Seit 2015 Hunderttausende Flüchtlinge in die Bundesrepublik kamen, kursiert im Netz die Theorie vom »Großen Austausch«: Das Land solle von einer globalen »Finanzoligarchie« mittels der »Migrationswaffe« ausgeschaltet werden. Neben mangelndem Vertrauen in die Politik ist der Glaube an Verschwörungstheorien ein Merkmal des populistischen Brodelns. Doch was macht eine Erklärung zu einer Verschwörungstheorie? Warum sind sie für viele so attraktiv? Und was kann man dagegen unternehmen?
Antworten auf solche Fragen findet man seltener als Verschwörungstheorien selbst. Michael Butter erläutert, wie solche Erzählungen funktionieren, wo sie herkommen und welche Auswirkungen sie haben können. Da sie die Eigenlogik sozialer Systeme unterschätzten, seien solche Theorien zwar immer falsch; als Symptom müsse man sie dennoch ernstnehmen. Gegenwärtig seien sie ein Indikator für die demokratiegefährdende Fragmentierung der Öffentlichkeit.
Antworten auf solche Fragen findet man seltener als Verschwörungstheorien selbst. Michael Butter erläutert, wie solche Erzählungen funktionieren, wo sie herkommen und welche Auswirkungen sie haben können. Da sie die Eigenlogik sozialer Systeme unterschätzten, seien solche Theorien zwar immer falsch; als Symptom müsse man sie dennoch ernstnehmen. Gegenwärtig seien sie ein Indikator für die demokratiegefährdende Fragmentierung der Öffentlichkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2018Argumente helfen nicht
Michael Butter kennt sich mit Verschwörungstheorien aus
Verschwörungstheorien, so liest man in letzter Zeit oft, haben Konjunktur. Überzeugungen also des Zuschnitts, dass das Aids-Virus vor Ausbruch der Epidemie in Labors geschaffen und an Afrikanern getestet worden sei, die Anschläge von 2001 auf das World Trade Center von der amerikanischen Regierung in Auftrag gegeben wurden oder die Flüchtlingskrise Effekt eines lange schon ausgeheckten Plans von nicht näher bestimmten Angehörigen des globalen Finanzsystems zum "Austausch" der Bevölkerungen sei. Oder es sind gleich alle politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten nur die trügerische Oberfläche einer Realität, die tatsächlich von reptilienartigen Wesen aus dem All, die sich von "negativer Energie" nähren, in Regie genommen wurde - wie es eine kurrente Superverschwörungstheorie will, die ihrem Erfinder und kommerziellem Verwerter ein auskömmliches Leben sichert.
Anfang des Jahres etwa berichteten Medien über eine Befragung von Franzosen durch die Meinungsforscher des Institut français d'opinion publique (IFOP) und von Conspiracy Watch. Deren Ergebnisse hätten gezeigt, dass nur weniger als ein Viertel der Stichprobe - von mehr als 1200 Personen - definitiv keiner der zur Beurteilung vorgelegten verschwörungstheoretisch geprägten Überzeugungen anhing, während einzelne dieser Überzeugungen sehr viel höhere Zupruchsraten hatten.
Quantitative Erhebungen zu verschwörungstheoretischen Neigungen sollte man sich allerdings näher ansehen, denn auf die genauen Formulierungen der getesteten Aussagen kommt es an. Das ist eine der Empfehlungen, die man dem gerade erschienenen Buch des Tübinger Amerikanisten Michael Butter über die neuere Geschichte und das Funktionieren von Verschwörungstheorien entnehmen kann.
Sie lässt sich auf die jüngste französische Erhebung gut anwenden. In ihr stimmten fast die Hälfte der Befragten - "absolut" (17 Prozent) oder "eher schon" (31 Prozent) - der Ansicht zu, dass die politischen, intellektuellen und medialen Eliten das Projekt eines Bevölkerungsaustauschs betrieben, welches nur durch die Rückverfrachtung der Immigranten gestoppt werden könne.
