Klein, aber fein ...
Geschenkausgabe im kleinen Format, bedrucktes Ganzleinen mit Lesebändchen. »Was soll eigentlich dieses ganze Tamtam um den Tod?«, fragt nüchtern Julian Barnes' Mutter. Aber ihr Sohn kann deshalb oft nicht schlafen: »Ich erklärte ihr, mir widerstrebe eben der Gedanke daran.« Und so erzählt er die anekdotenreiche Geschichte vom Leben und Sterben der sehr britisch zugeknöpften Familie Barnes. Seine wahren Angehörigen sind für den Autor jedoch Schriftsteller und Komponisten wie Stendhal, Flaubert und Strawinsky. Brillant, geistreich und witzig wie immer, setzt sich Julina Barnes mit einem Thema auseinander, das jeden ein Leben lang betrifft.
Geschenkausgabe im kleinen Format, bedrucktes Ganzleinen mit Lesebändchen. »Was soll eigentlich dieses ganze Tamtam um den Tod?«, fragt nüchtern Julian Barnes' Mutter. Aber ihr Sohn kann deshalb oft nicht schlafen: »Ich erklärte ihr, mir widerstrebe eben der Gedanke daran.« Und so erzählt er die anekdotenreiche Geschichte vom Leben und Sterben der sehr britisch zugeknöpften Familie Barnes. Seine wahren Angehörigen sind für den Autor jedoch Schriftsteller und Komponisten wie Stendhal, Flaubert und Strawinsky. Brillant, geistreich und witzig wie immer, setzt sich Julina Barnes mit einem Thema auseinander, das jeden ein Leben lang betrifft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2010Die Geschichte des Todes in zehneinhalb Kapiteln
Alle sterben, früher, später, leiser, lauter, leichter: Julian Barnes hat ein Buch über den Tod geschrieben - und zeigt, wie Worte dabei helfen können, die Furcht vor ihm auszuhalten.
Von Tobias Rüther
Dies ist ein Buch zum Sätzeanstreichen. Und genauso wird Julian Barnes seine Arbeit daran wohl auch begonnen haben: mit Sätzen, die er in anderen Büchern angestrichen hat. Bei Montaigne, Koestler oder Larkin. In Biographien über Rachmaninow, Stendhal und Strawinsky. Die meisten dieser Anstrichsätze handeln vom Tod und wie man am besten mit ihm umgeht. Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert zum Beispiel, schon immer der Liebling von Julian Barnes, nahm sich vor: "Man sagt ,So ist es! So ist es!', schaut in die schwarze Grube zu seinen Füßen hinab und bleibt dadurch ruhig." Ein anderer Franzose, Jules Renard, schrieb an seinem Geburtstag ins Tagebuch: "Vierundvierzig - ein Alter, in dem man die Hoffnung aufgeben muss, seine Jahre zu verdoppeln." Zwei Jahre später war er tot. Und Freud meinte: "Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar; und sooft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, dass wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben."
Viele Anstrichsätze handeln aber vom anderen großen Rätsel des Lebens: nicht dem der Liebe, die kommt zwar auch vor, aber nicht so oft. Nein, es ist die Familie, oder besser: seine Familie, mit der sich der englische Autor Julian Barnes in seinem neuen Buch intensiv beschäftigt. "Nichts, was man fürchten müsste" heißt es, und so richtig gibt es kein Format, in das man es einsortieren könnte: Für einen philosophischen Essay ist es zu lustig, für einen Lebensratgeber zu skeptisch, als Autobiographie zu flüchtig, als Sachbuch zu poetisch. Vielleicht ist es ein Krimi? Weil so viel gestorben wird. Oder ein französischer Spielfilm, es wird ja auch ständig geredet.
Es ist aber, so philosophisch, skeptisch, flüchtig und französisch es auch zugeht, ein Buch von Julian Barnes, wie es alle seine Bücher seit "Metroland" von 1980 gewesen sind, genau wie "Flauberts Papagei" und "Darüber reden" oder "Die Geschichte der Welt in 10 œ Kapiteln" oder "Arthur & George" von 2007. Bücher von Julian Barnes erkennt man typischerweise daran, dass ihr Kern - die Liebe, ein Verbrechen, jetzt also der Tod und die Familie - unablässig umkreist wird, umstellt wird von tausend Ansichten, Wahrheiten und Erinnerungen, die miteinander konkurrieren und nur in dieser Konkurrenz eine vage Ahnung davon geben, wer es gewesen ist, was die Liebe sein könnte, wie es wäre, zu sterben.
Man könnte manchmal wahnsinnig werden darüber, auch diesmal wieder, wie sehr Barnes dem endgültigen Satz, der alles entscheidet, misstraut. Und fällt er einmal doch, dieser Satz, dann nimmt ihn Barnes gleich wieder zurück. Das ist große Kunst. Er selbst hat dem widersprochen, es sei keine literarische Methode, so sei nun mal das Leben. Diese Lebensnähe hat viele seiner Romane, die frühen stärker als die späteren, allerdings so ergreifend gemacht. Und deshalb stammen die meisten Anstrichsätze aus diesem Buch, die von der Familie handeln, diesem vitalen und komplizierten Etwas, das unser Leben zusammenhält oder auseinanderreißt, auch vom Autor selbst.
