Diese "Landesgeschichte" konzentriert sich in der Darstellung auf die Entwicklung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse des Landes sowie auf die politische Geschichte. Dabei folgt sie nicht etwa der Chronologie der Herzöge, sondern gibt Einblick in eine Vielfalt historischer Themen, z. B. Mission und Besiedelung, Entwicklung der Städte, kirchliche und weltliche Kunst im Mittelalter, aber auch die vorindustriellen Wirtschaftsformen und schließlich Novemberrevolution in Bremen, Nationalsozialismus auf dem Lande oder Flüchtlinge in Niedersachsen.
Bei aller Wissenschaftlichkeit zeichnet sich die Niedersächsische Geschichte durch ihre Lesbarkeit und anschauliche Darstellungsweise aus. Register und Zeittafeln erschließen den umfangreichen Band.
Die Niedersächsische Geschichte wagt und leistet einen zusammenfassenden Überblick über die spezialisierte Forschung.
Ein Standardwerk, das dazu einlädt, das Land, in dem man lebt, auch als geschichtlichen Raum kennenzulernen.
Bei aller Wissenschaftlichkeit zeichnet sich die Niedersächsische Geschichte durch ihre Lesbarkeit und anschauliche Darstellungsweise aus. Register und Zeittafeln erschließen den umfangreichen Band.
Die Niedersächsische Geschichte wagt und leistet einen zusammenfassenden Überblick über die spezialisierte Forschung.
Ein Standardwerk, das dazu einlädt, das Land, in dem man lebt, auch als geschichtlichen Raum kennenzulernen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.1997Eine Roßkur für die regionale Identität
Der Sonderweg der niedersächsischen Landesgeschichtsschreibung führt ins Zentrum des Föderalismus
Deutsche Geschichte ist zu einem guten, in den älteren Epochen sogar zum überwiegenden Teil Landesgeschichte. Dementsprechend nahmen und nehmen Erforschung und Darstellung der Landesgeschichte in Deutschland eine ganz andere Stellung ein als in den meisten anderen europäischen Ländern. Das gilt institutionell, insofern wohl kein anderes Land eine vergleichbare Vielfalt von landesgeschichtlichen Kommissionen oder Forschungsämtern und Lehrstühlen besitzt. Das gilt aber auch inhaltlich, insofern viele, wenn nicht die meisten Themen der Geschichtswissenschaft - und zwar auch und gerade die modernen Fragen der Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte - gar nicht anders als "landesgeschichtlich" erforscht werden können. Fast jeder deutsche Historiker, der etwas gilt, ist daher in der einen oder anderen Weise auch ein Landeshistoriker.
Was genau Gegenstand der Landesgeschichte ist, hat sich über die Jahrhunderte hin verändert. Das "Land" des Spätmittelalters, das Otto Brunner ins Zentrum seiner Überlegungen stellte, war etwas anderes als das Territorium des absolutistischen Staates, von älteren oder jüngeren Ausprägungen landschaftlicher Verfaßtheit ganz zu schweigen. Verändert haben sich auch die theoretischen Grundlagen sowie die Ziele und Methoden. Die Haus-Hof- und Staaten-Landesgeschichte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts war etwas völlig anderes als Brunners Landesgeschichte, als die Raumgeschichte eines Hermann Aubin, Franz Steinbach und Franz Petri oder gar die Regionalgeschichte, wie sie Karl Lamprecht und die Annales-Schule entwickelten.
Aus historischen und historiographischen Gründen konnte die in West- und Nordeuropa dominante Regionalgeschichte, die von politischen und institutionellen Zusammenhängen weitgehend absieht, in Deutschland nie zum verbindlichen Paradigma werden. Sie verband sich hierzulande vielmehr mit den älteren rechts- und verfassungsgeschichtlichen Ansätzen. Die neuesten Ausprägungen landschaftlicher Gliederung sind die Bundesländer, und da diese, soweit sie die alte Bundesrepublik bildeten, soeben ihren fünfzigsten Geburtstag feierten, wurde das Spektrum der Landesgeschichtsschreibung jüngst durch eine weitere Variante ergänzt, nämlich die Geschichte einzelner Bundesländer.
Schmerzen bei der Kopfgeburt
Die Geburtswehen, die diesen neuen Typus hervorbrachten, waren im Einzelfall allerdings recht unterschiedlich: Am geringsten waren sie in Ländern wie Bayern, wo die meisten Regionen bereits vor der Gründung des Bundeslandes eine mehr oder weniger lange gemeinsame Geschichte haben, oder in einem Fall wie Hessen, wo die Bundeslandgeschichte auf dem Postulat eines "seit langem erwachsenen gesamthessischen Bewußtseins" als "Werden Hessens" konzipiert werden konnte.