So aufschlussreich diese Zahlen für die Wahrnehmung von Immigration sind, als Beleg für die hohe Zustimmung zu einer Verschwörungstheorie im handfesten Sinn muss man sie nicht unbedingt gleich nehmen. Denn der Verdacht liegt nahe, dass mit der gewählten Formulierung eher Reaktionen auf die politische und mediale Darstellung einer als verunsichernd oder bedrohlich empfundenen Entwicklung ausgetestet wurden als die Behauptung einer unterstellten Verschwörung klassischen Zuschnitts. Letztere verlangt eigentlich eine Gruppe untereinander verständigter, hinter den Kulissen agierender Strippenzieher, während die auf der öffentlichen Bühne agierenden Eliten eine viel zu große und heterogene Menge sind, um sich tatsächlich konspirativ verabreden zu können. Anders formuliert: Populistische Anprangerung von Eliten ist per se noch keine Verschwörungstheorie.
Für solche Unterschiede schärft Michael Butters bündige Darstellung den Sinn. Der Autor sieht die steigende Aufmerksamkeit für Verschwörungstheorien insbesondere als Effekt der Möglichkeiten, die Internet und soziale Medien für deren Propagierung an die Hand geben. Ein Effekt, der nichts daran ändere, dass Verschwörungstheorien weiterhin meist als ungerechtfertigte Wissensansprüche gelten, während sie bis in die ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts - zumindest in Europa und den Vereinigten Staaten - als legitime Formen behaupteten Wissens auftreten konnten.
Dieser Blick zurück hinter die Schwelle, an der Verschwörungstheorien als defektes Wissen ausgesondert und stigmatisiert wurden, relativiert bei Butter die Rede von deren gegenwärtiger Konjunktur: Es scheint nicht, dass sie ihr Stigma einfach abstreifen können, wohl aber können sie in Zeiten des Internets sehr viel leichter als früher unter Gleichgesinnten traktiert werden. Sie profitieren vom Zerfall der Öffentlichkeit und von der persistenten Neigung oder Strategie, Übersichtlichkeit der Verhältnisse zumindest prinzipiell herzustellen, indem alle noch so verwickelten und für verdächtig erkannten Ereignisse als intendierte Folgen des Handelns von bestimmten Akteuren aufgefasst werden.
Eine Haltung, die nach den von Butter angeführten Erhebungen weder mit Alter noch Geschlecht noch der sozioökonomischen Position korreliert. Argumente, da macht sich der Autor in seinen abschließenden Bemerkungen keine Illusionen, kommen Anhängern von Verschwörungstheorien nicht bei, aber im Gespräch mit ihnen zu bleiben kann nicht schaden. Zur Orientierung, womit dabei zu rechnen ist und welche Erklärungsansätze es dafür gibt, kann man zu seiner Darstellung raten.
HELMUT MAYER
Michael Butter: "Nichts ist, wie es scheint". Über Verschwörungstheorien.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
271 S., br., 18,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Butter kennt sich mit Verschwörungstheorien aus
Verschwörungstheorien, so liest man in letzter Zeit oft, haben Konjunktur. Überzeugungen also des Zuschnitts, dass das Aids-Virus vor Ausbruch der Epidemie in Labors geschaffen und an Afrikanern getestet worden sei, die Anschläge von 2001 auf das World Trade Center von der amerikanischen Regierung in Auftrag gegeben wurden oder die Flüchtlingskrise Effekt eines lange schon ausgeheckten Plans von nicht näher bestimmten Angehörigen des globalen Finanzsystems zum "Austausch" der Bevölkerungen sei. Oder es sind gleich alle politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten nur die trügerische Oberfläche einer Realität, die tatsächlich von reptilienartigen Wesen aus dem All, die sich von "negativer Energie" nähren, in Regie genommen wurde - wie es eine kurrente Superverschwörungstheorie will, die ihrem Erfinder und kommerziellem Verwerter ein auskömmliches Leben sichert.
Anfang des Jahres etwa berichteten Medien über eine Befragung von Franzosen durch die Meinungsforscher des Institut français d'opinion publique (IFOP) und von Conspiracy Watch. Deren Ergebnisse hätten gezeigt, dass nur weniger als ein Viertel der Stichprobe - von mehr als 1200 Personen - definitiv keiner der zur Beurteilung vorgelegten verschwörungstheoretisch geprägten Überzeugungen anhing, während einzelne dieser Überzeugungen sehr viel höhere Zupruchsraten hatten.
