Kino oder Sardine? war die existentielle Frage, vor der der junge Guillermo und sein Bruder standen, wenn es darum ging, ob sie lieber ins Kino oder essen gehen wollten. Niemals fiel ihre Wahl auf den Fisch. Was als frühe Leidenschaft begann, ließ Cabrera Infante auch später nicht los: Er wurde Filmkritiker, Kinemathekenbegründer und damit zu dem, "was jedes Kind sein wollte, wenn es einmal groß ist: der Mann, der sich alle Filme umsonst anschauen kann". Schier unerschöpflich scheinen sein Detailwissen und sein Fundus an Klatsch und Anekdoten über die Welt der Natur- und Kunstblondinen und der Latin Lovers zu sein. Sein Interesse reicht von Orson Welles über Truffaut zu Tarantino und Almod var. Kenntnisreich und unbestechlich subjektiv entwickelt der Kinoenthusiast in seinen Artikeln und Essays eine eigene Skala zwischen Machwerk und Meisterwerk der Filmgeschichte und hält mit seiner persönlichen Vorliebe für B-Movies nicht hinterm Berg. Man muß kein ausgemachter Cineast sein, um Cabr era Infantes Vergnügen an Huldigung und Häme teilen zu können. Seine indiskrete Neugier, seine hymnische Begeisterung und sein Spaß am pointierten Wortspiel wecken auch in erklärten Kinomuffeln die Lust am Wiederentdecken und Neu-Einschätzen vergangener und sehr zeitgenössischer Leinwandereignisse.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Bruchstücke einer großen Projektion
Der Kinoerklärer: Guillermo Cabrera Infantes Herz schlägt wie ein Malteserkreuz / Von Hanns Zischler
Wenn Kino, einer verwöhnten Mutmaßung zufolge, dem Stoff gleicht, aus dem die Träume sind, dann sind die Filmanekdoten der Stoff, aus dem dieses Kinobuch fabriziert wurde. Als Kronzeuge seiner hemmungslos biographistischen Manier muß kein Geringerer als der römische Biograph Plutarch herhalten, der laut Guillermo Cabrera Infante "mehr auf Klatsch als auf Daten vertraute". Ganz im Stil der spurlos aus der Filmgeschichte getilgten Kinoerklärer des frühen Stummfilms wird hier mit geradezu barocker Beredtsamkeit dem Leser nahegebracht, welche Bilder und Geschichten vorgeblich hinter den fertigen Bildern stecken.
Tatsächlich stellt sich Infante einen Leser vor, der ähnlich unschuldig und wundergläubig ist wie der frühe Kinogänger. Im Vollzug seiner inflationären Beweissucht ad usum delphini laufen begreifliche Idiosynkrasien und groteske Schmähungen wild durcheinander: "María Montez war schön, wenn man die Vorstellung von weiblicher Schönheit hat, die der greise Borges hatte." Schier unbezwingbar ist sein Hang zu Kalauern und Gemeinplätzen, der die Lektüre mitunter zu einer wirklichen Pein macht: "Der Film Die freudlose Gasse, der tatsächlich nichts mir Doktor Freud zu tun hat" oder: "Niemand weiß, wofür das Herz einer Schauspielerin schlägt. Man weiß nur, daß es in 24 Bildern pro Sekunde schlägt."
Daß Infante Jean-Luc Godard und fast die gesamte Nouvelle Vague verachtet (gloriose Ausnahme: François Truffaut), daß Kino für ihn vor allem amerikanisches Kino ist, mag sich mit seiner kubanischen Herkunft und seiner Rolle als Mitbegründer der Kinemathek von Havanna ante Castro erklären. Doch scheint es ihm nie in den Sinn gekommen zu sein, daß zum Beispiel die Leute der Nouvelle Vague zum ersten Mal Film und Filmgeschichte in einer unerhörten Synthese miteinander verschränkt haben. Wenn er, durchaus zu Recht, Orson Welles vor allem deshalb lobt, weil er das Kino - durch die kunstreiche Zusammenführung von Theater und Radio - neu erfunden hat, dann klingt es mehr als verwunderlich, wenn er Bergman und Antonioni (und natürlich Godard) beschimpft, sie hätten "Verbrechen gegen das Kino begangen im Namen der Angst". Auf eine Begründung für dieses absurde Urteil verzichtet er. Dennoch mag man von dem Buch nicht lassen.
