Quer durch die Menschheitsgeschichte und rund um die Welt
Quer durch die Menschheitsgeschichte und rund um die Welt.
Tacitus sah, wie Nero Rom niederbrennen ließ. Plinius erlebte den Ausbruch des Vesuv, der Pompeji und Herculaneum verschüttete. Walt Whitman war dabei, als Abraham Lincoln erschossen wurde. Georges Simenon traf Hitler im Fahrstuhl, und Ernest Hemingway marschierte ins von den Deutschen besetzte Paris ein.
Georg Brunold hat in Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren 155 Autoren versammelt, die von den großen und bedeutenden Umbrüchen der Menschheitsgeschichte erzählen, die aber auch in den alltäglichen Details das Seltsame und Besondere finden. Ein "Eidechs in den Apenninen" etwa erregt die Aufmerksamkeit von Heinrich Heine, die Sitten der ägypter machen Herodot staunen. Machiavelli findet, dass Deutsche nicht reich sein müssen, und Caesar überlistet die Helvetier.
Der Leser schaut den großen Autoren der Weltliteratur über die Schulter, lässt sich mitnehmen auf eine literarische Reise durch die Zeit und mehrmals um die Welt. Wir reisen mit den Berichterstattern zu Schiff - mit Kolumbus an Bord der Santa Maria oder mit dem Ehepaar Bishop im Rettungsboot der Titanic -, gehen barfuß nach Canossa, fahren im Zug nach Odessa, verteidigen die Bastille, sehen die Mauer fallen. Wir sitzen mit in den Gerichtssälen, wo Fitzroy Maclean Zeuge eines stalinistischen Schauprozesses wird und Hannah Arendt den Angeklagten Eichmann beobachtet. Wir besuchen Onkel Ho in Hanoi, den Vorsitzenden Mao, die Krönung Haile Selassies, Ford in Detroit.
Für Nichts als die Welt hat Georg Brunold auch zahlreiche Texte gefunden, die es seltsamerweise bisher auf Deutsch nicht gab: Ibn Khalduns Bericht über seinen Besuch bei Tamerlan, Janet Flanner über Hitlers Stimmbänder, Ian Buruma über Benazir Bhutto, um nur einige zu nennen.
Zwölf von Daniel Schwartz ausgewählte und arrangierte Fotoreportagen aus den letzten zehn Jahren ergänzen die 164 Texte; mit Bildern aus einem Frauenkrankenhaus im Kongo, vom 11. September oder von den ehemaligen Angestellten von Lehman Brothers beim Finanzcrash von 2008. Auch sie sind Glanzstücke der Reportage und erzählen von Themen, die noch die nächsten Jahrzehnte prägen werden.
Georg Brunold hat mit der Arbeit an Nichts als die Welt eine mehrjährige, vieltausendseitige Leseodyssee durch alle Zeiten und Länder hinter sich. Als "die längste Reise meines Lebens" bezeichnet der in aller Welt gereiste ehemalige Redakteur von DU seine Arbeit. In der angehängten "Bibliothek des Reporters" erzählt er in 30 thematischen "Lieferungen" von den Büchern, die ihn bei seiner Arbeit und durch sein Leben begleitet haben.
Quer durch die Menschheitsgeschichte und rund um die Welt.
Tacitus sah, wie Nero Rom niederbrennen ließ. Plinius erlebte den Ausbruch des Vesuv, der Pompeji und Herculaneum verschüttete. Walt Whitman war dabei, als Abraham Lincoln erschossen wurde. Georges Simenon traf Hitler im Fahrstuhl, und Ernest Hemingway marschierte ins von den Deutschen besetzte Paris ein.
Georg Brunold hat in Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren 155 Autoren versammelt, die von den großen und bedeutenden Umbrüchen der Menschheitsgeschichte erzählen, die aber auch in den alltäglichen Details das Seltsame und Besondere finden. Ein "Eidechs in den Apenninen" etwa erregt die Aufmerksamkeit von Heinrich Heine, die Sitten der ägypter machen Herodot staunen. Machiavelli findet, dass Deutsche nicht reich sein müssen, und Caesar überlistet die Helvetier.