Besonders schwer tat man sich dagegen in Niedersachsen - aus historisch-sachlichen Gründen, vor allem aber, weil die mit der Erarbeitung dieser Bundeslandgeschichte Betrauten ihre Aufgabe theoretisch-methodisch reflektiert angingen: Historisch-sachlich lagen die Schwierigkeiten darin begründet, daß Niedersachsen in einem besonderen Maße als "Kunstland" zu gelten hat. Sein legendärer Gründungsvater und erster Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf behauptete zwar am 9. Dezember 1946 in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Niedersächsischen Landtag: "Das Land ist kein künstliches Gebilde, sondern durch die Stammesart seiner Bewohner, durch seine gleichartige Struktur, Tradition und wirtschaftliche Geschlossenheit ein organisch gewachsenes zusammenhängendes Ganzes." Nach der heftigen Opposition, die der schließlich am 1. November 1946 erfolgten Neugründung vor allem aus den Ländern Oldenburg und Braunschweig entgegengebracht worden war, und angesichts der fortbestehenden politischen und kulturellen Gegensätze zwischen den einzelnen Landesteilen waren diese frohgemuten Worte fürs erste jedoch nichts anderes als Pfeifen im Walde. Die eigentlichen Bausteine eines gemeinsamen Niedersachsen-Bewußtseins sind ohne Zweifel weiterhin die kulturellen und historisch-politischen Sondertraditionen Ostfrieslands, Oldenburgs, Hannovers, Braunschweigs, Osnabrücks und Schaumburg-Lippes. Das hatten bislang alle Ministerpräsidenten in ihr politisches Kalkül einzubeziehen.
All das macht verständlich, daß gerade die besten Landeshistoriker mit Skepsis reagierten, als 1993 die Stiftung Niedersachsen ihnen "eine für den interessierten Laien geschriebene Geschichte des Landes Niedersachsen" abverlangte. Produktiv überwunden wurde die Skepsis durch ein entschiedenes Theorie- und Methodenbewußtsein, das anders als das erwähnte Beispiel der hessischen Bundeslandgeschichte gerade nicht von einem "gewachsenen gesamtniedersächsischen Bewußtsein" ausgeht, sondern umgekehrt sich der Spannung stellt, niedersächsische Geschichte schreiben zu müssen als Zusammenfassung der "Geschichtserfahrungen von Landschaften, die erheblichen historischen Wandlungen ihrer räumlichen und politischen Gestalt unterlagen". Weder Identitätsgeschichte noch Identitätsstiftung werden angestrebt, sondern Information "über den Reichtum der niedersächsischen Geschichte" - für die Bürger des Bundeslandes, aber auch darüber hinaus, finde der niedersächsische Raum doch - wie das Vorwort nicht ohne schwarzmalende Koketterie behauptet - in den allgemeinen Darstellungen zur deutschen Geschichte so gut wie keine Berücksichtigung.
Der gerade noch handliche "Einbänder" ist in den Teilen zur Geschichte bis 1900 von beeindruckender Geschlossenheit, weil dort, abgesehen von Spezialpassagen zu Kunst, Wirtschaft oder Militär, die Großepochen jeweils von einem einzigen Autor behandelt werden - das Früh-und Hochmittelalter von Bernd Ulrich Hucker und das halbe Jahrtausend vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg von Ernst Schubert. Dagegen ermangelt es den Zeithistorikern offensichtlich an vergleichbarer Kraft oder am Mut zur Synthese, so daß für die Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht weniger als ein Dutzend Autoren vonnöten waren, was zu einem facettenreichen, in den Teilen aber nicht immer abgestimmten Bild führt.
Methodisch-konzeptionell liegt der Darstellung eine Kombination von Regional- und traditioneller Landesgeschichte zugrunde. Allerdings dominiert erstere eindeutig, so daß zwar die allgemeinen Prozesse und Strukturen der Rechts-, Verfassungs-, Institutionen- und Politikgeschichte in Erscheinung treten, deren spezifische Ausprägung in den einzelnen Territorien und frühneuzeitlichen Autonomiestädten aber im Hintergrund bleibt. Oder sie werden wie im Falle der Novemberrevolution von 1919 in Bremen exemplarisch abgehandelt und bleiben dadurch seltsam isoliert, so daß der Leser im genannten Fall gar nicht so recht weiß, was genau die Soldatenräte revolutionär verändern wollten oder wer die "traditionellen Eliten" konkret waren und welche Ziele sie verfolgten.
