Das glänzend erzählte Psychogramm einer Beziehung
Ein junges Paar bricht zu einer Tour in die Schweizer Berge auf. André und Louise wollen hoch hinauf und scheinen für ihr Abenteuer gut gerüstet. Doch je näher sie dem Gipfel kommen, desto mehr entfernen sie sich voneinander. In seinem neuen Roman spielt Roman Graf mit dem archaischen Motiv der existentiellen Begegnung am Berg. Energie und Willensstärke, aber auch die innere Zerrissenheit des Helden spiegeln sich in einer kraftvollen, gleichwohl poetischen Sprache.
Monatelang hat der Schweizer André die Bergtour bis ins letzte Detail geplant. Er will seiner Freundin Louise aus Berlin die Schönheit der Berge zeigen. Doch nun hüllt Nebel das Dorf ein, und feiner Regen verlangsamt den Aufbruch. Louise scheint lustlos, André fühlt sich aufgehalten. Schließlich gehen sie los, laufen gegen die unerfüllten Erwartungen und den aufkeimenden Missmut an. Mit Mühe erreichen sie das erste Etappenziel. Am nächsten Tag kehrt mit dem schönen Wetter die Abenteuerlust zurück. Aber der weitere Aufstieg ist anstrengend, und Louises Abwehr gewinnt in der Steinöde die Oberhand. Vor der letzten Herausforderung verlässt sie ihren Freund. Verletzt und stolz klettert André allein weiter. In der steinigen Einsamkeit kommt er an seine Grenzen, schöpft Kraft nur aus Willensstärke, Kindheitserinnerungen und Traumbildern. Doch den Gipfel zu bezwingen, alles hinter sich zu lassen, wird ihm zur idée fixe.
Ein junges Paar bricht zu einer Tour in die Schweizer Berge auf. André und Louise wollen hoch hinauf und scheinen für ihr Abenteuer gut gerüstet. Doch je näher sie dem Gipfel kommen, desto mehr entfernen sie sich voneinander. In seinem neuen Roman spielt Roman Graf mit dem archaischen Motiv der existentiellen Begegnung am Berg. Energie und Willensstärke, aber auch die innere Zerrissenheit des Helden spiegeln sich in einer kraftvollen, gleichwohl poetischen Sprache.
Monatelang hat der Schweizer André die Bergtour bis ins letzte Detail geplant. Er will seiner Freundin Louise aus Berlin die Schönheit der Berge zeigen. Doch nun hüllt Nebel das Dorf ein, und feiner Regen verlangsamt den Aufbruch. Louise scheint lustlos, André fühlt sich aufgehalten. Schließlich gehen sie los, laufen gegen die unerfüllten Erwartungen und den aufkeimenden Missmut an. Mit Mühe erreichen sie das erste Etappenziel. Am nächsten Tag kehrt mit dem schönen Wetter die Abenteuerlust zurück. Aber der weitere Aufstieg ist anstrengend, und Louises Abwehr gewinnt in der Steinöde die Oberhand. Vor der letzten Herausforderung verlässt sie ihren Freund. Verletzt und stolz klettert André allein weiter. In der steinigen Einsamkeit kommt er an seine Grenzen, schöpft Kraft nur aus Willensstärke, Kindheitserinnerungen und Traumbildern. Doch den Gipfel zu bezwingen, alles hinter sich zu lassen, wird ihm zur idée fixe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2013Der Mann muss hinauf, die Frau zieht es hinab
Pfadfinder auf schmalem Grat: Roman Grafs verstiegener Bergwanderroman "Niedergang" scheitert an der Überwindung des Überhangs
Der Absturz bei der Bergwanderung in den Schweizer Alpen ist nicht nur eine reale Gefahr, sondern auch eine gefährliche Metapher. Hinauf geht es meistens flott; der Abstieg gelingt dagegen nicht immer. Roman Graf, der in Berlin lebende Schweizer Autor, bekam viel Lob und Preise für seinen Erstling "Herr Blanc". Seine Zweitbesteigung des Literaturgipfels scheitert allerdings schon im Basislager. Der "Niedergang" deutet sich schon im Foto des Buchdeckels an: Vor der einsam ragenden Bergspitze liegt bedrohlich ein schier unüberwindlicher schiefergrauer Steilhang. Die Kapitelüberschriften klingen, als ob Heidi und der Geißenpeter sich verstiegen hätten: "Der unerbittliche Buckelgrat", "Im Schutz der Wettertanne", "Die Überwindung des Überhangs", "Louise in Gefahr".