Der Leser schaut den großen Autoren der Weltliteratur über die Schulter, lässt sich mitnehmen auf eine literarische Reise durch die Zeit und mehrmals um die Welt. Wir reisen mit den Berichterstattern zu Schiff - mit Kolumbus an Bord der Santa Maria oder mit dem Ehepaar Bishop im Rettungsboot der Titanic -, gehen barfuß nach Canossa, fahren im Zug nach Odessa, verteidigen die Bastille, sehen die Mauer fallen. Wir sitzen mit in den Gerichtssälen, wo Fitzroy Maclean Zeuge eines stalinistischen Schauprozesses wird und Hannah Arendt den Angeklagten Eichmann beobachtet. Wir besuchen Onkel Ho in Hanoi, den Vorsitzenden Mao, die Krönung Haile Selassies, Ford in Detroit.
Für Nichts als die Welt hat Georg Brunold auch zahlreiche Texte gefunden, die es seltsamerweise bisher auf Deutsch nicht gab: Ibn Khalduns Bericht über seinen Besuch bei Tamerlan, Janet Flanner über Hitlers Stimmbänder, Ian Buruma über Benazir Bhutto, um nur einige zu nennen.
Zwölf von Daniel Schwartz ausgewählte und arrangierte Fotoreportagen aus den letzten zehn Jahren ergänzen die 164 Texte; mit Bildern aus einem Frauenkrankenhaus im Kongo, vom 11. September oder von den ehemaligen Angestellten von Lehman Brothers beim Finanzcrash von 2008. Auch sie sind Glanzstücke der Reportage und erzählen von Themen, die noch die nächsten Jahrzehnte prägen werden.
Georg Brunold hat mit der Arbeit an Nichts als die Welt eine mehrjährige, vieltausendseitige Leseodyssee durch alle Zeiten und Länder hinter sich. Als "die längste Reise meines Lebens" bezeichnet der in aller Welt gereiste ehemalige Redakteur von DU seine Arbeit. In der angehängten "Bibliothek des Reporters" erzählt er in 30 thematischen "Lieferungen" von den Büchern, die ihn bei seiner Arbeit und durch sein Leben begleitet haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2009Ein Bekenntnis zum gedruckten Buch
Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren: Georg Brunold versammelt in diesem Großwerk Texte von Herodot bis Hemingway. Ein imposanter Aufgalopp des neuen Verlags Galiani Berlin.
Man wird es nicht gerade bescheiden nennen: das erste Programm des neuen Verlags Galiani Berlin, ein auf Eigenständigkeit bedachter Imprint von Kiepenheuer & Witsch. "Nichts als die Welt" lautet der Titel des großformatigen Siebenhundertseiters, mit dem die früheren Eichborn-Lektoren und heutigen Galiani-Leiter Wolfgang Hörner und Esther Kormann einen markanten Auftakt setzen: ein Bekenntnis zum gedruckten Buch, zur alten Bibliothek im Zustand ihrer Bedrohung durch Dematerialisierung im Datenmeer. So edel wie auf diesem feinen Papier wird die grazile Type "Custodia" auf keinem noch so teuren E-Ink-Display erscheinen.
Die Idee: Würde man das Internet anzapfen und den ausgedruckten Papierstapel dann nach Kriterien der Bedeutung auf ein kleines Häuflein reduzieren, dann könnte das, was übrigbleibt, diesem Band sehr nahe kommen: Einhundertvierundsechzig Reportagen von Weltgeltung aus zweieinhalb Jahrtausenden sind in ihm versammelt. Ergänzt werden sie durch zwölf herausragende Fotoreportagen, eröffnet mit jenen beeindruckenden Bildern aus dem laotischen Dschungel, mit denen Philip Blenkinsop im Jahr 2003 erstmals das einst für die CIA kämpfende und nun von der laotischen Regierung verfolgte Bergvolk der Hmong der Öffentlichkeit vor Augen führte.
Der Inhalt: Zeitreisen verspricht uns das Vorwort, das ein Plädoyer für die in Schriftform gespeicherte Zeitzeugenschaft darstellt - in Abgrenzung zum modernen Roman, weil Ersterer nicht nur bedeutend älter ist, sondern auch "alle Aussichten hat, diesen zu überleben": der Augenzeuge als das wahrste aller Medien. Dass die klare Grenzscheide zwischen Non-Fiction und Fiktion selbst fiktiv ist, weiß Brunold aber durchaus: "Dafür, dass selbst die Reportage unweigerlich fabuliert, sorgt ihr Stoff." Und großzügig vereint der Herausgeber die disparatesten Gattungen unter dem Dach der Reportage, darunter Annalen, Chroniken, Berichte antiker Geographen und Auszüge aus größeren Gesamtdarstellungen.