Das Buch erfüllt durchweg den selbstdefinierten Zweck, dem Leser frische Einsichten in die Vielfalt der historischen Entwicklungen und Traditionen im niedersächsischen Raum zu gewähren und auf die geschichtlichen Voraussetzungen seiner gegenwärtigen Handlungsspielräume zu verweisen. Kabinettstücke sind die dichten Querschnittssynthesen für die Zeit um 1400, um 1700 und um 1900 aus der Feder Ernst Schuberts, die die methodologischen wie sachlichen Ergebnisse der deutschen und europäischen Geschichtswissenschaft - etwa über Qualität und Wirkung der Französischen Revolution - souverän für eine Neudeutung des Geschehens in Nordwestdeutschland fruchtbar machen.
Doch auch in den anderen Passagen werden dem Leser über die Epochen hin in stets anschaulicher Darstellung die wesentlichen Voraussetzungen und Ausprägungen des öffentlichen wie privaten Lebens vor Augen gestellt: Das beginnt mit der räumlichen Funktion als Brücken-oder Übergangszone hin zu den östlichen Landschaften in der Karolinger- und Sachsenzeit ebenso wie in der Gegenwart, auch wenn der Vorteil der geographischen Nähe zu den neuen Bundesländern wegen der fortwirkenden Strukturen des Kalten Krieges, namentlich der Nord-Süd-Orientierung der Verkehrswege, erst langfristig wirksam wird.
Ähnlich die fundamentalen wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Zusammenhänge, die vom Landausbau und der Stadtgründung des Mittelalters bis hin zur Moorkolonisation oder den Auswanderungswellen des neunzehnten Jahrhunderts sowie dem Zustrom und der Integration der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg einen durchgehenden Faden bilden. Einprägsame Einzelbeobachtungen treten hinzu, etwa über die revolutionären Folgen von Kleeanbau und Stallhaltung des Viehs seit Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, über die Kraft des Sparkassengedankens, der die ständische Gesellschaft von innen sprengte, oder über die an den traditionellen Vogelfang als Nebenerwerb der Bergarbeiter anknüpfende Züchtung der "Harzer Roller", die vor allem in Amerika und Rußland Absatz fanden und in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Exportschlager mit einem Volumen von rund 20000 Singvögeln jährlich wurden.
Das Lied vom Zaunkönigtum
Auch die soziale Differenzierung, die Alltagswelt und die Lebensformen der überwiegend ländlichen Gesellschaft, die seit der Blüte der mittelalterlichen Hanse mit ihrem mächtigen regionalen Vorort Braunschweig stets auch von bedeutenden städtisch-bürgerlichen Inseln durchsetzt war, treten plastisch hervor. Adelheid von Saldern wiederum zeichnet ausführlich und kenntnisreich die Folgen der Modernisierung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts für das Leben im städtischen und ländlichen Raum nach.
Ob es mit all diesen struktur- und alltagsgeschichtlichen Einsichten auch gelungen ist, die im Vorwort zu Recht ironisierten Klischees über Kurhannover als reaktionären Staat oder Oldenburg als "Zaunkönigtum" und Ostfriesland als sozial- und verfassungsgeschichtliche Absonderlichkeit zu korrigieren, muß allerdings bezweifelt werden. Denn hierzu wären nun doch stärker als in der vorliegenden Darstellung konzeptionell gewollt und in einem einzigen Band überhaupt möglich die politisch-verfassungsmäßigen und institutionellen Besonderheiten der jeweiligen historischen Territorien und heutigen Landesteile zu berücksichtigen. Doch damit sind wir wieder bei der eingangs erwähnten Pluralität der deutschen Landesgeschichtsschreibung: Wer nach der Lektüre dieser niedersächsischen Bundeslandgeschichte neugierig auf die historisch-politischen Zusammenhänge und die konkreten Verfassungs- und Rechtsverhältnisse in den einzelnen historischen Ländern des heutigen Bundeslandes Niedersachsen geworden ist, der verliere sich nicht in die alle politisch-staatlichen Unterschiede einebnende Zeittafel des Anhangs, sondern greife zu den vorhandenen Darstellungen über die Geschichte Ostfrieslands, Oldenburgs und Kurhannovers. HEINZ SCHILLING
Bernd Ulrich Hucker, Ernst Schubert, Bernd Weisbrod (Hrsg.): "Niedersächsische Geschichte". Wallstein Verlag, Göttingen 1997. 768 S., 200 Abb., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Sonderweg der niedersächsischen Landesgeschichtsschreibung führt ins Zentrum des Föderalismus
Deutsche Geschichte ist zu einem guten, in den älteren Epochen sogar zum überwiegenden Teil Landesgeschichte. Dementsprechend nahmen und nehmen Erforschung und Darstellung der Landesgeschichte in Deutschland eine ganz andere Stellung ein als in den meisten anderen europäischen Ländern. Das gilt institutionell, insofern wohl kein anderes Land eine vergleichbare Vielfalt von landesgeschichtlichen Kommissionen oder Forschungsämtern und Lehrstühlen besitzt. Das gilt aber auch inhaltlich, insofern viele, wenn nicht die meisten Themen der Geschichtswissenschaft - und zwar auch und gerade die modernen Fragen der Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte - gar nicht anders als "landesgeschichtlich" erforscht werden können. Fast jeder deutsche Historiker, der etwas gilt, ist daher in der einen oder anderen Weise auch ein Landeshistoriker.
