portland. Die sogenannten "Wissensarbeiter" nämlich, sämtlich über Computer miteinander vernetzt, werden nicht nur die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten bilden, sondern auch nach einer anderen Politik und einer neuen Partei verlangen. Diese, so Buffa, wird den Individualismus mit dem Gemeinsinn versöhnen. Die "knowledge workers" sind die Hoffnung auf eine glückliche, solidarische Zukunft.
Dem gleichen Kopf, dem solche Utopien entstammen, verdankt sich auch das apokalyptische Schreckensbild des zeitgenössischen Alkibiades. Staranwalt Antonelli ist Hauptfigur und Ich-Erzähler von Buffas erstem Roman, dem philosophischen Justizkrimi "Nichts als die Wahrheit". Das Buch protokolliert in schmuckloser Sprache die Metamorphose seines Protagonisten und verhandelt so ein Problem von universeller Bedeutung: Wie muß ein Mensch beschaffen sein, der über andere urteilt?
Antonellis Beruf ist das Ergebnis kindlicher Leidenschaft. Schwarz/weiß und ehrlich ging es zu in jenen Filmen, die der kleine Joseph verschlang. Immer gab es da einen "unterbezahlten Idealisten und unvorstellbaren Glückspilz", der gegen alle Widerstände den Sieg der Gerechtigkeit erfocht. Schon während des Studiums aber stellte sich heraus, daß auf eine andere als die vermutete Weise der wirkliche Strafverteidiger mit seinem Vorbild auf Zelluloid übereinstimmt: Ein guter Schauspieler muß sein, wer der beste Anwalt werden will. Antonelli gewinnt seine Fälle, weil er ein ehrliches Gesicht hat und die Geschworenen für sich einzunehmen weiß.
Der Vergleich mit Alkibiades liegt also nahe - zumindest, wenn man so belesen ist wie Leopold Rifkin, Richter am Bezirksgericht und Freund Antonellis. Freitag für Freitag treffen sich die beiden in Rifkins gewaltiger Bibliothek zu einer Akademie nach antikem Vorbild. Plato, Descartes, Spinoza und deren Ansichten über die Vervollkommnung von Mensch und Staat trägt der abgeklärte Richter dem Karrieristen vor. Ganz im Sinne des philosophischen Dreigestirns preist Rifkin Selbstbeherrschung und Rationalität als höchste Tugenden, denen er nur bei Portwein für Momente entsagt. Sein Leben hat er vorbehaltlos der Vernunft unterstellt, da er nur so seiner Grundüberzeugung gerecht werden kann: "Es gibt Konsequenzen für alles, was wir tun."
Antonelli bewundert den zwanzig Jahre Älteren, doch die Warnungen dieses Sokrates befolgt er nicht. Das Leben trat ihm bisher als eine "endlose Folge von Liebesaffären und Triumphen im Gerichtssaal" entgegen. Den holzgetäfelten Raum im Herzen Portlands nennt er "meine eigene Welt, in der alles seine Ordnung und Logik hat". Hier spielt Antonelli eine Rolle, die er mittlerweile so gut beherrscht, daß selbst eine wirkliche Müdigkeit als glänzende und wie gewohnt siegbringende Taktik aufgefaßt wird. Gerechtigkeit ist für diesen bewunderungssüchtigen Mozart-Liebhaber "das, was die Geschworenen entscheiden", und somit keineswegs ein ethisches Problem. Der Mount Hood aber rückt näher.
Elfmal läßt Buffa seinen ruhelosen Helden auf den Vulkan starren, bis schließlich das eingangs herbeigesehnte Inferno zumindest im Leben Antonellis wahr wird. Über zehn Jahre erstreckt sich die Handlung des Romans, der mit einem Routinefall beginnt. Der Kriminelle Johnny Morel hat seine Stieftochter Michelle vergewaltigt. Der Prozeß endet mit Freispruch, weil eben der beste der Anwälte die Verteidigung übernommen hat. Schnell hat Antonelli diesen schalen Erfolg vergessen und mit ihm den eigenartigen Umstand, daß Rifkin persönlich ihn bat, sich Morels anzunehmen. Jahr für Jahr jedoch wächst aus dem rechtmäßigen und zugleich ungerechten Urteil eine Rache hervor, die beide Juristen zur Revision ihrer Maximen zwingt. Rifkin stirbt schließlich, und Antonelli gibt den Beruf auf. Von nun an lebt er in der ihm testamentarisch vermachten Bibliothek. Antonelli soll jener homo liber werden, den Rifkins Seelenverwandter Spinoza herbeisehnte.