Dabei leitet ihn allein der Gesichtspunkt der historischen Evidenz, denn jede Epoche ist zunächst unmittelbar zu sich selbst, ist wahr, auch wenn ihre Ereignisse später anders überschrieben werden sollten. Geschichte, heißt es im Vorwort, habe jede Epoche nötig: "Nur die Türkenherrschaft und der britische Imperialismus vor dem Hintergrund der Kreuzzüge und des Mongolensturms können uns das Gedankengut militanter Islamisten der Gegenwart aufschlüsseln." Das ist klug formuliert: Es geht nicht um Verstehen im Sinn von Legitimieren - der britische Imperialismus erklärt nicht den heutigen Islamismus -, sondern um die gute alte Hermeneutik, um Verständnis anderer Weltsichten durch Horizontverschmelzung.
Dieser größte gemeinsame Horizont nimmt unter Abbitteleistung für den okzidentalen Blick einmal mehr seinen Ausgang bei den alten Griechen. Herodots Beschreibung der Ägypter ist verbürgt durch das Reporter-Ich und sucht die Nähe zum Gegenstand sowie die charakteristischen Differenzen: "Die Männer tragen die Lasten auf dem Kopf, die Frauen auf den Schultern. Den Urin lassen die Frauen im Stehen, die Männer im Sitzen." Nichts von Schlachten, dem Einzelnen begegnet die Geschichte immer als Mentalitätsgeschichte. Über Thukydides, Hippokrates, Platon und Polybios geht es zu den Römern und dann in einem siebenhundert Jahre überquerenden Sprung von Pausanias zu Einhard - allerdings mit einem höchst interessanten Zwischenschritt: dem Bericht des Priskos von Panion über den vollendet diplomatischen Empfang beim Hunnenkönig Attila im Jahre 449.
In Siebenmeilenstiefeln durchquert der Leser nun die Weltgeschichte, und zwar stets in der Erlebnisperspektive, nie in olympisch-historiographischer Distanz. Dabei hat Brunold neben vielen Klassikern - von Marco Polo über Kolumbus, Defoe, Swift, Voltaire, Goethe, Stendhal, Heine, Wagner, Whitman bis zu Wilde, Kisch, Orwell, Genet, Frisch, Canetti, Arendt, Hemingway, Capote, Wallraff, Eco - auch zahlreiche Texte hierzulande vielleicht weniger bekannter Autoren aufgenommen.
Zu ihnen zählt auch der britische Reiseschriftsteller Norman Lewis, der im überdeterminierten Jahr 1945 nicht aus den noch glimmenden Überresten Zentraleuropas berichtet, sondern von einer den Eigentumsgedanken ad absurdum führenden Mentalität im Süden: "Nichts ist zu groß oder zu klein, um nicht von den neapolitanischen Langfingern abgeholt zu werden - vom Telegrafenmast bis zur Penizillinkanüle. Da gab es ein Orchester, das vor ein oder zwei Wochen in San Carlo spielte. Das Publikum hatte sich übrigens in der Mehrzahl mit Decken der alliierten Militärhospitäler eingekleidet. Als die Spieler nach einer Zwischenpause von fünf Minuten zu ihren Plätzen zurückkehrten, waren ihre Instrumente verschwunden." Aber natürlich finden aus diesem Jahr 1945 auch Primo Levis und Martha Gellhorns Berichte aus den Konzentrationslagern, Margret Boveris Aufzeichnungen über den Einmarsch der Russen in Berlin und Marcel Junods Hiroshima-Reportage vierunddreißig Tage nach dem Bombenabwurf Eingang in die Sammlung.
Zu allen Zeiten erfüllte der Kompilator eine ehrenwerte Aufgabe im Dienste des Wissens, auch wenn er bereits in der Antike - einem rhetorischen Topos gemäß - die Vermessenheit zurückwies, selbst als Autor auftreten zu wollen. In diese Tradition hat sich Georg Brunold, obwohl ein renommierter Autor, mit diesem Großwerk gestellt. Auch er hat freilich schreibend beigetragen und eine mehr als sechzig Seiten umfassende "Bibliothek des Reporters" verfasst, die in dreißig Kapitel wie "Der böse Blick" oder "Die Menschheit" unterteilt ist, deren Einbezug sich aber doch nicht ganz erschließt. Letztlich handelt es sich um ein ausführlich kommentiertes Weltliteraturverzeichnis mit leichter Neigung in Richtung von Dietrich Schwanitz' "Bildung", gewinnbringend zu lesen zweifellos, und doch hätte man vielleicht lieber noch zwanzig weitere Reportagen vorgefunden. Als Einwand gegen dieses Unternehmen ist das aber nicht zu nehmen. Wann fällt einem schon ein Buch in die Hand, das schlicht perfekt ist?