Was genau Gegenstand der Landesgeschichte ist, hat sich über die Jahrhunderte hin verändert. Das "Land" des Spätmittelalters, das Otto Brunner ins Zentrum seiner Überlegungen stellte, war etwas anderes als das Territorium des absolutistischen Staates, von älteren oder jüngeren Ausprägungen landschaftlicher Verfaßtheit ganz zu schweigen. Verändert haben sich auch die theoretischen Grundlagen sowie die Ziele und Methoden. Die Haus-Hof- und Staaten-Landesgeschichte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts war etwas völlig anderes als Brunners Landesgeschichte, als die Raumgeschichte eines Hermann Aubin, Franz Steinbach und Franz Petri oder gar die Regionalgeschichte, wie sie Karl Lamprecht und die Annales-Schule entwickelten.
Aus historischen und historiographischen Gründen konnte die in West- und Nordeuropa dominante Regionalgeschichte, die von politischen und institutionellen Zusammenhängen weitgehend absieht, in Deutschland nie zum verbindlichen Paradigma werden. Sie verband sich hierzulande vielmehr mit den älteren rechts- und verfassungsgeschichtlichen Ansätzen. Die neuesten Ausprägungen landschaftlicher Gliederung sind die Bundesländer, und da diese, soweit sie die alte Bundesrepublik bildeten, soeben ihren fünfzigsten Geburtstag feierten, wurde das Spektrum der Landesgeschichtsschreibung jüngst durch eine weitere Variante ergänzt, nämlich die Geschichte einzelner Bundesländer.
Schmerzen bei der Kopfgeburt
Die Geburtswehen, die diesen neuen Typus hervorbrachten, waren im Einzelfall allerdings recht unterschiedlich: Am geringsten waren sie in Ländern wie Bayern, wo die meisten Regionen bereits vor der Gründung des Bundeslandes eine mehr oder weniger lange gemeinsame Geschichte haben, oder in einem Fall wie Hessen, wo die Bundeslandgeschichte auf dem Postulat eines "seit langem erwachsenen gesamthessischen Bewußtseins" als "Werden Hessens" konzipiert werden konnte.
Besonders schwer tat man sich dagegen in Niedersachsen - aus historisch-sachlichen Gründen, vor allem aber, weil die mit der Erarbeitung dieser Bundeslandgeschichte Betrauten ihre Aufgabe theoretisch-methodisch reflektiert angingen: Historisch-sachlich lagen die Schwierigkeiten darin begründet, daß Niedersachsen in einem besonderen Maße als "Kunstland" zu gelten hat. Sein legendärer Gründungsvater und erster Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf behauptete zwar am 9. Dezember 1946 in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Niedersächsischen Landtag: "Das Land ist kein künstliches Gebilde, sondern durch die Stammesart seiner Bewohner, durch seine gleichartige Struktur, Tradition und wirtschaftliche Geschlossenheit ein organisch gewachsenes zusammenhängendes Ganzes." Nach der heftigen Opposition, die der schließlich am 1. November 1946 erfolgten Neugründung vor allem aus den Ländern Oldenburg und Braunschweig entgegengebracht worden war, und angesichts der fortbestehenden politischen und kulturellen Gegensätze zwischen den einzelnen Landesteilen waren diese frohgemuten Worte fürs erste jedoch nichts anderes als Pfeifen im Walde. Die eigentlichen Bausteine eines gemeinsamen Niedersachsen-Bewußtseins sind ohne Zweifel weiterhin die kulturellen und historisch-politischen Sondertraditionen Ostfrieslands, Oldenburgs, Hannovers, Braunschweigs, Osnabrücks und Schaumburg-Lippes. Das hatten bislang alle Ministerpräsidenten in ihr politisches Kalkül einzubeziehen.