Streichen wir also einen Satz an: "Ich habe nie das Grab irgendeines Angehörigen besucht und glaube auch nicht, dass ich das je tun werde", schreibt Barnes. Die Asche seiner Eltern verwehte über dem Atlantik. "Dafür habe ich die Gräber vieler verschiedener Verwandter im Geiste besucht: Flaubert, Georges Brassens, Ford Madox Ford, Strawinsky, Camus, George Sand, Toulouse-Lautrec, Evelyn Waugh, Degas, Jane Austen, Braque . . ." Fast jeder der aufgezählten Künstler taucht im Buch auf. Und oft wirkt es, als würde sich Barnes besser in ihrem Innenleben auskennen als in dem seiner Eltern, als seien sie ihm näher, als hätten sie ihn in Wirklichkeit aufgezogen, als seien sie immer viel lieber zu ihm gewesen.
Es wird oft ungemütlich, wenn Barnes von den Eltern erzählt. Seine Mutter, so liest man es heraus, hat er nicht gemocht, sein Vater stand ihm offenbar näher, tat ihm aber leid, weil er mit seiner Mutter verheiratet war. Wie tief der Lehrerhaushalt ihn und seine Bücher geprägt hat, auch das erfährt man aus dem neuen Buch. Als Barnes mit Mitte zwanzig Romane zu schreiben begann, die von Sex und Geschichte und Kunst und Paris und vom Erwachsenwerden handelten, habe er sich vorgestellt, seine Eltern wären tot. Was er damit meinte, brachte seine Mutter in einem anstrichreifen Satz zum Ausdruck: "Einer meiner Söhne schreibt Bücher, die ich lesen, aber nicht verstehen kann, und der andere schreibt Bücher, die ich verstehen, aber nicht lesen kann."
Julians Bruder Jonathan ist nämlich Philosoph von Beruf. Im Buch ist er der Sparringspartner für die Ideen des Jüngeren, er verwirft die meisten mit seiner Logik, die das heiße Herz des Romanciers auskühlen lässt und es doch eigentlich nicht ergründen kann. "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn", ist zum Beispiel so eine Idee von Julian und zugleich der erste Satz seines Buchs. "Sentimentaler Quatsch", sagt Jonathan dazu. "Ich kann ja nachvollziehen, warum jemand so etwas sagt (setz für ,Götter' mal versuchsweise ,Dodos' oder ,Yetis' ein), aber ich für meinen Teil bin mit der Lage der Dinge ganz zufrieden."
Aber was ist die Lage der Dinge? Ob es Gott gibt oder nicht, alle sterben, früher, später, leiser, lauter, leichter. Davon, wie seine Eltern starben, erzählt Barnes: erst der Vater, dann die Mutter, beide im Heim, der eine dämmernd, die andere rebellischer. Barnes selbst sagt, ihm sei mit dreizehn, vierzehn Jahren klargeworden, dass es ihn eines Tages nicht mehr geben würde (dem philosophischen Bruder angeblich schon mit vier). Sein eigener Nachruf, den er zwischendurch leichthändig entwirft, endet mit den Worten: "Er liebte seine Frau und fürchtete den Tod."
Und an dieser Stelle, zwei Drittel ins Buch hinein, kann man es nicht mehr abschütteln, das unglückliche Gefühl beim Lesen, weil diese geliebte Frau nicht mehr lebt: Pat Kavanagh starb, ein paar Monate nachdem "Nothing to be frightened of" im Sommer 2008 erschienen war, ein Gehirntumor. Da sitzt man nun vor dem Buch eines Mannes, der den Tod fürchtete und seine Frau liebte. Es ist ihr gewidmet, wie fast jedes seiner Werke. "In der Ehe", hatte Barnes 1980 im Debüt "Metroland" geschrieben, "sind alle schlechten Witze gute Witze." Plötzlich wirken alle schlechten und guten Witze über den Tod im neuen Buch teuer erkauft. "Eine Möglichkeit, die wir nicht in Betracht gezogen haben, ist die, dass Gott der letzte Ironiker ist", lautet einer von ihnen.
Die Lektüre von "Nichts, was man fürchten müsste" ist nichts, was man fürchten müsste, wenn man zum ersten Mal hört, wovon das Buch handelt: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wenn es eines gibt, werden sie da in der Lage sein, einen Zwanziger wechseln zu können? Gut, das war jetzt Woody Allen und nicht Julian Barnes, aber es hätte auch in diesem Buch stehen können, das nicht schwer ist, vielleicht hin und wieder zu nervtötend geistreich und höchstens etwas zu lang - aber dafür sammelt man Anekdoten und Sätze aus dem Leben und Sterben großer und kleiner Frauen und Männer und ist Barnes dankbar dafür, sie angestrichen und herausgeschrieben zu haben.