OLIVER JUNGEN
Georg Brunold (Hrsg.): "Nichts als die Welt". Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2009. 684 S., geb., Abb., 85,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren: Georg Brunold versammelt in diesem Großwerk Texte von Herodot bis Hemingway. Ein imposanter Aufgalopp des neuen Verlags Galiani Berlin.
Man wird es nicht gerade bescheiden nennen: das erste Programm des neuen Verlags Galiani Berlin, ein auf Eigenständigkeit bedachter Imprint von Kiepenheuer & Witsch. "Nichts als die Welt" lautet der Titel des großformatigen Siebenhundertseiters, mit dem die früheren Eichborn-Lektoren und heutigen Galiani-Leiter Wolfgang Hörner und Esther Kormann einen markanten Auftakt setzen: ein Bekenntnis zum gedruckten Buch, zur alten Bibliothek im Zustand ihrer Bedrohung durch Dematerialisierung im Datenmeer. So edel wie auf diesem feinen Papier wird die grazile Type "Custodia" auf keinem noch so teuren E-Ink-Display erscheinen.
Die Idee: Würde man das Internet anzapfen und den ausgedruckten Papierstapel dann nach Kriterien der Bedeutung auf ein kleines Häuflein reduzieren, dann könnte das, was übrigbleibt, diesem Band sehr nahe kommen: Einhundertvierundsechzig Reportagen von Weltgeltung aus zweieinhalb Jahrtausenden sind in ihm versammelt. Ergänzt werden sie durch zwölf herausragende Fotoreportagen, eröffnet mit jenen beeindruckenden Bildern aus dem laotischen Dschungel, mit denen Philip Blenkinsop im Jahr 2003 erstmals das einst für die CIA kämpfende und nun von der laotischen Regierung verfolgte Bergvolk der Hmong der Öffentlichkeit vor Augen führte.
Der Inhalt: Zeitreisen verspricht uns das Vorwort, das ein Plädoyer für die in Schriftform gespeicherte Zeitzeugenschaft darstellt - in Abgrenzung zum modernen Roman, weil Ersterer nicht nur bedeutend älter ist, sondern auch "alle Aussichten hat, diesen zu überleben": der Augenzeuge als das wahrste aller Medien. Dass die klare Grenzscheide zwischen Non-Fiction und Fiktion selbst fiktiv ist, weiß Brunold aber durchaus: "Dafür, dass selbst die Reportage unweigerlich fabuliert, sorgt ihr Stoff." Und großzügig vereint der Herausgeber die disparatesten Gattungen unter dem Dach der Reportage, darunter Annalen, Chroniken, Berichte antiker Geographen und Auszüge aus größeren Gesamtdarstellungen.
Dabei leitet ihn allein der Gesichtspunkt der historischen Evidenz, denn jede Epoche ist zunächst unmittelbar zu sich selbst, ist wahr, auch wenn ihre Ereignisse später anders überschrieben werden sollten. Geschichte, heißt es im Vorwort, habe jede Epoche nötig: "Nur die Türkenherrschaft und der britische Imperialismus vor dem Hintergrund der Kreuzzüge und des Mongolensturms können uns das Gedankengut militanter Islamisten der Gegenwart aufschlüsseln." Das ist klug formuliert: Es geht nicht um Verstehen im Sinn von Legitimieren - der britische Imperialismus erklärt nicht den heutigen Islamismus -, sondern um die gute alte Hermeneutik, um Verständnis anderer Weltsichten durch Horizontverschmelzung.
Dieser größte gemeinsame Horizont nimmt unter Abbitteleistung für den okzidentalen Blick einmal mehr seinen Ausgang bei den alten Griechen. Herodots Beschreibung der Ägypter ist verbürgt durch das Reporter-Ich und sucht die Nähe zum Gegenstand sowie die charakteristischen Differenzen: "Die Männer tragen die Lasten auf dem Kopf, die Frauen auf den Schultern. Den Urin lassen die Frauen im Stehen, die Männer im Sitzen." Nichts von Schlachten, dem Einzelnen begegnet die Geschichte immer als Mentalitätsgeschichte. Über Thukydides, Hippokrates, Platon und Polybios geht es zu den Römern und dann in einem siebenhundert Jahre überquerenden Sprung von Pausanias zu Einhard - allerdings mit einem höchst interessanten Zwischenschritt: dem Bericht des Priskos von Panion über den vollendet diplomatischen Empfang beim Hunnenkönig Attila im Jahre 449.