All das macht verständlich, daß gerade die besten Landeshistoriker mit Skepsis reagierten, als 1993 die Stiftung Niedersachsen ihnen "eine für den interessierten Laien geschriebene Geschichte des Landes Niedersachsen" abverlangte. Produktiv überwunden wurde die Skepsis durch ein entschiedenes Theorie- und Methodenbewußtsein, das anders als das erwähnte Beispiel der hessischen Bundeslandgeschichte gerade nicht von einem "gewachsenen gesamtniedersächsischen Bewußtsein" ausgeht, sondern umgekehrt sich der Spannung stellt, niedersächsische Geschichte schreiben zu müssen als Zusammenfassung der "Geschichtserfahrungen von Landschaften, die erheblichen historischen Wandlungen ihrer räumlichen und politischen Gestalt unterlagen". Weder Identitätsgeschichte noch Identitätsstiftung werden angestrebt, sondern Information "über den Reichtum der niedersächsischen Geschichte" - für die Bürger des Bundeslandes, aber auch darüber hinaus, finde der niedersächsische Raum doch - wie das Vorwort nicht ohne schwarzmalende Koketterie behauptet - in den allgemeinen Darstellungen zur deutschen Geschichte so gut wie keine Berücksichtigung.
Der gerade noch handliche "Einbänder" ist in den Teilen zur Geschichte bis 1900 von beeindruckender Geschlossenheit, weil dort, abgesehen von Spezialpassagen zu Kunst, Wirtschaft oder Militär, die Großepochen jeweils von einem einzigen Autor behandelt werden - das Früh-und Hochmittelalter von Bernd Ulrich Hucker und das halbe Jahrtausend vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg von Ernst Schubert. Dagegen ermangelt es den Zeithistorikern offensichtlich an vergleichbarer Kraft oder am Mut zur Synthese, so daß für die Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht weniger als ein Dutzend Autoren vonnöten waren, was zu einem facettenreichen, in den Teilen aber nicht immer abgestimmten Bild führt.
Methodisch-konzeptionell liegt der Darstellung eine Kombination von Regional- und traditioneller Landesgeschichte zugrunde. Allerdings dominiert erstere eindeutig, so daß zwar die allgemeinen Prozesse und Strukturen der Rechts-, Verfassungs-, Institutionen- und Politikgeschichte in Erscheinung treten, deren spezifische Ausprägung in den einzelnen Territorien und frühneuzeitlichen Autonomiestädten aber im Hintergrund bleibt. Oder sie werden wie im Falle der Novemberrevolution von 1919 in Bremen exemplarisch abgehandelt und bleiben dadurch seltsam isoliert, so daß der Leser im genannten Fall gar nicht so recht weiß, was genau die Soldatenräte revolutionär verändern wollten oder wer die "traditionellen Eliten" konkret waren und welche Ziele sie verfolgten.
Das Buch erfüllt durchweg den selbstdefinierten Zweck, dem Leser frische Einsichten in die Vielfalt der historischen Entwicklungen und Traditionen im niedersächsischen Raum zu gewähren und auf die geschichtlichen Voraussetzungen seiner gegenwärtigen Handlungsspielräume zu verweisen. Kabinettstücke sind die dichten Querschnittssynthesen für die Zeit um 1400, um 1700 und um 1900 aus der Feder Ernst Schuberts, die die methodologischen wie sachlichen Ergebnisse der deutschen und europäischen Geschichtswissenschaft - etwa über Qualität und Wirkung der Französischen Revolution - souverän für eine Neudeutung des Geschehens in Nordwestdeutschland fruchtbar machen.
Doch auch in den anderen Passagen werden dem Leser über die Epochen hin in stets anschaulicher Darstellung die wesentlichen Voraussetzungen und Ausprägungen des öffentlichen wie privaten Lebens vor Augen gestellt: Das beginnt mit der räumlichen Funktion als Brücken-oder Übergangszone hin zu den östlichen Landschaften in der Karolinger- und Sachsenzeit ebenso wie in der Gegenwart, auch wenn der Vorteil der geographischen Nähe zu den neuen Bundesländern wegen der fortwirkenden Strukturen des Kalten Krieges, namentlich der Nord-Süd-Orientierung der Verkehrswege, erst langfristig wirksam wird.