"Nichts als die Wahrheit" ist neben dem voltenreichen Krimi die belletristische Variante von Buffas Thesen. Der Roman führt jene Abräumarbeit vor, die Platz schafft für die "knowledge workers" des kommenden Jahrhunderts. Antonelli und Rifkin vertreten zwei gleichermaßen überholte Konzepte, den hemmungslosen Individualismus und ein bis zur Leblosigkeit kaltes, jederzeit vernünftiges Ethos der Verantwortlichkeit. Rifkin scheitert am wirklichkeitsfremden Rigorismus seiner Tugendlehre, auf die er noch in einem letzten Akt der Verzweiflung Antonelli verpflichten will. Dieser hingegen büßt den Ehrgeiz des Alkibiades mit einem Leben in Einsamkeit. Der Anwalt, der ein Leser wird, ist am Ende seiner Vergangenheit beraubt. Ob er eine Zukunft hat, ob er den Mut zu einem dritten Weg aufbringt, läßt das ebenso intelligente wie spannende Buch offen. Skeptischer als der Theoretiker Buffa ist der Romancier Buffa.
ALEXANDER KISSLER
Dudley W. Buffa: "Nichts als die Wahrheit". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Pociao. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999. 382 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dudley W. Buffas Roman verspricht "Nichts als die Wahrheit"
Der Taumel währte einen Sommer. Als siegreicher Feldherr kehrte Alkibiades 408 v. Chr. in seine Heimat zurück. Er kostete die Freuden, die Athen dem bewunderten Strategen bereitete, bis zur Neige aus. Die Mahnungen seines ehemaligen Lehrers Sokrates, dem Schein zu mißtrauen, hatte er in den Wind geschlagen. Alkibiades war vermögend, erfolgreich und schön. Doch im folgenden Frühjahr schon verließen ihn Schlachtenglück und Charisma, Absetzung war die logische Folge. Drei weitere Jahre später fiel er einem Attentat zum Opfer.
Von seinem Büro aus schaut Joseph Antonelli direkt auf den Mount Hood. Der zwanzig Meilen östlich von Portland gelegene Vulkan, dessen letzte Eruption sich 1865 ereignete, entstand vor rund einer halben Million Jahren. Mit seinen 3400 Metern ist er die höchste Erhebung in Oregon. Das Gebiet um Portland, Heimat und Arbeitsplatz von Joseph Antonelli, wird jedes Jahr von Erdbeben heimgesucht. Wenn der Rechtsanwalt, der einst aus Sizilien an die amerikanische Westküste übersiedelte, aus dem Fenster schaut, stellt er sich einen finalen Ausbruch vor: "Dann würde der Berg sich selbst in die Luft sprengen. Und nichts wäre mehr wie zuvor."
Auch Dudley W. Buffa ist Anwalt und stammt aus Oregon. Nach über hundert Prozessen im Dienste der Demokratie verlegte er seine Tätigkeit von der Praxis auf die Theorie. Seit 1996 widmet er sich als Leiter eines von ihm gegründeten Forschungsinstitutes der Frage, inwieweit die neuen Informationstechniken das politische System beeinflussen. Sein Buch "Taking Control" prophezeit für das nächste Jahrhundert eine Erschütterung, so nachhaltig wie Lavaströme in den Straßen von Portland. Die sogenannten "Wissensarbeiter" nämlich, sämtlich über Computer miteinander vernetzt, werden nicht nur die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten bilden, sondern auch nach einer anderen Politik und einer neuen Partei verlangen. Diese, so Buffa, wird den Individualismus mit dem Gemeinsinn versöhnen. Die "knowledge workers" sind die Hoffnung auf eine glückliche, solidarische Zukunft.
Dem gleichen Kopf, dem solche Utopien entstammen, verdankt sich auch das apokalyptische Schreckensbild des zeitgenössischen Alkibiades. Staranwalt Antonelli ist Hauptfigur und Ich-Erzähler von Buffas erstem Roman, dem philosophischen Justizkrimi "Nichts als die Wahrheit". Das Buch protokolliert in schmuckloser Sprache die Metamorphose seines Protagonisten und verhandelt so ein Problem von universeller Bedeutung: Wie muß ein Mensch beschaffen sein, der über andere urteilt?