Quantitative Erhebungen zu verschwörungstheoretischen Neigungen sollte man sich allerdings näher ansehen, denn auf die genauen Formulierungen der getesteten Aussagen kommt es an. Das ist eine der Empfehlungen, die man dem gerade erschienenen Buch des Tübinger Amerikanisten Michael Butter über die neuere Geschichte und das Funktionieren von Verschwörungstheorien entnehmen kann.
Sie lässt sich auf die jüngste französische Erhebung gut anwenden. In ihr stimmten fast die Hälfte der Befragten - "absolut" (17 Prozent) oder "eher schon" (31 Prozent) - der Ansicht zu, dass die politischen, intellektuellen und medialen Eliten das Projekt eines Bevölkerungsaustauschs betrieben, welches nur durch die Rückverfrachtung der Immigranten gestoppt werden könne.
So aufschlussreich diese Zahlen für die Wahrnehmung von Immigration sind, als Beleg für die hohe Zustimmung zu einer Verschwörungstheorie im handfesten Sinn muss man sie nicht unbedingt gleich nehmen. Denn der Verdacht liegt nahe, dass mit der gewählten Formulierung eher Reaktionen auf die politische und mediale Darstellung einer als verunsichernd oder bedrohlich empfundenen Entwicklung ausgetestet wurden als die Behauptung einer unterstellten Verschwörung klassischen Zuschnitts. Letztere verlangt eigentlich eine Gruppe untereinander verständigter, hinter den Kulissen agierender Strippenzieher, während die auf der öffentlichen Bühne agierenden Eliten eine viel zu große und heterogene Menge sind, um sich tatsächlich konspirativ verabreden zu können. Anders formuliert: Populistische Anprangerung von Eliten ist per se noch keine Verschwörungstheorie.
Für solche Unterschiede schärft Michael Butters bündige Darstellung den Sinn. Der Autor sieht die steigende Aufmerksamkeit für Verschwörungstheorien insbesondere als Effekt der Möglichkeiten, die Internet und soziale Medien für deren Propagierung an die Hand geben. Ein Effekt, der nichts daran ändere, dass Verschwörungstheorien weiterhin meist als ungerechtfertigte Wissensansprüche gelten, während sie bis in die ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts - zumindest in Europa und den Vereinigten Staaten - als legitime Formen behaupteten Wissens auftreten konnten.
Dieser Blick zurück hinter die Schwelle, an der Verschwörungstheorien als defektes Wissen ausgesondert und stigmatisiert wurden, relativiert bei Butter die Rede von deren gegenwärtiger Konjunktur: Es scheint nicht, dass sie ihr Stigma einfach abstreifen können, wohl aber können sie in Zeiten des Internets sehr viel leichter als früher unter Gleichgesinnten traktiert werden. Sie profitieren vom Zerfall der Öffentlichkeit und von der persistenten Neigung oder Strategie, Übersichtlichkeit der Verhältnisse zumindest prinzipiell herzustellen, indem alle noch so verwickelten und für verdächtig erkannten Ereignisse als intendierte Folgen des Handelns von bestimmten Akteuren aufgefasst werden.
Eine Haltung, die nach den von Butter angeführten Erhebungen weder mit Alter noch Geschlecht noch der sozioökonomischen Position korreliert. Argumente, da macht sich der Autor in seinen abschließenden Bemerkungen keine Illusionen, kommen Anhängern von Verschwörungstheorien nicht bei, aber im Gespräch mit ihnen zu bleiben kann nicht schaden. Zur Orientierung, womit dabei zu rechnen ist und welche Erklärungsansätze es dafür gibt, kann man zu seiner Darstellung raten.
HELMUT MAYER
Michael Butter: "Nichts ist, wie es scheint". Über Verschwörungstheorien.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
271 S., br., 18,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Butter begibt sich auf die Spur historischer Komplotte, greift jedoch nicht chronologisch, sondern thematisch nach dem Sujet.« Caroline Fetscher Der Tagesspiegel 20180429