In Siebenmeilenstiefeln durchquert der Leser nun die Weltgeschichte, und zwar stets in der Erlebnisperspektive, nie in olympisch-historiographischer Distanz. Dabei hat Brunold neben vielen Klassikern - von Marco Polo über Kolumbus, Defoe, Swift, Voltaire, Goethe, Stendhal, Heine, Wagner, Whitman bis zu Wilde, Kisch, Orwell, Genet, Frisch, Canetti, Arendt, Hemingway, Capote, Wallraff, Eco - auch zahlreiche Texte hierzulande vielleicht weniger bekannter Autoren aufgenommen.
Zu ihnen zählt auch der britische Reiseschriftsteller Norman Lewis, der im überdeterminierten Jahr 1945 nicht aus den noch glimmenden Überresten Zentraleuropas berichtet, sondern von einer den Eigentumsgedanken ad absurdum führenden Mentalität im Süden: "Nichts ist zu groß oder zu klein, um nicht von den neapolitanischen Langfingern abgeholt zu werden - vom Telegrafenmast bis zur Penizillinkanüle. Da gab es ein Orchester, das vor ein oder zwei Wochen in San Carlo spielte. Das Publikum hatte sich übrigens in der Mehrzahl mit Decken der alliierten Militärhospitäler eingekleidet. Als die Spieler nach einer Zwischenpause von fünf Minuten zu ihren Plätzen zurückkehrten, waren ihre Instrumente verschwunden." Aber natürlich finden aus diesem Jahr 1945 auch Primo Levis und Martha Gellhorns Berichte aus den Konzentrationslagern, Margret Boveris Aufzeichnungen über den Einmarsch der Russen in Berlin und Marcel Junods Hiroshima-Reportage vierunddreißig Tage nach dem Bombenabwurf Eingang in die Sammlung.
Zu allen Zeiten erfüllte der Kompilator eine ehrenwerte Aufgabe im Dienste des Wissens, auch wenn er bereits in der Antike - einem rhetorischen Topos gemäß - die Vermessenheit zurückwies, selbst als Autor auftreten zu wollen. In diese Tradition hat sich Georg Brunold, obwohl ein renommierter Autor, mit diesem Großwerk gestellt. Auch er hat freilich schreibend beigetragen und eine mehr als sechzig Seiten umfassende "Bibliothek des Reporters" verfasst, die in dreißig Kapitel wie "Der böse Blick" oder "Die Menschheit" unterteilt ist, deren Einbezug sich aber doch nicht ganz erschließt. Letztlich handelt es sich um ein ausführlich kommentiertes Weltliteraturverzeichnis mit leichter Neigung in Richtung von Dietrich Schwanitz' "Bildung", gewinnbringend zu lesen zweifellos, und doch hätte man vielleicht lieber noch zwanzig weitere Reportagen vorgefunden. Als Einwand gegen dieses Unternehmen ist das aber nicht zu nehmen. Wann fällt einem schon ein Buch in die Hand, das schlicht perfekt ist?
OLIVER JUNGEN
Georg Brunold (Hrsg.): "Nichts als die Welt". Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2009. 684 S., geb., Abb., 85,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Oliver Jungen imponiert die erste Veröffentlichung des neuen Verlags Galiani Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch. So sind die ausgewählten Reportagen und Fotoreportagen, die in der knapp 700 Seiten starken Sammlung enthalten sind, nach Jungens Urteil alle von Weltgeltung. Allerdings hätte er dem Band - ohne dies als Einwand gegen das Buch zu sehen - gerne noch zwanzig Reportagen hinzugefügt. Lobend durchquert Jungen mithilfe des Buches die Weltgeschichte von den antiken Griechen bis zur Gegenwart und freut sich gerade über die Reportagen abseits der großen Ereignisse, beispielsweise über den Bericht eines Orchesters, dem 1945 während einer Auftrittspause in San Carlo noch die Instrumente gestohlen werden. Dem Herausgeber Georg Brunold spricht Jungen seine Anerkennung aus: "Zu allen Zeiten erfüllte der Kompilator eine ehrenwerte Aufgabe im Dienste des Wissens".
© Perlentaucher Medien GmbH
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