Zum Beispiel, wie der englische Historiker Roy Porter auf seinem Fahrrad starb, ein Herzinfarkt, "er hatte einen Strauß Blumen mit nach Hause bringen wollen, die dann von einem Augenblick zum anderen zu seinem eigenen Gedenken am Straßenrand lagen". Und klingt es noch so schön: Der Mann war trotzdem tot. Barnes weiß das. Aber er weiß eben auch, dass der Tod, die Furcht vor ihm, der Schmerz über ihn, zum Trost die Zunge löst. Oder um es mit einem seiner Anstrichsätze zu sagen, ein letztes Mal Jules Renard: "Der Tod meines Vaters gibt mir ein Gefühl, als hätte ich ein wunderbares Buch geschrieben."
Julian Barnes: "Nichts, was man fürchten müsste". Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 320 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alle sterben, früher, später, leiser, lauter, leichter: Julian Barnes hat ein Buch über den Tod geschrieben - und zeigt, wie Worte dabei helfen können, die Furcht vor ihm auszuhalten.
Von Tobias Rüther
Dies ist ein Buch zum Sätzeanstreichen. Und genauso wird Julian Barnes seine Arbeit daran wohl auch begonnen haben: mit Sätzen, die er in anderen Büchern angestrichen hat. Bei Montaigne, Koestler oder Larkin. In Biographien über Rachmaninow, Stendhal und Strawinsky. Die meisten dieser Anstrichsätze handeln vom Tod und wie man am besten mit ihm umgeht. Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert zum Beispiel, schon immer der Liebling von Julian Barnes, nahm sich vor: "Man sagt ,So ist es! So ist es!', schaut in die schwarze Grube zu seinen Füßen hinab und bleibt dadurch ruhig." Ein anderer Franzose, Jules Renard, schrieb an seinem Geburtstag ins Tagebuch: "Vierundvierzig - ein Alter, in dem man die Hoffnung aufgeben muss, seine Jahre zu verdoppeln." Zwei Jahre später war er tot. Und Freud meinte: "Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar; und sooft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, dass wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben."
Viele Anstrichsätze handeln aber vom anderen großen Rätsel des Lebens: nicht dem der Liebe, die kommt zwar auch vor, aber nicht so oft. Nein, es ist die Familie, oder besser: seine Familie, mit der sich der englische Autor Julian Barnes in seinem neuen Buch intensiv beschäftigt. "Nichts, was man fürchten müsste" heißt es, und so richtig gibt es kein Format, in das man es einsortieren könnte: Für einen philosophischen Essay ist es zu lustig, für einen Lebensratgeber zu skeptisch, als Autobiographie zu flüchtig, als Sachbuch zu poetisch. Vielleicht ist es ein Krimi? Weil so viel gestorben wird. Oder ein französischer Spielfilm, es wird ja auch ständig geredet.
Es ist aber, so philosophisch, skeptisch, flüchtig und französisch es auch zugeht, ein Buch von Julian Barnes, wie es alle seine Bücher seit "Metroland" von 1980 gewesen sind, genau wie "Flauberts Papagei" und "Darüber reden" oder "Die Geschichte der Welt in 10 œ Kapiteln" oder "Arthur & George" von 2007. Bücher von Julian Barnes erkennt man typischerweise daran, dass ihr Kern - die Liebe, ein Verbrechen, jetzt also der Tod und die Familie - unablässig umkreist wird, umstellt wird von tausend Ansichten, Wahrheiten und Erinnerungen, die miteinander konkurrieren und nur in dieser Konkurrenz eine vage Ahnung davon geben, wer es gewesen ist, was die Liebe sein könnte, wie es wäre, zu sterben.
Man könnte manchmal wahnsinnig werden darüber, auch diesmal wieder, wie sehr Barnes dem endgültigen Satz, der alles entscheidet, misstraut. Und fällt er einmal doch, dieser Satz, dann nimmt ihn Barnes gleich wieder zurück. Das ist große Kunst. Er selbst hat dem widersprochen, es sei keine literarische Methode, so sei nun mal das Leben. Diese Lebensnähe hat viele seiner Romane, die frühen stärker als die späteren, allerdings so ergreifend gemacht. Und deshalb stammen die meisten Anstrichsätze aus diesem Buch, die von der Familie handeln, diesem vitalen und komplizierten Etwas, das unser Leben zusammenhält oder auseinanderreißt, auch vom Autor selbst.
