Im Dezember 1938 sagt der junge Engländer Nicholas Winton seinen Skiurlaub ab. Er fährt stattdessen nach Prag und rettet in den darauffolgenden Wochen und Monaten fast 700 jüdische Kinder vor den Nazis, indem er Kindertransporte von Prag nach England organisiert. Eines dieser Kinder ist die kleine Vera Gissing, die im Sommer 1939 ihr Dorf und ihre Familie verlässt. Sie wird die Nazizeit überleben, aber ihre Familie nie wiedersehen.Wie es ist, wenn man sein Zuhause verlassen muss, das können schon kleine Kinder verstehen. Und auch, dass da ein Mensch ist, der es als seine Aufgabe begreift, anderen zu helfen und nicht wegzusehen.In leuchtenden, poetischen Bildern verwebt der Ausnahmekünstler Peter Sís die Lebensgeschichten der beiden und erzählt von Menschlichkeit, Anstand und Mut.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Kim Kindermann schwärmt in den höchsten Tönen von diesem Kinderbuch von Peter Sis, das für sie auch eine "Hommage" an den Briten Nicholas Winton ist. Winton rettete mehr als 600 jüdische Kinder im Jahr 1939 aus der Tschechoslowakei vor den Nazis, indem er für sie in London Pflegefamilien suchte. Die Flucht der Kinder erzählt Sis in "filigranen" Aquarellbildern am Beispiel der kleinen Vera, lobt die Kritikerin. Und wie Sis die einzelnen Szenen gegeneinander schneidet, Novemberpogrome und Skiausflüge, Hitler und Dorfkatzen, findet Kindermann bemerkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.03.2022Auf dem Weg ins Ungewisse
Peter Sís erzählt und illustriert die Geschichte des jungen Engländers Nicholas Winton,
der 1939 jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei nach England bringt und sie so rettet
VON SIGGI SEUSS
Ein lichtes Blau legt sich über das Titelbild von Peter Sís’ neuem Bilderbuch „Nicky & Vera“ – wie ein Vorhang aus zartem Nebel, hinter dem sich unschwer die Silhouette von Big Ben erkennen lässt. Vielleicht spürt das Mädchen, das auf den Horizont zugeht, so etwas wie Angst und zarte Hoffnung.
Die kleine Vera trägt auf dem Weg ins Ungewisse nicht nur ein Köfferchen in der Hand. Wie so oft in der hochsymbolischen Bildkunst des tschechisch-amerikanischen Illustrators sehen die Betrachter auf dem Rücken des Kindes in freundlichen warmen Farben gleichsam seine Erinnerungen projiziert, die es immer mit sich trägt: das Elternhaus, Papa und Mama, das Pferdchen auf der Weide, die Ente im Dorfteich, die Katze.
Peter Sís erzählt – übersetzt von Brigitte Jakobeit – eine Geschichte von Flucht und Rettung, von totalitärer Staatsmacht, Willkür und Verfolgung, und von den Versuchen einzelner Menschen, der Ohnmacht der Opfer das in ihrer Kraft Stehende entgegenzusetzen. So wie er es bereits in der Bilderzählung über das Leben hinter dem Eisernen Vorhang getan hat, in „Die Mauer“. Eigentlich machen sich in den meisten von Peter Sís’ wahren Geschichten einzelne Menschen couragiert und entdeckerfreudig, gegen alle Widerstände, auf den Weg, um unbekanntes Terrain zu erkunden. In „Nicky & Vera“ wird die Geschichte des jüdischen Mädchens Vera Diamantová und des jungen Engländers Nicholas Winton erzählt, der im Dezember 1938 nach Prag fährt und Transporte für jüdische Kinder nach London organisiert. Eines dieser Kinder ist Vera. Sie lebt glücklich in einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt. Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen, zuerst in das Sudetenland und im März 1939 in den Rest der jungen tschechoslowakischen Republik. Die jüdische Bevölkerung fürchtet um ihr Leben. Da England bereit ist, Flüchtlinge unter siebzehn Jahren aufzunehmen, entschließt sich Nicholas, Pflegefamilien zu suchen und die Ausreise jüdischer Kinder zu organisieren. Im Frühjahr und Sommer verlassen acht Züge Prag in Richtung London. Am Tag des Kriegsbeginns sollte ein neunter Zug mit 250 Flüchtlingen auf die Reise gehen. Er fuhr niemals ab. Die elfjährige Vera war eines von 669 geretteten Kindern. Auch ihre ältere Schwester Eva überlebte. Der Vater wurde von den Nazis erschossen, die Mutter starb nach jahrelanger Lagerhaft kurz nach Kriegsende. Da sich 1948 in der Tschechoslowakei ein stalinistisches Regime etablierte, entschied sich Vera, in England zu leben. Erst nach Jahrzehnten drang die Kunde von der Rettung der Kinder in die Öffentlichkeit. Bei einer Überraschungsshow im Fernsehen traf Nicholas Winton auf Menschen, die ihm ihre Rettung verdankten.
Natürlich würde die Geschichte auch als literarischer Text die Augen öffnen und zu Herzen gehen. Die einzigartige Kunst des Illustrators besteht jedoch darin, in einer schier unglaublichen Komposition aus filigraner Tuschzeichnung, Aquarellierung, Kreidemalerei und Handschriften einen fantastischen Bilderkosmos zu schaffen. Er verknüpft dabei den Mikrokosmos eines Menschenkindes mit dem Makrokosmos der gesellschaftlichen Kräfte, die auf das Individuum einwirken. Immer wieder taucht das mythologische Symbol von Lebenskreisen in verschiedensten Variationen auf, im Wechsel mit Szenen, die Filmbildsequenzen ähneln. In jedem Kreis, in jedem Bild aufbewahrt: eine Erinnerung. Ein vertrauter, geborgener Lebensraum. Eltern. Tiere. Dorf. Häuser. Fluss. Die Refugien der Kindheit. Traumbilder und Fantasien – sowohl die des jüdischen Mädchens als auch des jungen Mannes aus England. Vera schrieb, basierend auf ihren Tagebuchaufzeichnungen, mehrere Bücher.