Louise und André, ein Pärchen aus Berlin, brechen nicht unvorbereitet zu ihrer Klettertour auf. André ist als Schweizer quasi von Natur aus bergtüchtig und kennt sich als langjähriger Pfadfinder mit Gewaltmärschen, klammen Schlafsäcken und Schimmelhörnchen aus dem Campingkocher aus. Er hat im Internet Wegvarianten und Höhenprofile studiert und sich in der Kletterhalle bis zum Schwierigkeitsgrad sieben vorgearbeitet. Seine Freundin ist zwar Tiefbauzeichnerin aus Mecklenburg-Vorpommern, aber androgyn, schwindelfrei und mutig genug für eine Hochgebirgstour. Dass dann doch alles anders kommt, liegt nicht nur an den Tücken des Wetters, an der mangelhaften Ausrüstung oder Louises ostdeutschem Pragmatismus, sondern an der flachen Psychodynamik der Paarbeziehung in extremem Gelände. Der ehrgeizige ewige Pfadi will seine Kindheitserlebnisse wiederholen und steigern: Hoch hinaus, per Direttissima zum Gipfel, koste es, was es wolle. Die "Flachländerin" mag es eher gemütlich. Wandern ja. Gipfel von Mann zu Mann bezwingen, den inneren Schweinehund niederringen, die "einzelnen spitzen Herausforderungen mit seinem Willen niedermähen": lieber nicht.
Anfangs läuft alles wie am Schnürchen. Das Wetter ist schlecht, der Zeitplan eng, der Berg steil, aber für ein Quickie oder ein verspätetes Frühstück ist immer Zeit und Raum. Zwei Tage lang stapft Louise hinter André her, allerdings mit wachsendem Missmut und Abstand. Je höher die beiden steigen, desto mehr wächst ihre äußere und innere Entfernung. Der Rucksack drückt, die Blasen schwellen, das Matratzenlager in der Berghütte ist hart: Louise stöhnt, murrt und bockt, der euphorisierte André wird ungeduldig. Je mehr der Nebel sich lichtet, desto klarer wird Louise, dass sie eigentlich lieber baden, Eis essen und im Berghotel ausspannen als hinter einer fanatischen Wandermaschine hertrotten will. Louise kehrt mitten in einem engen Kamin um. Während André sich weiter nach oben zwängt, trocknet sie wahrscheinlich schon ihre nassen Socken am Kaminfeuer.
Männer wie André geben nie auf. Durchhalten ist Ehrensache, und wo ein Wille ist, das lernt man bei den Pfadfindern, ist auch ein Weg. Der Gipfelsturm ist für den Kampfkletterer "prägendes Abenteuer", ultimative Herausforderung, aber ganz ohne Begleitung und Publikum macht es eigentlich auch keinen Spaß. Oben ist es sehr einsam, kalt und schon fast dunkel. André kommt mit Schneeschippen und Rettungsphantasien durch die Nacht, aber sein Niedergang am nächsten Morgen ist ein unkontrollierter freier Fall.
Grafs "Niedergang" ist eine klassische Bergsteiger-Parabel, hölzern wie Luis Trenkers Schneeschuhe und so lebendig wie eine Gletschermumie. Der Rucksack der Wanderer ist vollgepackt mit bedeutungsvollen Zaunpfählen und Klischees: Der Mann muss jodelnd und juchzend hinauf, die Frau zieht es stur und stumm hinab. Ein rechter Schweizer (selbst der sächsische Hüttenwirt ist André ein Dorn im Auge und Quell grundloser Eifersucht) hält, zumal auf heimatlichem Boden, jede Vertikalspannung aus; die Tiefbau-Deutsche legt sich lieber ins weiche Bett der Zivilisation. Grafs Roman - eigentlich ist es bloß eine kammerspielartige Novelle - bewegt sich auf ausgetretenen Pfaden, und damit ja niemand fehlgeht, stehen an jeder Kreuzung Wegweiser und Erklärungstafeln: "Vielleicht fürchtete er sich nicht vor dem Berg, sondern vor sich selbst? Da! - von oben ein Lichtstrahl!"
Roman Graf findet weder für das Psychoduell im Gebirge noch für die Mühen der Ebene eine Sprache jenseits von schiefergrauem Wortgeröll, vegetationsarmer Einöde und Lawinen verunglückter Metaphern. "Die Strecke gestaltete sich so abwechslungsreich wie anstrengend." Schweizer Bergkarten sind nicht nur Kunstwerke, sondern "auch wegen ihrer Exaktheit ein Genuss": So werden alle Schritte, Tritte und Worte umständlich und bedächtig gesetzt und unter Angabe von Wanderzeit, Höhenmetern und technischen Problemen akkurat vermessen. Graf hat hin und wieder auch ein Auge für Blümchen am Wegrand und überwältigende Panoramen, aber sein Blick ist nicht nur von Nebel und Nieselregen getrübt: Bei der Beschreibung der subtileren Spannungen geht ihm regelmäßig die Puste aus. So entstehen dann Sätze wie aus dem Pfadfinder-Handbuch: "Der sorgfältige Umgang mit den eigenen Kraftreserven war neben einer weitsichtigen Planung vielleicht die entscheidendste Voraussetzung für das Gelingen einer anspruchsvollen alpinen Unternehmung."