Streichen wir also einen Satz an: "Ich habe nie das Grab irgendeines Angehörigen besucht und glaube auch nicht, dass ich das je tun werde", schreibt Barnes. Die Asche seiner Eltern verwehte über dem Atlantik. "Dafür habe ich die Gräber vieler verschiedener Verwandter im Geiste besucht: Flaubert, Georges Brassens, Ford Madox Ford, Strawinsky, Camus, George Sand, Toulouse-Lautrec, Evelyn Waugh, Degas, Jane Austen, Braque . . ." Fast jeder der aufgezählten Künstler taucht im Buch auf. Und oft wirkt es, als würde sich Barnes besser in ihrem Innenleben auskennen als in dem seiner Eltern, als seien sie ihm näher, als hätten sie ihn in Wirklichkeit aufgezogen, als seien sie immer viel lieber zu ihm gewesen.
Es wird oft ungemütlich, wenn Barnes von den Eltern erzählt. Seine Mutter, so liest man es heraus, hat er nicht gemocht, sein Vater stand ihm offenbar näher, tat ihm aber leid, weil er mit seiner Mutter verheiratet war. Wie tief der Lehrerhaushalt ihn und seine Bücher geprägt hat, auch das erfährt man aus dem neuen Buch. Als Barnes mit Mitte zwanzig Romane zu schreiben begann, die von Sex und Geschichte und Kunst und Paris und vom Erwachsenwerden handelten, habe er sich vorgestellt, seine Eltern wären tot. Was er damit meinte, brachte seine Mutter in einem anstrichreifen Satz zum Ausdruck: "Einer meiner Söhne schreibt Bücher, die ich lesen, aber nicht verstehen kann, und der andere schreibt Bücher, die ich verstehen, aber nicht lesen kann."
Julians Bruder Jonathan ist nämlich Philosoph von Beruf. Im Buch ist er der Sparringspartner für die Ideen des Jüngeren, er verwirft die meisten mit seiner Logik, die das heiße Herz des Romanciers auskühlen lässt und es doch eigentlich nicht ergründen kann. "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn", ist zum Beispiel so eine Idee von Julian und zugleich der erste Satz seines Buchs. "Sentimentaler Quatsch", sagt Jonathan dazu. "Ich kann ja nachvollziehen, warum jemand so etwas sagt (setz für ,Götter' mal versuchsweise ,Dodos' oder ,Yetis' ein), aber ich für meinen Teil bin mit der Lage der Dinge ganz zufrieden."
Aber was ist die Lage der Dinge? Ob es Gott gibt oder nicht, alle sterben, früher, später, leiser, lauter, leichter. Davon, wie seine Eltern starben, erzählt Barnes: erst der Vater, dann die Mutter, beide im Heim, der eine dämmernd, die andere rebellischer. Barnes selbst sagt, ihm sei mit dreizehn, vierzehn Jahren klargeworden, dass es ihn eines Tages nicht mehr geben würde (dem philosophischen Bruder angeblich schon mit vier). Sein eigener Nachruf, den er zwischendurch leichthändig entwirft, endet mit den Worten: "Er liebte seine Frau und fürchtete den Tod."
Und an dieser Stelle, zwei Drittel ins Buch hinein, kann man es nicht mehr abschütteln, das unglückliche Gefühl beim Lesen, weil diese geliebte Frau nicht mehr lebt: Pat Kavanagh starb, ein paar Monate nachdem "Nothing to be frightened of" im Sommer 2008 erschienen war, ein Gehirntumor. Da sitzt man nun vor dem Buch eines Mannes, der den Tod fürchtete und seine Frau liebte. Es ist ihr gewidmet, wie fast jedes seiner Werke. "In der Ehe", hatte Barnes 1980 im Debüt "Metroland" geschrieben, "sind alle schlechten Witze gute Witze." Plötzlich wirken alle schlechten und guten Witze über den Tod im neuen Buch teuer erkauft. "Eine Möglichkeit, die wir nicht in Betracht gezogen haben, ist die, dass Gott der letzte Ironiker ist", lautet einer von ihnen.
Die Lektüre von "Nichts, was man fürchten müsste" ist nichts, was man fürchten müsste, wenn man zum ersten Mal hört, wovon das Buch handelt: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wenn es eines gibt, werden sie da in der Lage sein, einen Zwanziger wechseln zu können? Gut, das war jetzt Woody Allen und nicht Julian Barnes, aber es hätte auch in diesem Buch stehen können, das nicht schwer ist, vielleicht hin und wieder zu nervtötend geistreich und höchstens etwas zu lang - aber dafür sammelt man Anekdoten und Sätze aus dem Leben und Sterben großer und kleiner Frauen und Männer und ist Barnes dankbar dafür, sie angestrichen und herausgeschrieben zu haben.
Zum Beispiel, wie der englische Historiker Roy Porter auf seinem Fahrrad starb, ein Herzinfarkt, "er hatte einen Strauß Blumen mit nach Hause bringen wollen, die dann von einem Augenblick zum anderen zu seinem eigenen Gedenken am Straßenrand lagen". Und klingt es noch so schön: Der Mann war trotzdem tot. Barnes weiß das. Aber er weiß eben auch, dass der Tod, die Furcht vor ihm, der Schmerz über ihn, zum Trost die Zunge löst. Oder um es mit einem seiner Anstrichsätze zu sagen, ein letztes Mal Jules Renard: "Der Tod meines Vaters gibt mir ein Gefühl, als hätte ich ein wunderbares Buch geschrieben."