Ähnlich die fundamentalen wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Zusammenhänge, die vom Landausbau und der Stadtgründung des Mittelalters bis hin zur Moorkolonisation oder den Auswanderungswellen des neunzehnten Jahrhunderts sowie dem Zustrom und der Integration der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg einen durchgehenden Faden bilden. Einprägsame Einzelbeobachtungen treten hinzu, etwa über die revolutionären Folgen von Kleeanbau und Stallhaltung des Viehs seit Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, über die Kraft des Sparkassengedankens, der die ständische Gesellschaft von innen sprengte, oder über die an den traditionellen Vogelfang als Nebenerwerb der Bergarbeiter anknüpfende Züchtung der "Harzer Roller", die vor allem in Amerika und Rußland Absatz fanden und in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Exportschlager mit einem Volumen von rund 20000 Singvögeln jährlich wurden.
Das Lied vom Zaunkönigtum
Auch die soziale Differenzierung, die Alltagswelt und die Lebensformen der überwiegend ländlichen Gesellschaft, die seit der Blüte der mittelalterlichen Hanse mit ihrem mächtigen regionalen Vorort Braunschweig stets auch von bedeutenden städtisch-bürgerlichen Inseln durchsetzt war, treten plastisch hervor. Adelheid von Saldern wiederum zeichnet ausführlich und kenntnisreich die Folgen der Modernisierung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts für das Leben im städtischen und ländlichen Raum nach.
Ob es mit all diesen struktur- und alltagsgeschichtlichen Einsichten auch gelungen ist, die im Vorwort zu Recht ironisierten Klischees über Kurhannover als reaktionären Staat oder Oldenburg als "Zaunkönigtum" und Ostfriesland als sozial- und verfassungsgeschichtliche Absonderlichkeit zu korrigieren, muß allerdings bezweifelt werden. Denn hierzu wären nun doch stärker als in der vorliegenden Darstellung konzeptionell gewollt und in einem einzigen Band überhaupt möglich die politisch-verfassungsmäßigen und institutionellen Besonderheiten der jeweiligen historischen Territorien und heutigen Landesteile zu berücksichtigen. Doch damit sind wir wieder bei der eingangs erwähnten Pluralität der deutschen Landesgeschichtsschreibung: Wer nach der Lektüre dieser niedersächsischen Bundeslandgeschichte neugierig auf die historisch-politischen Zusammenhänge und die konkreten Verfassungs- und Rechtsverhältnisse in den einzelnen historischen Ländern des heutigen Bundeslandes Niedersachsen geworden ist, der verliere sich nicht in die alle politisch-staatlichen Unterschiede einebnende Zeittafel des Anhangs, sondern greife zu den vorhandenen Darstellungen über die Geschichte Ostfrieslands, Oldenburgs und Kurhannovers. HEINZ SCHILLING
Bernd Ulrich Hucker, Ernst Schubert, Bernd Weisbrod (Hrsg.): "Niedersächsische Geschichte". Wallstein Verlag, Göttingen 1997. 768 S., 200 Abb., geb., 68,- DM.
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"Es ist ein leicht handhabbares Buch entstanden, das mit seiner Gliederung dazu verführt, mal eben das eine oder andere Kapitelchen aufzuschlagen. Der Leser wird ein wenig verführt, und das ist nicht das schlechteste Zeugnis für ein Geschichtsbuch." (Jochen Mellin, Hannoversche Allgemeine Zeitung)
"Das Buch erfüllt durchweg den selbstdefinierten Zweck, dem Leser frische Einsichten in die Vielfalt der historischen Entwicklungen und Traditionen im niedersächsischen Raum zu gewähren und auf die geschichtlichen Voraussetzungen seine gegenwärtigen Handlungsspielräume zu verweisen". (Heinz Schilling, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
"Das Buch erfüllt durchweg den selbstdefinierten Zweck, dem Leser frische Einsichten in die Vielfalt der historischen Entwicklungen und Traditionen im niedersächsischen Raum zu gewähren und auf die geschichtlichen Voraussetzungen seine gegenwärtigen Handlungsspielräume zu verweisen". (Heinz Schilling, Frankfurter Allgemeine Zeitung)