Antonellis Beruf ist das Ergebnis kindlicher Leidenschaft. Schwarz/weiß und ehrlich ging es zu in jenen Filmen, die der kleine Joseph verschlang. Immer gab es da einen "unterbezahlten Idealisten und unvorstellbaren Glückspilz", der gegen alle Widerstände den Sieg der Gerechtigkeit erfocht. Schon während des Studiums aber stellte sich heraus, daß auf eine andere als die vermutete Weise der wirkliche Strafverteidiger mit seinem Vorbild auf Zelluloid übereinstimmt: Ein guter Schauspieler muß sein, wer der beste Anwalt werden will. Antonelli gewinnt seine Fälle, weil er ein ehrliches Gesicht hat und die Geschworenen für sich einzunehmen weiß.
Der Vergleich mit Alkibiades liegt also nahe - zumindest, wenn man so belesen ist wie Leopold Rifkin, Richter am Bezirksgericht und Freund Antonellis. Freitag für Freitag treffen sich die beiden in Rifkins gewaltiger Bibliothek zu einer Akademie nach antikem Vorbild. Plato, Descartes, Spinoza und deren Ansichten über die Vervollkommnung von Mensch und Staat trägt der abgeklärte Richter dem Karrieristen vor. Ganz im Sinne des philosophischen Dreigestirns preist Rifkin Selbstbeherrschung und Rationalität als höchste Tugenden, denen er nur bei Portwein für Momente entsagt. Sein Leben hat er vorbehaltlos der Vernunft unterstellt, da er nur so seiner Grundüberzeugung gerecht werden kann: "Es gibt Konsequenzen für alles, was wir tun."
Antonelli bewundert den zwanzig Jahre Älteren, doch die Warnungen dieses Sokrates befolgt er nicht. Das Leben trat ihm bisher als eine "endlose Folge von Liebesaffären und Triumphen im Gerichtssaal" entgegen. Den holzgetäfelten Raum im Herzen Portlands nennt er "meine eigene Welt, in der alles seine Ordnung und Logik hat". Hier spielt Antonelli eine Rolle, die er mittlerweile so gut beherrscht, daß selbst eine wirkliche Müdigkeit als glänzende und wie gewohnt siegbringende Taktik aufgefaßt wird. Gerechtigkeit ist für diesen bewunderungssüchtigen Mozart-Liebhaber "das, was die Geschworenen entscheiden", und somit keineswegs ein ethisches Problem. Der Mount Hood aber rückt näher.
Elfmal läßt Buffa seinen ruhelosen Helden auf den Vulkan starren, bis schließlich das eingangs herbeigesehnte Inferno zumindest im Leben Antonellis wahr wird. Über zehn Jahre erstreckt sich die Handlung des Romans, der mit einem Routinefall beginnt. Der Kriminelle Johnny Morel hat seine Stieftochter Michelle vergewaltigt. Der Prozeß endet mit Freispruch, weil eben der beste der Anwälte die Verteidigung übernommen hat. Schnell hat Antonelli diesen schalen Erfolg vergessen und mit ihm den eigenartigen Umstand, daß Rifkin persönlich ihn bat, sich Morels anzunehmen. Jahr für Jahr jedoch wächst aus dem rechtmäßigen und zugleich ungerechten Urteil eine Rache hervor, die beide Juristen zur Revision ihrer Maximen zwingt. Rifkin stirbt schließlich, und Antonelli gibt den Beruf auf. Von nun an lebt er in der ihm testamentarisch vermachten Bibliothek. Antonelli soll jener homo liber werden, den Rifkins Seelenverwandter Spinoza herbeisehnte.
"Nichts als die Wahrheit" ist neben dem voltenreichen Krimi die belletristische Variante von Buffas Thesen. Der Roman führt jene Abräumarbeit vor, die Platz schafft für die "knowledge workers" des kommenden Jahrhunderts. Antonelli und Rifkin vertreten zwei gleichermaßen überholte Konzepte, den hemmungslosen Individualismus und ein bis zur Leblosigkeit kaltes, jederzeit vernünftiges Ethos der Verantwortlichkeit. Rifkin scheitert am wirklichkeitsfremden Rigorismus seiner Tugendlehre, auf die er noch in einem letzten Akt der Verzweiflung Antonelli verpflichten will. Dieser hingegen büßt den Ehrgeiz des Alkibiades mit einem Leben in Einsamkeit. Der Anwalt, der ein Leser wird, ist am Ende seiner Vergangenheit beraubt. Ob er eine Zukunft hat, ob er den Mut zu einem dritten Weg aufbringt, läßt das ebenso intelligente wie spannende Buch offen. Skeptischer als der Theoretiker Buffa ist der Romancier Buffa.
ALEXANDER KISSLER
Dudley W. Buffa: "Nichts als die Wahrheit". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Pociao. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999. 382 S., geb., 45,- DM.
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