Unbestreitbar hat Infante nicht nur sehr viele Filme gesehen, und die Erinnerung an seine affektive Wahrnehmung ist ebenso unerschöpflich wie bewundernswert. Sein gleichermaßen mnemotechnisches wie psychisches Gedächtnis fördert immer wieder großartige Einsichten in das zutage, was man die Triebstruktur des Kinos nennen könnte. Selten hat man eine so leidenschaftliche Hommage an Heddy Lamarr und Louise Brooks gelesen wie bei ihm. Mit marianisch-katholischer Inbrunst zeichnet er die Fetische der blonden und der schwarzhaarigen Stars nach, einschließlich aller erregenden Mischformen und Augentäuschungen.
Wie besessen umkreist er die Erscheinung von Marlene Dietrich; er schmäht sie - "eine Puppe, zum Leben erweckt von einem irrsinnigen Erfinder", nämlich Josef von Sternberg -, und er betet sie an; in einem grellen Schlaglicht auf Orson Welles' "Touch of Evil" entziffert er aus den Dialogen und Accessoires den Grabgesang beider Stars: "Du hast keine Zukunft, mein Lieber, du hast sie verbraucht", sagt sie zu Welles. Doch sie selbst, so Infante, "verspielte mit der schwarzen Perücke ihr blondes Image".
Erhellend ist seine in einem atemlosen Parlando vorgetragene Beobachtung über Hitchcocks russisches Erbe - hinsichtlich der Montage. Und wann hat man je eine so augenfällige Definition des suspense geboten bekommen: "Nach Hitchcock ist der suspense, den er, wenn er ihn nicht gar erfand, für unser Leben zentral machte, der Gegensatz zur Überraschung." Hier wäre vielleicht "das Gegenteil von" noch treffender gewesen, doch ist die Übersetzung von Claudia Hammerschmidt und Gerhard Poppenberg insgesamt erfreulich flüssig; sie haben die Tücken der Übertragung von Kalauern und beiläufigen Anspielungen bravourös gemeistert.
Infantes von gläubiger Besessenheit getragenes, panoramatisches Buch des Hollywoodfilms ist heute, da die meisten aus den Kinos verbannten Meisterwerke durch VHS und DVD zum ersten Mal wirklich zugänglich sind, eine wunderbare Lesehilfe. In seinen schönsten Momenten liefern seine Seiten uns den Abglanz dessen, was im Kinosaal der Augenblick der Entrückung ist: wenn es dunkel wird und die Leinwand von den Strahlen der großen Projektion erfüllt wird.
Guillermo Cabrera Infante: "Nichts als Kino". Aus dem Spanischen übersetzt von Claudia Hammerschmidt und Gerhard Poppenberg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 460 S., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Kinoerklärer: Guillermo Cabrera Infantes Herz schlägt wie ein Malteserkreuz / Von Hanns Zischler
Wenn Kino, einer verwöhnten Mutmaßung zufolge, dem Stoff gleicht, aus dem die Träume sind, dann sind die Filmanekdoten der Stoff, aus dem dieses Kinobuch fabriziert wurde. Als Kronzeuge seiner hemmungslos biographistischen Manier muß kein Geringerer als der römische Biograph Plutarch herhalten, der laut Guillermo Cabrera Infante "mehr auf Klatsch als auf Daten vertraute". Ganz im Stil der spurlos aus der Filmgeschichte getilgten Kinoerklärer des frühen Stummfilms wird hier mit geradezu barocker Beredtsamkeit dem Leser nahegebracht, welche Bilder und Geschichten vorgeblich hinter den fertigen Bildern stecken.
Tatsächlich stellt sich Infante einen Leser vor, der ähnlich unschuldig und wundergläubig ist wie der frühe Kinogänger. Im Vollzug seiner inflationären Beweissucht ad usum delphini laufen begreifliche Idiosynkrasien und groteske Schmähungen wild durcheinander: "María Montez war schön, wenn man die Vorstellung von weiblicher Schönheit hat, die der greise Borges hatte." Schier unbezwingbar ist sein Hang zu Kalauern und Gemeinplätzen, der die Lektüre mitunter zu einer wirklichen Pein macht: "Der Film Die freudlose Gasse, der tatsächlich nichts mir Doktor Freud zu tun hat" oder: "Niemand weiß, wofür das Herz einer Schauspielerin schlägt. Man weiß nur, daß es in 24 Bildern pro Sekunde schlägt."