Julian Barnes: "Nichts, was man fürchten müsste". Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 320 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2010Weckruf zur Sterblichkeit
Wie man sich den Tod vom Leib hält, indem man ihn umarmt: In „Nichts, was man fürchten müsste” wird Julian Barnes zum Biographen seiner Angst und schreibt sich eine unsterbliche Literatenfamilie herbei Von Lothar Müller
Da ist die Geschichte mit dem Dreirad. Darin erfindet der ältere Bruder von Julian Barnes, als die beiden noch klein sind, ein Spiel. Er setzt Julian auf ein Dreirad, verbindet ihm die Augen und stößt ihn so schnell wie möglich gegen eine Mauer. Kaum hat Barnes diese Kindheitserinnerung erzählt, fügt er hinzu: „Einen vorschnellen Schluss möchte ich Ihnen gleich ausreden. Für mich klingt das wie ein Spiel, das mir gefallen hätte. Ich kann mir meinen Freudenschrei vorstellen, wenn das Vorderrad gegen die Mauer prallt. Vielleicht habe ich das Spiel sogar vorgeschlagen oder um Wiederholung gebeten.”
Julian Barnes, geboren 1946 in Leicester, zählt unter den prominenten britischen Autoren seiner Generation zu den formbewusstesten. Das Erzählen nach stabilen Genremustern verachtet er nicht. Unter dem Pseudonym Dan Kavanagh hat er schon früh begonnen, Kriminalromane zu schreiben. Zu seinen Spezialitäten gehört es aber ebenso, in der Form des Romans mit den Mitteln des Essays Unruhe zu stiften, ob in „Flauberts Papagei” (1984) oder in „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln” (1990). In seinem neuen Buch, das im englischen Original 2008 erschien, tritt er durchgängig als er selbst auf, als erzählendes und räsonierendes Ich, das andauernd die Nähe des Lesers sucht, ihn anredet und ins Gespräch verwickelt. Er hat dabei ein Ziel. Er will erreichen, dass der Leser am Ende des Buches mit ihm gemeinsam dessen Titel dementiert: „Nichts, was man fürchten müsste.”
Denn dieser Titel zitiert den Gemeinplatz, nicht der Tod, sondern allenfalls das Sterben sei etwas, das der Mensch zu fürchten habe. Julian Barnes hasst diesen tröstlich gemeinten Satz, und zwar schon seit langem. Mit etwa dreizehn oder vierzehn Jahren, so schreibt er, habe ihn unwiderruflich erfasst, was er sein „Todesbewusstsein” oder lieber noch mit einem französischen Ausdruck „le réveil mortel” nennt, den „Weckruf zur Sterblichkeit”. In den Kulissen seiner Bücher hielt sich dieses Todesbewusstsein oft verborgen, aber schon in seinem Romandebüt „Metroland” (1980) hatte es einen ersten beachtlichen Auftritt.
Damals sprach Christopher, einer der beiden in den Suburbs von London heranwachsenden Hauptfiguren des Buches, in einem Monolog von dem Geheimnis, das er seinem Freund vorenthielt: „the thing about dying”. Nicht das Sterben, sondern das Totsein nach dem Sterben war es, was Christopher fürchtete. Nichts war für ihn, wenn ihn die nächtlichen Terrorattacken heimsuchten, absurder als die Vorstellung, der Tod, den er fürchtete, und der Schlaf könnten Brüder sein. Und etwas unklar, aber nicht ohne Dringlichkeit ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dieses Überfallenwerden von der Todesangst könne in irgendeinem Zusammenhang mit dem Umstand stehen, dass er vor kurzem Gott, der ohnehin nicht sehr präsent gewesen war, aus seinem Innenleben verabschiedet hatte.
„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.” Mit diesem Satz beginnt nun das Buch, in dem sich Julian Barnes seiner Furcht vor dem Tod vergewissert. Er seziert sie, und lässt sie dabei immer lebendiger werden. Er umarmt sie, um sie sich vom Leib zu halten. Er macht ihr Friedensangebote und sagt ihr den Kampf an. Kurz, er berichtet, was aus ihr geworden ist, seit sie in seinem ersten Roman auftrat. Er schreibt ihre Biographie und dabei en passant auch ein wenig seine Autobiographie, von der er auf irgendeiner Seite versichert, die habe er mit diesem Buch partout nicht im Sinn.
Gott, obwohl ihm der erste Satz gilt, ist dabei nur eine Hilfskraft. Denn er hat einen großen Nachteil gegenüber dem Tod, der gewiss ist. Er lebt ganz und gar in der Sphäre der Ungewissheit und ist ein wenig verlässlicher Bündnispartner im Clinch mit dem Tod. Er ist eine Hypothese, die mal mit Blaise Pascal erwogen, mal verworfen wird, immer aber Hypothese bleibt. Denn, daran lässt Julian Barnes keinen Zweifel, hier schreibt ein Agnostiker, der von Hause aus wenig mit der Religion am Hut hat, in Kirchen nur geht, um Kunstwerke zu besichtigen, und kaum Umgang mit Gläubigen pflegt.