Weder der Held noch der Autor Roman Graf scheuen sich, "ihr ehrgeiziges Vorhaben zielgerichtet in Angriff zu nehmen: Bloß keine Zurückhaltung, keine Unsicherheit aufkommen lassen. Im Nu wäre der Wille nicht mehr da, die Kraft verschwunden. Man durfte mit Zweifeln gar nicht erst beginnen, niemals. Wer daran zweifelte, dass er die Strecke schaffte, hatte bereits verloren, innerlich kapituliert." Nach zweihundert Seiten hat André den Berg endlich niedergerungen. Bis dahin hat nicht nur Louise längst kapituliert.
MARTIN HALTER.
Roman Graf: "Niedergang". Roman.
Knaus Verlag, München 2013. 205 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pfadfinder auf schmalem Grat: Roman Grafs verstiegener Bergwanderroman "Niedergang" scheitert an der Überwindung des Überhangs
Der Absturz bei der Bergwanderung in den Schweizer Alpen ist nicht nur eine reale Gefahr, sondern auch eine gefährliche Metapher. Hinauf geht es meistens flott; der Abstieg gelingt dagegen nicht immer. Roman Graf, der in Berlin lebende Schweizer Autor, bekam viel Lob und Preise für seinen Erstling "Herr Blanc". Seine Zweitbesteigung des Literaturgipfels scheitert allerdings schon im Basislager. Der "Niedergang" deutet sich schon im Foto des Buchdeckels an: Vor der einsam ragenden Bergspitze liegt bedrohlich ein schier unüberwindlicher schiefergrauer Steilhang. Die Kapitelüberschriften klingen, als ob Heidi und der Geißenpeter sich verstiegen hätten: "Der unerbittliche Buckelgrat", "Im Schutz der Wettertanne", "Die Überwindung des Überhangs", "Louise in Gefahr".
Louise und André, ein Pärchen aus Berlin, brechen nicht unvorbereitet zu ihrer Klettertour auf. André ist als Schweizer quasi von Natur aus bergtüchtig und kennt sich als langjähriger Pfadfinder mit Gewaltmärschen, klammen Schlafsäcken und Schimmelhörnchen aus dem Campingkocher aus. Er hat im Internet Wegvarianten und Höhenprofile studiert und sich in der Kletterhalle bis zum Schwierigkeitsgrad sieben vorgearbeitet. Seine Freundin ist zwar Tiefbauzeichnerin aus Mecklenburg-Vorpommern, aber androgyn, schwindelfrei und mutig genug für eine Hochgebirgstour. Dass dann doch alles anders kommt, liegt nicht nur an den Tücken des Wetters, an der mangelhaften Ausrüstung oder Louises ostdeutschem Pragmatismus, sondern an der flachen Psychodynamik der Paarbeziehung in extremem Gelände. Der ehrgeizige ewige Pfadi will seine Kindheitserlebnisse wiederholen und steigern: Hoch hinaus, per Direttissima zum Gipfel, koste es, was es wolle. Die "Flachländerin" mag es eher gemütlich. Wandern ja. Gipfel von Mann zu Mann bezwingen, den inneren Schweinehund niederringen, die "einzelnen spitzen Herausforderungen mit seinem Willen niedermähen": lieber nicht.
Anfangs läuft alles wie am Schnürchen. Das Wetter ist schlecht, der Zeitplan eng, der Berg steil, aber für ein Quickie oder ein verspätetes Frühstück ist immer Zeit und Raum. Zwei Tage lang stapft Louise hinter André her, allerdings mit wachsendem Missmut und Abstand. Je höher die beiden steigen, desto mehr wächst ihre äußere und innere Entfernung. Der Rucksack drückt, die Blasen schwellen, das Matratzenlager in der Berghütte ist hart: Louise stöhnt, murrt und bockt, der euphorisierte André wird ungeduldig. Je mehr der Nebel sich lichtet, desto klarer wird Louise, dass sie eigentlich lieber baden, Eis essen und im Berghotel ausspannen als hinter einer fanatischen Wandermaschine hertrotten will. Louise kehrt mitten in einem engen Kamin um. Während André sich weiter nach oben zwängt, trocknet sie wahrscheinlich schon ihre nassen Socken am Kaminfeuer.