Daß Infante Jean-Luc Godard und fast die gesamte Nouvelle Vague verachtet (gloriose Ausnahme: François Truffaut), daß Kino für ihn vor allem amerikanisches Kino ist, mag sich mit seiner kubanischen Herkunft und seiner Rolle als Mitbegründer der Kinemathek von Havanna ante Castro erklären. Doch scheint es ihm nie in den Sinn gekommen zu sein, daß zum Beispiel die Leute der Nouvelle Vague zum ersten Mal Film und Filmgeschichte in einer unerhörten Synthese miteinander verschränkt haben. Wenn er, durchaus zu Recht, Orson Welles vor allem deshalb lobt, weil er das Kino - durch die kunstreiche Zusammenführung von Theater und Radio - neu erfunden hat, dann klingt es mehr als verwunderlich, wenn er Bergman und Antonioni (und natürlich Godard) beschimpft, sie hätten "Verbrechen gegen das Kino begangen im Namen der Angst". Auf eine Begründung für dieses absurde Urteil verzichtet er. Dennoch mag man von dem Buch nicht lassen.
Unbestreitbar hat Infante nicht nur sehr viele Filme gesehen, und die Erinnerung an seine affektive Wahrnehmung ist ebenso unerschöpflich wie bewundernswert. Sein gleichermaßen mnemotechnisches wie psychisches Gedächtnis fördert immer wieder großartige Einsichten in das zutage, was man die Triebstruktur des Kinos nennen könnte. Selten hat man eine so leidenschaftliche Hommage an Heddy Lamarr und Louise Brooks gelesen wie bei ihm. Mit marianisch-katholischer Inbrunst zeichnet er die Fetische der blonden und der schwarzhaarigen Stars nach, einschließlich aller erregenden Mischformen und Augentäuschungen.
Wie besessen umkreist er die Erscheinung von Marlene Dietrich; er schmäht sie - "eine Puppe, zum Leben erweckt von einem irrsinnigen Erfinder", nämlich Josef von Sternberg -, und er betet sie an; in einem grellen Schlaglicht auf Orson Welles' "Touch of Evil" entziffert er aus den Dialogen und Accessoires den Grabgesang beider Stars: "Du hast keine Zukunft, mein Lieber, du hast sie verbraucht", sagt sie zu Welles. Doch sie selbst, so Infante, "verspielte mit der schwarzen Perücke ihr blondes Image".
Erhellend ist seine in einem atemlosen Parlando vorgetragene Beobachtung über Hitchcocks russisches Erbe - hinsichtlich der Montage. Und wann hat man je eine so augenfällige Definition des suspense geboten bekommen: "Nach Hitchcock ist der suspense, den er, wenn er ihn nicht gar erfand, für unser Leben zentral machte, der Gegensatz zur Überraschung." Hier wäre vielleicht "das Gegenteil von" noch treffender gewesen, doch ist die Übersetzung von Claudia Hammerschmidt und Gerhard Poppenberg insgesamt erfreulich flüssig; sie haben die Tücken der Übertragung von Kalauern und beiläufigen Anspielungen bravourös gemeistert.
Infantes von gläubiger Besessenheit getragenes, panoramatisches Buch des Hollywoodfilms ist heute, da die meisten aus den Kinos verbannten Meisterwerke durch VHS und DVD zum ersten Mal wirklich zugänglich sind, eine wunderbare Lesehilfe. In seinen schönsten Momenten liefern seine Seiten uns den Abglanz dessen, was im Kinosaal der Augenblick der Entrückung ist: wenn es dunkel wird und die Leinwand von den Strahlen der großen Projektion erfüllt wird.
Guillermo Cabrera Infante: "Nichts als Kino". Aus dem Spanischen übersetzt von Claudia Hammerschmidt und Gerhard Poppenberg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 460 S., geb., 58,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Auch Schriftsteller haben Hobbys, die man dann nicht mehr als solche bezeichnen kann, wenn sie darüber zu schreiben beginnen; problematisch wird es dann, wenn das Schreiben über das Hobby nicht ernsthaft genug betrieben wird, wie Rezensent Merten Worthmann im vorliegenden Fall feststellt. Infante schwärmt und schwelgt, ohne sich dem Gegenstand seiner Schwärmerei wirklich zu nähern, wundert sich Worthmann. Nur so erklärt sich sein zunächst seltsam anmutendes Urteil, in der besonderen Wertschätzung Infantes für das Kino liege auch eine Geringschätzung verborgen. Das Buch ist ein Sammelband, informiert Worthmann, der sämtliche Kritiken und Texte über Kino von Infante versammelt, ohne Angaben über Erscheinungsort und -datum. Eine Aufmachung, als handele es sich um einen Essayband. Infante, der seit langem in London lebt, fröne in den Texten seiner Vorliebe für Musicals und B-Pictures, während er den großen "Heiligen" des Kinos wie Godard, Antonio oder Bergman nichts abgewinnen könnte. Viel markiges Wortgeklingel in den Ohren des Zeit-Filmkritikers.
© Perlentaucher Medien GmbH
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