Dieser Agnostiker aber pflegt sehr intensiven Umgang mit den beiden Familien, denen er angehört, der bei der Geburt vorgefundenen und der im Lauf des Lebens erworbenen. Diese letztere ist eine englisch-französische Mischfamilie, in der Montaigne, Baudelaire, Flaubert oder Alphonse Daudet gemeinsam mit Sir Thomas Browne, Somerset Maugham und Ford Madox Ford zu den Vorfahren gehören, die der Autor Julian Barnes sich gewählt hat.
Vor einigen Jahren hat Barnes unter dem Titel „In the land of pain” das Tagebuch ins Englische übersetzt, das Alphonse Daudet, unheilbar an der Syphilis erkrankt, vor seinem Tod führte. Jetzt gehört Daudet zu den Mitgliedern seiner Literatenfamilie, die Barnes herbeizitiert, um sie beim Zugehen auf den Tod – oder beim Überraschtwerden von ihm – zu beobachten. Sie haben eine heilsame Wirkung. Denn sie erlauben es Barnes, wenn er sich wieder mal in den Fangnetzen seiner Hypothesen über Gott oder das Ich und die neuesten Erkenntnisse der Hirnphysiologie verfangen hat, ins Erzählen zu geraten. Sie liefern ihm Anekdoten über den Tod.
Die Hauptrolle dabei spielt Jules Renard (1864-1910), in dessen über Jahrzehnte geführten Tagebüchern zahlreiche nähere Verwandte seltsame Tode sterben, bis ihnen schließlich der Verfasser folgt. Die Passagen, in denen Barnes, mal elegisch, mal mit frivolem Witz die Schatten des todeskundigen Jules Renard heraufbeschwört, sind das Modell für das heimliche Zentrum des Buches: das Selbstporträt des todesfürchtigen Autors im Kreise seiner Herkunftsfamilie.
Darin gehören die Großeltern noch der Welt an, in der die Gewissheiten der Politik die der Religion ersetzen konnten. Die Großmutter, Kommunistin, brachte es bis zu einer störrischen Leidenschaft für die fernen Chinesen. Die – wenig geliebte – Mutter hielt die Religion für Augenwischerei, der Vater überraschte den Sohn einmal dadurch, dass er wusste, wie man betet. Für den Sohn selbst ist der Gott, den er vermisst, vor allem „der Gott, der die großen Kunstwerke inspiriert hat”. Aber die Illusion der jugendlichen Helden aus seinem ersten Roman hat er verabschiedet: dass große Kunst die Todesfurcht in Schach hält, ihr Paroli bietet.
Nur keinen falschen, pathetischen, tiefsinnigen Ton anschlagen – dieser Devise bleibt Julian Barnes bis zur Schlusspointe dieses mit Galgenhumor geschriebenen Buches treu. In der Familiengeschichte, die es erzählt, spielt der leibhaftige ältere Bruder die Hauptrolle: Jonathan Barnes, 1942 geboren, Professor für Philosophie in Oxford, Genf und Paris, Spezialist für die antike Philosophie im allgemeinen und Aristoteles im besonderen.
Jonathan Barnes ist der mit dem Dreirad. Und er ist, zuletzt in dem eben auch auf Deutsch erschienenen Bändchen „Auf einen Kaffee mit Aristoteles” (dtv. München 2010, 124 S., 4,95 Euro) ein unnachgiebiger Anwalt des Satzes, gegen den Julian Barnes anschreibt: dass der Tod nichts sei, was man fürchten müsse. Darum ist Jonathan Barnes in diesem Buch allgegenwärtig. Als sei ihm nicht anders beizukommen, passt sich Julian Barnes allzu oft über Gebühr dem diskursiven Geschäft des Bruders an – was hätte aus diesem ohnehin schon sehr lebendigen Bericht über eine Todesobsession werden können, hätte Julian Barnes stattdessen den Bruder in seine eigene Welt eingesponnen, in die Welt des Romanciers, der zugleich das Handwerk des Essayisten beherrscht.
Julian Barnes
Nichts, was man fürchten müsste
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 333 Seiten,
19,95 Euro.