Männer wie André geben nie auf. Durchhalten ist Ehrensache, und wo ein Wille ist, das lernt man bei den Pfadfindern, ist auch ein Weg. Der Gipfelsturm ist für den Kampfkletterer "prägendes Abenteuer", ultimative Herausforderung, aber ganz ohne Begleitung und Publikum macht es eigentlich auch keinen Spaß. Oben ist es sehr einsam, kalt und schon fast dunkel. André kommt mit Schneeschippen und Rettungsphantasien durch die Nacht, aber sein Niedergang am nächsten Morgen ist ein unkontrollierter freier Fall.
Grafs "Niedergang" ist eine klassische Bergsteiger-Parabel, hölzern wie Luis Trenkers Schneeschuhe und so lebendig wie eine Gletschermumie. Der Rucksack der Wanderer ist vollgepackt mit bedeutungsvollen Zaunpfählen und Klischees: Der Mann muss jodelnd und juchzend hinauf, die Frau zieht es stur und stumm hinab. Ein rechter Schweizer (selbst der sächsische Hüttenwirt ist André ein Dorn im Auge und Quell grundloser Eifersucht) hält, zumal auf heimatlichem Boden, jede Vertikalspannung aus; die Tiefbau-Deutsche legt sich lieber ins weiche Bett der Zivilisation. Grafs Roman - eigentlich ist es bloß eine kammerspielartige Novelle - bewegt sich auf ausgetretenen Pfaden, und damit ja niemand fehlgeht, stehen an jeder Kreuzung Wegweiser und Erklärungstafeln: "Vielleicht fürchtete er sich nicht vor dem Berg, sondern vor sich selbst? Da! - von oben ein Lichtstrahl!"
Roman Graf findet weder für das Psychoduell im Gebirge noch für die Mühen der Ebene eine Sprache jenseits von schiefergrauem Wortgeröll, vegetationsarmer Einöde und Lawinen verunglückter Metaphern. "Die Strecke gestaltete sich so abwechslungsreich wie anstrengend." Schweizer Bergkarten sind nicht nur Kunstwerke, sondern "auch wegen ihrer Exaktheit ein Genuss": So werden alle Schritte, Tritte und Worte umständlich und bedächtig gesetzt und unter Angabe von Wanderzeit, Höhenmetern und technischen Problemen akkurat vermessen. Graf hat hin und wieder auch ein Auge für Blümchen am Wegrand und überwältigende Panoramen, aber sein Blick ist nicht nur von Nebel und Nieselregen getrübt: Bei der Beschreibung der subtileren Spannungen geht ihm regelmäßig die Puste aus. So entstehen dann Sätze wie aus dem Pfadfinder-Handbuch: "Der sorgfältige Umgang mit den eigenen Kraftreserven war neben einer weitsichtigen Planung vielleicht die entscheidendste Voraussetzung für das Gelingen einer anspruchsvollen alpinen Unternehmung."
Weder der Held noch der Autor Roman Graf scheuen sich, "ihr ehrgeiziges Vorhaben zielgerichtet in Angriff zu nehmen: Bloß keine Zurückhaltung, keine Unsicherheit aufkommen lassen. Im Nu wäre der Wille nicht mehr da, die Kraft verschwunden. Man durfte mit Zweifeln gar nicht erst beginnen, niemals. Wer daran zweifelte, dass er die Strecke schaffte, hatte bereits verloren, innerlich kapituliert." Nach zweihundert Seiten hat André den Berg endlich niedergerungen. Bis dahin hat nicht nur Louise längst kapituliert.
MARTIN HALTER.
Roman Graf: "Niedergang". Roman.
Knaus Verlag, München 2013. 205 S., geb., 17,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Roman Graf schickt in "Niedergang" zwei Menschen auf eine Bergtour, berichtet Christoph Schröder, der diesem Roman nichts abgewinnen konnte. Der Rezensent beklagt sich über massenhafte Klischees, das "Naturburschentum im Gore-Tex-Gewand", hölzerne Landschaftsbeschreibungen und über Grafs Sprache ganz allgemein. Natürlich ist der Aufstieg samt widriger Bergwelt der "Resonanzboden einer gescheiterten Liebe", natürlich findet André, der irgendwann ohne seine Freundin Louise weiterstapft, auf dem Gipfel zu sich selbst, fasst Schröder zusammen. Nur einmal kurz hatte der Rezensent die Hoffnung, dass Graf seiner Geschichte einen ironischen Dreh gibt, aber auch die wurde enttäuscht, meint Schröder.
© Perlentaucher Medien GmbH
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