Nicholas Winton starb, vielfach geehrt, 2015 im Alter von 106 Jahren. Als Held sah er sich nie. „Ich habe nur gesehen, was getan werden musste.“ (ab 10 Jahre)
Peter Sís: Nicky & Vera. Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Gerstenberg, 2022. 64 Seiten, 18 Euro.
Die elfjährige Vera
war eines
von 669 geretteten Kindern
Illustration aus Peter Sis: Nicky & Vera
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Peter Sís erzählt und illustriert die Geschichte des jungen Engländers Nicholas Winton,
der 1939 jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei nach England bringt und sie so rettet
VON SIGGI SEUSS
Ein lichtes Blau legt sich über das Titelbild von Peter Sís’ neuem Bilderbuch „Nicky & Vera“ – wie ein Vorhang aus zartem Nebel, hinter dem sich unschwer die Silhouette von Big Ben erkennen lässt. Vielleicht spürt das Mädchen, das auf den Horizont zugeht, so etwas wie Angst und zarte Hoffnung.
Die kleine Vera trägt auf dem Weg ins Ungewisse nicht nur ein Köfferchen in der Hand. Wie so oft in der hochsymbolischen Bildkunst des tschechisch-amerikanischen Illustrators sehen die Betrachter auf dem Rücken des Kindes in freundlichen warmen Farben gleichsam seine Erinnerungen projiziert, die es immer mit sich trägt: das Elternhaus, Papa und Mama, das Pferdchen auf der Weide, die Ente im Dorfteich, die Katze.
Peter Sís erzählt – übersetzt von Brigitte Jakobeit – eine Geschichte von Flucht und Rettung, von totalitärer Staatsmacht, Willkür und Verfolgung, und von den Versuchen einzelner Menschen, der Ohnmacht der Opfer das in ihrer Kraft Stehende entgegenzusetzen. So wie er es bereits in der Bilderzählung über das Leben hinter dem Eisernen Vorhang getan hat, in „Die Mauer“. Eigentlich machen sich in den meisten von Peter Sís’ wahren Geschichten einzelne Menschen couragiert und entdeckerfreudig, gegen alle Widerstände, auf den Weg, um unbekanntes Terrain zu erkunden. In „Nicky & Vera“ wird die Geschichte des jüdischen Mädchens Vera Diamantová und des jungen Engländers Nicholas Winton erzählt, der im Dezember 1938 nach Prag fährt und Transporte für jüdische Kinder nach London organisiert. Eines dieser Kinder ist Vera. Sie lebt glücklich in einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt. Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen, zuerst in das Sudetenland und im März 1939 in den Rest der jungen tschechoslowakischen Republik. Die jüdische Bevölkerung fürchtet um ihr Leben. Da England bereit ist, Flüchtlinge unter siebzehn Jahren aufzunehmen, entschließt sich Nicholas, Pflegefamilien zu suchen und die Ausreise jüdischer Kinder zu organisieren. Im Frühjahr und Sommer verlassen acht Züge Prag in Richtung London. Am Tag des Kriegsbeginns sollte ein neunter Zug mit 250 Flüchtlingen auf die Reise gehen. Er fuhr niemals ab. Die elfjährige Vera war eines von 669 geretteten Kindern. Auch ihre ältere Schwester Eva überlebte. Der Vater wurde von den Nazis erschossen, die Mutter starb nach jahrelanger Lagerhaft kurz nach Kriegsende. Da sich 1948 in der Tschechoslowakei ein stalinistisches Regime etablierte, entschied sich Vera, in England zu leben. Erst nach Jahrzehnten drang die Kunde von der Rettung der Kinder in die Öffentlichkeit. Bei einer Überraschungsshow im Fernsehen traf Nicholas Winton auf Menschen, die ihm ihre Rettung verdankten.
Natürlich würde die Geschichte auch als literarischer Text die Augen öffnen und zu Herzen gehen. Die einzigartige Kunst des Illustrators besteht jedoch darin, in einer schier unglaublichen Komposition aus filigraner Tuschzeichnung, Aquarellierung, Kreidemalerei und Handschriften einen fantastischen Bilderkosmos zu schaffen. Er verknüpft dabei den Mikrokosmos eines Menschenkindes mit dem Makrokosmos der gesellschaftlichen Kräfte, die auf das Individuum einwirken. Immer wieder taucht das mythologische Symbol von Lebenskreisen in verschiedensten Variationen auf, im Wechsel mit Szenen, die Filmbildsequenzen ähneln. In jedem Kreis, in jedem Bild aufbewahrt: eine Erinnerung. Ein vertrauter, geborgener Lebensraum. Eltern. Tiere. Dorf. Häuser. Fluss. Die Refugien der Kindheit. Traumbilder und Fantasien – sowohl die des jüdischen Mädchens als auch des jungen Mannes aus England. Vera schrieb, basierend auf ihren Tagebuchaufzeichnungen, mehrere Bücher.
Nicholas Winton starb, vielfach geehrt, 2015 im Alter von 106 Jahren. Als Held sah er sich nie. „Ich habe nur gesehen, was getan werden musste.“ (ab 10 Jahre)
Peter Sís: Nicky & Vera. Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Gerstenberg, 2022. 64 Seiten, 18 Euro.
Die elfjährige Vera
war eines
von 669 geretteten Kindern
Illustration aus Peter Sis: Nicky & Vera
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