Julian Barnes will erreichen, dass der Leser am Ende gegen den Titel des Buches aufbegehrt
Die Illusion seiner frühen Helden hat der Autor gebannt: dass die Kunst den Tod besiegt
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Wie man sich den Tod vom Leib hält, indem man ihn umarmt: In „Nichts, was man fürchten müsste” wird Julian Barnes zum Biographen seiner Angst und schreibt sich eine unsterbliche Literatenfamilie herbei Von Lothar Müller
Da ist die Geschichte mit dem Dreirad. Darin erfindet der ältere Bruder von Julian Barnes, als die beiden noch klein sind, ein Spiel. Er setzt Julian auf ein Dreirad, verbindet ihm die Augen und stößt ihn so schnell wie möglich gegen eine Mauer. Kaum hat Barnes diese Kindheitserinnerung erzählt, fügt er hinzu: „Einen vorschnellen Schluss möchte ich Ihnen gleich ausreden. Für mich klingt das wie ein Spiel, das mir gefallen hätte. Ich kann mir meinen Freudenschrei vorstellen, wenn das Vorderrad gegen die Mauer prallt. Vielleicht habe ich das Spiel sogar vorgeschlagen oder um Wiederholung gebeten.”
Julian Barnes, geboren 1946 in Leicester, zählt unter den prominenten britischen Autoren seiner Generation zu den formbewusstesten. Das Erzählen nach stabilen Genremustern verachtet er nicht. Unter dem Pseudonym Dan Kavanagh hat er schon früh begonnen, Kriminalromane zu schreiben. Zu seinen Spezialitäten gehört es aber ebenso, in der Form des Romans mit den Mitteln des Essays Unruhe zu stiften, ob in „Flauberts Papagei” (1984) oder in „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln” (1990). In seinem neuen Buch, das im englischen Original 2008 erschien, tritt er durchgängig als er selbst auf, als erzählendes und räsonierendes Ich, das andauernd die Nähe des Lesers sucht, ihn anredet und ins Gespräch verwickelt. Er hat dabei ein Ziel. Er will erreichen, dass der Leser am Ende des Buches mit ihm gemeinsam dessen Titel dementiert: „Nichts, was man fürchten müsste.”
Denn dieser Titel zitiert den Gemeinplatz, nicht der Tod, sondern allenfalls das Sterben sei etwas, das der Mensch zu fürchten habe. Julian Barnes hasst diesen tröstlich gemeinten Satz, und zwar schon seit langem. Mit etwa dreizehn oder vierzehn Jahren, so schreibt er, habe ihn unwiderruflich erfasst, was er sein „Todesbewusstsein” oder lieber noch mit einem französischen Ausdruck „le réveil mortel” nennt, den „Weckruf zur Sterblichkeit”. In den Kulissen seiner Bücher hielt sich dieses Todesbewusstsein oft verborgen, aber schon in seinem Romandebüt „Metroland” (1980) hatte es einen ersten beachtlichen Auftritt.
Damals sprach Christopher, einer der beiden in den Suburbs von London heranwachsenden Hauptfiguren des Buches, in einem Monolog von dem Geheimnis, das er seinem Freund vorenthielt: „the thing about dying”. Nicht das Sterben, sondern das Totsein nach dem Sterben war es, was Christopher fürchtete. Nichts war für ihn, wenn ihn die nächtlichen Terrorattacken heimsuchten, absurder als die Vorstellung, der Tod, den er fürchtete, und der Schlaf könnten Brüder sein. Und etwas unklar, aber nicht ohne Dringlichkeit ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dieses Überfallenwerden von der Todesangst könne in irgendeinem Zusammenhang mit dem Umstand stehen, dass er vor kurzem Gott, der ohnehin nicht sehr präsent gewesen war, aus seinem Innenleben verabschiedet hatte.
„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.” Mit diesem Satz beginnt nun das Buch, in dem sich Julian Barnes seiner Furcht vor dem Tod vergewissert. Er seziert sie, und lässt sie dabei immer lebendiger werden. Er umarmt sie, um sie sich vom Leib zu halten. Er macht ihr Friedensangebote und sagt ihr den Kampf an. Kurz, er berichtet, was aus ihr geworden ist, seit sie in seinem ersten Roman auftrat. Er schreibt ihre Biographie und dabei en passant auch ein wenig seine Autobiographie, von der er auf irgendeiner Seite versichert, die habe er mit diesem Buch partout nicht im Sinn.
Gott, obwohl ihm der erste Satz gilt, ist dabei nur eine Hilfskraft. Denn er hat einen großen Nachteil gegenüber dem Tod, der gewiss ist. Er lebt ganz und gar in der Sphäre der Ungewissheit und ist ein wenig verlässlicher Bündnispartner im Clinch mit dem Tod. Er ist eine Hypothese, die mal mit Blaise Pascal erwogen, mal verworfen wird, immer aber Hypothese bleibt. Denn, daran lässt Julian Barnes keinen Zweifel, hier schreibt ein Agnostiker, der von Hause aus wenig mit der Religion am Hut hat, in Kirchen nur geht, um Kunstwerke zu besichtigen, und kaum Umgang mit Gläubigen pflegt.
Dieser Agnostiker aber pflegt sehr intensiven Umgang mit den beiden Familien, denen er angehört, der bei der Geburt vorgefundenen und der im Lauf des Lebens erworbenen. Diese letztere ist eine englisch-französische Mischfamilie, in der Montaigne, Baudelaire, Flaubert oder Alphonse Daudet gemeinsam mit Sir Thomas Browne, Somerset Maugham und Ford Madox Ford zu den Vorfahren gehören, die der Autor Julian Barnes sich gewählt hat.
Vor einigen Jahren hat Barnes unter dem Titel „In the land of pain” das Tagebuch ins Englische übersetzt, das Alphonse Daudet, unheilbar an der Syphilis erkrankt, vor seinem Tod führte. Jetzt gehört Daudet zu den Mitgliedern seiner Literatenfamilie, die Barnes herbeizitiert, um sie beim Zugehen auf den Tod – oder beim Überraschtwerden von ihm – zu beobachten. Sie haben eine heilsame Wirkung. Denn sie erlauben es Barnes, wenn er sich wieder mal in den Fangnetzen seiner Hypothesen über Gott oder das Ich und die neuesten Erkenntnisse der Hirnphysiologie verfangen hat, ins Erzählen zu geraten. Sie liefern ihm Anekdoten über den Tod.
Die Hauptrolle dabei spielt Jules Renard (1864-1910), in dessen über Jahrzehnte geführten Tagebüchern zahlreiche nähere Verwandte seltsame Tode sterben, bis ihnen schließlich der Verfasser folgt. Die Passagen, in denen Barnes, mal elegisch, mal mit frivolem Witz die Schatten des todeskundigen Jules Renard heraufbeschwört, sind das Modell für das heimliche Zentrum des Buches: das Selbstporträt des todesfürchtigen Autors im Kreise seiner Herkunftsfamilie.
Darin gehören die Großeltern noch der Welt an, in der die Gewissheiten der Politik die der Religion ersetzen konnten. Die Großmutter, Kommunistin, brachte es bis zu einer störrischen Leidenschaft für die fernen Chinesen. Die – wenig geliebte – Mutter hielt die Religion für Augenwischerei, der Vater überraschte den Sohn einmal dadurch, dass er wusste, wie man betet. Für den Sohn selbst ist der Gott, den er vermisst, vor allem „der Gott, der die großen Kunstwerke inspiriert hat”. Aber die Illusion der jugendlichen Helden aus seinem ersten Roman hat er verabschiedet: dass große Kunst die Todesfurcht in Schach hält, ihr Paroli bietet.
Nur keinen falschen, pathetischen, tiefsinnigen Ton anschlagen – dieser Devise bleibt Julian Barnes bis zur Schlusspointe dieses mit Galgenhumor geschriebenen Buches treu. In der Familiengeschichte, die es erzählt, spielt der leibhaftige ältere Bruder die Hauptrolle: Jonathan Barnes, 1942 geboren, Professor für Philosophie in Oxford, Genf und Paris, Spezialist für die antike Philosophie im allgemeinen und Aristoteles im besonderen.
Jonathan Barnes ist der mit dem Dreirad. Und er ist, zuletzt in dem eben auch auf Deutsch erschienenen Bändchen „Auf einen Kaffee mit Aristoteles” (dtv. München 2010, 124 S., 4,95 Euro) ein unnachgiebiger Anwalt des Satzes, gegen den Julian Barnes anschreibt: dass der Tod nichts sei, was man fürchten müsse. Darum ist Jonathan Barnes in diesem Buch allgegenwärtig. Als sei ihm nicht anders beizukommen, passt sich Julian Barnes allzu oft über Gebühr dem diskursiven Geschäft des Bruders an – was hätte aus diesem ohnehin schon sehr lebendigen Bericht über eine Todesobsession werden können, hätte Julian Barnes stattdessen den Bruder in seine eigene Welt eingesponnen, in die Welt des Romanciers, der zugleich das Handwerk des Essayisten beherrscht.
Julian Barnes
Nichts, was man fürchten müsste
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 333 Seiten,
19,95 Euro.
Julian Barnes will erreichen, dass der Leser am Ende gegen den Titel des Buches aufbegehrt
Die Illusion seiner frühen Helden hat der Autor gebannt: dass die Kunst den Tod besiegt
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Nicht recht froh ist Rezensent Rolf-Bernhard Essig mit diesem Buch geworden. Er beschreibt es als "extrem langen Essay", der die "Sterbekunst" wieder aufleben lassen will. Dies jedoch ist Julian Barnes seiner Ansicht nach nur mäßig gelungen. Am unterhaltsamsten findet Essig noch Barnes' Nachruf auf sich selbst. Insgesamt betrachtet der Kritiker die dargebotenen Details über das Dahinsiechen von Verwandten und Freunden des Autors als nur mäßig aufschlussreich. Denn Barnes bleibe nicht beim Persönlichen und Anekdotischen, sondern betrete auch Gebiete, von denen er augenscheinlich wenig verstehe, wie Hirnforschung, Genetik oder Evolutionsbiologie. Hier tische der Autor seinen Lesern dann immer wieder Halbverstandenes, Banales, Falsches und schlicht Uninteressantes auf, moniert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Julian Barnes hat ein brillantes Buch über den Tod geschrieben."